VIII

[55] – Die Tia bleibt lange – sagte Salvador, von Alicen sprechend. Er saß auf einer Fußbank nicht weit von Lydias gewöhnlichem Platz, und hielt seine alte Zither im Arm.

– Wird Dir schon die Zeit lang, Kind? – fragte schwermüthig lächelnd Lydia, von ihrer Arbeit zu ihm niederblickend.

– Ich bin kein Kind mehr, Donna – sagte mit zusammengezogenen Brauen der Knabe – und habe keine Langeweile. Ihr wißt recht gut, daß ich am liebsten zu Euren Füßen sitze und Euch meine spanischen Lieder singe.

– Nun, so spiel' und singe doch!

– Nein – sagte Salvador kurz.[55]

– Warum nicht?

– Weil's Euch traurig macht, und mich auch.

– Nun, dann erzähle mir Etwas.

– Gut, ich werde Euch Etwas erzählen. – Salvador rückte seine Bank näher zu Lydia heran und begann nach seiner Weise, wie er es früher bei seiner Mutter gethan, zu erzählen, von den duftigen Thälern und grünen Bergen seiner Heimath. Voll kindlicher Einfalt blickte sein Auge zu Lydia empor, als sähe er in das seiner Mutter. Und Lydia selbst fühlte sich wunderbar bewegt von dem Wesen des Knaben. Seine Erzählung bestand meist nur in einfachen Beschreibungen und Erinnerungen aus seiner Kindheit, aber die eigenthümliche Mischung von Sanftheit und Starrheit, von fast weiblicher Milde und männlichem Trotz, die in dem Ton seiner Stimme und in dem Glanz seines großen schwarzen Auges lag, übte einen Zauber auf das ideale Gemüth Lydias aus, dem sie nicht widerstehen konnte. Ihre Hände sanken unthätig in den Schooß herab und ihr Auge senkte sich tief in das des Knaben.[56]

Salvador hatte aus dem ihm angeborenen feinen Takt vermieden, viel von seiner Mutter zu sprechen, obgleich, wenn er zufällig nur ihren Namen erwähnte, sein Gesicht jedesmal hell aufleuchtete. Lydia war jene Zurückhaltung nicht aufgefallen. Sie glaubte ihm eine Freude zu machen, wenn sie ihn bäte, von ihr zu erzählen.

– Du hast Deine Mutter wohl sehr lieb?

Des Knaben Auge funkelte bei dieser Frage, aber er antwortete nicht.

– Oder hast Du Deinen Vater lieber?

Lydia sah an der Blässe, welche bei diesem Worte plötzlich Salvadors Gesicht überzog, daß sie eine unglückliche Frage gethan.

– Ich habe keinen Vater gehabt – sagte finster der Knabe.

– Du willst sagen: Du hast Deinen Vater nicht gekannt. Er ist so früh gestorben, nicht wahr?

– Nein, ich kenne ihn sehr wohl, und werde ihn nie vergessen.[57]

Lydia begriff dies Räthsel nicht, aber sie schwieg, weil sie sah, daß dies Gespräch den Knaben aufregte. Salvador ließ seinen Kopf sinken und schien eingeschlafen zu sein, denn er antwortete Lydia nicht, als sie ihn bat, ihr etwas vom Tische zu reichen. Aber sie erstaunte, als sie den Knaben leise schluchzen hörte.

– Was fehlt Dir, Salvador? fragte sie besorgt, ihre Hand auf seinen Kopf legend. Da warf sich der arme Junge, von dem Schmerz seines Schicksals zerdrückt, zu ihren Füßen, umklammerte ihre Kniee und brach in lautes Weinen aus. Und Lydia, den Schmerz des Knaben ahnend und dadurch ihm sich verwandt fühlend, hob ihn auf, legte seinen Kopf in ihren Schooß und weinte mit.

Es ist bekannt, daß nichts mehr tröstet, als den Wiederschein unseres Leidens in den Thränen eines Leidensgenossen zu sehen. Alle möglichen freundlichen Worte hätte Lydia an Salvador verschwenden können, sie würden nicht vermocht haben,[58] ihn zu trösten. Aber als er die erste Thräne in ihrem Auge sah, wurde er ruhiger; zuletzt kam sogar eine solche Freudigkeit über ihn, daß er Lydia zu trösten versuchte.

– Jetzt müßt Ihr nicht mehr weinen, Donna, sagte er schmeichelnd. – Und nun will ich Euch auch von meiner Mutter erzählen. Seht, als ich noch klein, recht klein war, da nahm mich meine Mutter auf den Schooß und sagte zu mir: Salvador, morgen wird Dein Vater kommen, da mußt Du Dich recht sehr freuen und artig sein. Ich klatschte in die Hände und plapperte in einem fort: der Vater wird kommen, der Vater wird kommen! bis er endlich da war. Das kam aber so. Am andern Morgen ganz früh, ehe die Sonne aufging, nahm mich die Mutter aus dem Bett und zog mir mein Festtagskleidchen von schwarzem Sammet an, schlang mir den spiegelblanken Gürtel von Stahl um den Leib und setzte mir ein Barett auf, an dem zwei prächtige rothe Federn auf und ab wogten. Auch die Mutter war schön geputzt. Dann nahm sie mich an der Hand und so wanderten[59] wir den Bergen zu, von denen man die Sonne über dem weiten blauen Meer aufgehen sehen kann. Ich wurde müde, da trug mich die gute Mutter bis zur Spitze des Berges hinauf, und wir setzten uns nieder und schaueten in das Meer hinab. So saßen wir eine lange Zeit, da sprang die Mutter auf und rief: »Salvador, Dein Vater kommt!« Ich sah aber nichts. Da hob mich die Mutter in die Höhe und zeigte nach dem Hohlwege, der zwischen den großen Bergen durchführt. Da sah ich einen Reiter, der langsam um den Berg ritt. »Das ist Dein Vater, Salvador« – sagte wieder die Mutter. Ihr Herz klopfte ungestüm, ich fühlte es pochen, als sie mich in den Armen hielt. So erwarteten wir den Vater. Und als er den Berg herauf war und uns erblickte, sprang er vom Pferde, eilte auf uns zu – breitete seine Arme aus und rief: »Ines!« Als die Mutter diesen Namen hörte, sprang sie in die Höhe und fiel mit dem Ausruf: »Felix, mein Felix!« dem Vater in die geöffneten Arme.[60]

– Felix hieß Dein Vater? – fragte Lydia, die sich an der kindlichen Darstellung des Knaben ergötzte – das ist kein spanischer Name.

– Mein Vater ist aus Eurem Lande, Donna, er ist ein Deutscher – erwiederte Salvador und fuhr dann fort:

Darauf nahm mich die Mutter bei der Hand und sagte: »Dies ist Salvador, unser Kind.« Der Vater hob mich in die Höhe und sah mir lange in die Augen, drückte mir einen Kuß auf die Stirn und den Mund, setzte mich aufs Pferd, nahm den Zügel in die Hand und so wanderten wir alle drei nach Hause.

– Du hast ein gutes Gedächtniß, Salvador, sagte Lydia.

– Ich werde den Tag nie vergessen – erwiederte er traurig – es war der letzte Tag, wo ich meine Mutter habe lachen sehen. Der Vater blieb zwar lange, es mögen wohl Wochen gewesen sein, bei uns. Aber schon am folgenden Tage war die Mutter nicht mehr heiter. Am dritten Tage sah ich sie weinen; aber sie klagte nicht,[61] wenn der Vater kam und zeigte immer ein freundliches Gesicht. Eines Abends, als ich mich im Garten umhertummelte, hörte ich plötzlich die Stimme meiner Mutter. Sie drang aus einer Laube her zu mir. Ich schlich mich näher. Mein Vater saß auf einer Bank und spielte mit der Reitgerte. Die Mutter stand vor ihm, ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, aber ihre Stimme war sehr zornig. Endlich sank sie erschöpft nieder. Mein Vater erhob sich, er war sehr blaß und versuchte sie aufzuheben – aber sie stieß ihn von sich. Da lachte er laut und eilte hinaus.

Jetzt konnte ich mich nicht länger verbergen, ich stürzte aus meinem Versteck hervor – warf mich bei der Mutter nieder und weinte mit ihr.

Da brachte unser alter Diener der Mutter einen Brief. Hastig erbrach sie ihn – aber schon im nächsten Augenblick entfiel er ihrer Hand. Endlich führte sie mich in das Zimmer des Vaters, das leer war und sagte, mit trübem Lächeln sich umschauend:

»Du hast keinen Vater mehr, Salvador.«[62]

Dann warf sie sich auf das Knie und betete lange.

Als sie sich wieder erhob, – glänzte ihr Auge wunderbar. Sie gebot mir niederzuknieen und sagte darauf mit feierlicher Stimme:

– Salvador, mein Knabe! Du hast es gehört: Du hast keinen Vater mehr, Du hast nie einen Vater gehabt. Weine nicht, mein Sohn. Wenn Du keinen Vater mehr hast, so hast Du eine Mutter und die wird Dich nie verlassen. Er war ein Verräther, ein Elender, der meine Liebe mit Füßen trat. –

Sie schwieg und ich weinte leise fort. Darauf wand sie diese rothe Schärpe mir um den Leib, steckte einen Dolch in die Schärpe und führte mich zu dem Kruzifix in der Ecke des Zimmers.

Er hat mir den Himmel aus der Brust geraubt, Salvador, mir das Leben zur Hölle gemacht. Willst Du mich rächen an dem Verräther?[63]

– Ich will es – antwortete ich fest. Meine Thränen waren von dem eisigen Hauch, der mich aus den Worten der Mutter anwehte, getrocknet.

– Du wirst sein falsches Herz mit diesem Dolche durchbohren, Salvador.

– Ich werde es thun.

– Komm an meine Brust, mein Kind, schluchzte jetzt die Mutter, mich zu sich hinaufziehend. – – Der Name des Verräthers wurde zwischen uns nie mehr genannt.

Lydia hatte mit wachsender Spannung, die zuletzt in Angst überging, auf Salvadors Erzählung gehört. Sie konnte den Rachedurst der Spanierin nicht begreifen, welche ihr eigenes Kind zum Vatermörder erzogen hatte. Aber sie wagte es nicht, ihre Ansicht hierüber mitzutheilen, aus Furcht, sein Vertrauen zu verlieren.

– Und hast Du – sagte sie zögernd – Deinen Schwur gehalten?

Der Knabe sah fragend zu ihr auf.

– Lebt Dein Vater noch?[64]

– Er lebt noch – Donna! Ihr kennt ihn auch.

– Ich?

– Ja. Erinnert Ihr Euch noch des Abends in Wien, wo ich Euch zur Messe begleitete? Als wir zurückkehrten nach Eurer Wohnung, da trat er Euch auf der Schwelle entgegen.

– Der Fürst Lichninsky? – sagte überrascht Lydia.

– Was ist Fürst? – fragte gleichgültig Salvador.

– Und warum hast Du ihn damals nicht getödtet? –

– Es war noch nicht Zeit, hatte der Tio gesagt.

– Der Tio? Wer ist das?

– Das ist der Pater Angelikus.

Lydias Ueberraschung war zum Entsetzen geworden. Der fromme Vater, dem sie mit Hingebung sich überlassen, dessen Munde sie oft Worte der Liebe und Verzeihung hatte entströmen hören; er wußte um den verbrecherischen Plan[65] des Knaben, unterstützte ihn vielleicht gar? Ihr schwindelte vor diesem Gedanken. Da durchzuckte eine Idee ihre Brust, die sie plötzlich mit neuer Hoffnung belebte.

– Mein Salvador – sagte sie mit dem weichsten Tone ihrer lieblichen Stimme – nicht wahr, Du hast mich lieb? mein Kind.

– Ja – sagte der Knabe mit Ungestüm, und ein Strahl blitzte aus seinen Augen, vor dem Lydia erröthend das ihrige senkte – ich habe Euch am liebsten auf der Welt; aber ich bin kein Kind.

– Nun, wenn Du mich lieb hast – fuhr Lydia, seinen Lockenkopf streichelnd, fort – so mußt Du das nicht thun.

– Was nicht thun?

– Deinen Vater tödten. –

– Ich habe keinen Vater.

– Salvador, versprich mir, ihn nicht zu tödten – bat Lydia fast flehend in unschuldiger Koketterie ihre Hand auf seine brennende Stirn legend, denn sie fühlte, daß sie eine Macht über[66] ihn besaß – die sie zum guten Zweck anwenden wollte. Des Knaben Brust arbeitete unter dem doppelten Einfluß zweier einander widerstrebender Gewalten. Lydia's Stimme tönte so süß in seinem Herzen, daß er fast nicht mehr widerstehen konnte. – – Da dachte er an den Schmerz seiner Mutter. Ihr herzzerreißendes Geschrei bei dem Abschiede von dem »Verräther« klang in seinen Ohren, durchdringend wie ehemals – er riß sich mit Ungestüm von Lydia los und sagte, mit flammenden Augen vor sie hintretend:

– Nein! Nein! Nein! Ich will Euch hassen, Donna, wenn Ihr das von mir verlangt, und wenn Ihr mich verrathet, werde ich Euch ermorden.

Aber schon im nächsten Augenblick lag er zu ihren Füßen und bat um Verzeihung.

Lydia war durch die ganze Scene in eine fieberhafte Aufregung versetzt. Sie beugte sich zu dem Knaben nieder und suchte ihn zu beruhigen; aber selbst im Innersten bewegt, trug ihre Bemühung wenig zur Besänftigung der im Knaben[67] erregten Leidenschaft bei. Der Schmerz im Andenken an die Qual seiner Mutter vermischte sich mit der Wonne, von Lydias Armen umschlungen zu sein, ohne daß er sich der Ursache klar wurde. Durch die Thränen, welche reichlich über seine Wangen strömten, glänzte die südliche Glut einer knospenden Liebe zu dem schönen Mädchen, das er umschlungen hielt, hindurch. Mit übermächtiger Gewalt zog es ihn hinauf an ihre Brust; Lydia vermochte, sich in dem Gefühl Salvadors täuschend, nicht zu widerstehen. Im nächsten Augenblicke preßte sich sein glühender Mund auf den ihrigen, ihre Thränen vermischten sich, ihre Herzen schlugen stürmisch einander entgegen. Beschämt über ihre Schwäche, und die ihr selbst unerklärliche Hingabe an den Knaben – küßte sie sanft seinen Arm und sagte mit zitternder Stimme:

– Nicht wahr, Salvador, Du wirst ihn nicht tödten?

Als hätte ihn eine Natter gestochen, so sprang der Knabe empor.[68]

– Sprich nicht davon, bei allen Heiligen, ich bitte Dich – sagte er düster – soll ich den Fluch meiner Mutter auf mich laden? Nein, es darf nicht sein.

Lydia seufzte. – So werde ich Dich nicht mehr lieb haben, Salvador. – –

Der Knabe blickte sie wild an. Dann setzte er sich wieder auf seine Fußbank und begann ein altes spanisches Lied zu singen, als Alice mit glühenden Wangen und fliegendem Athem ins Zimmer trat. – – –[69]

Quelle:
Louise Aston: Revolution und Contrerevolution. Bde. 1–2, Band 2, Mannheim 1849, S. 55-70.
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