Es kamen zwei fremde Gesellen.

[103] Da sitzt der Wadeleswirth am Gartenfenster im Stüble, er hat den Ellbogen auf den Sims gestemmt und den Kopf in die Hand gestützt; nach seiner Gewohnheit hat er die Füße hinter die vordern Stuhlbeine geschlagen, als wollte er da festwurzeln; denn wo er einmal sitzt, da braucht's fast eine Wagenwinde, um ihn wieder in die Höhe zu schroten.

Freilich sitzt er nicht mehr da, es thut ihm schon lang kein Finger mehr weh, seiner Zeit aber haben seine Finger Manchem weh gethan; die Rede ging, wo der Wadeleswirth Einen an den Kopf trifft, da wächst kein Haar mehr nach, darum versetzte er auch aus Barmherzigkeit seine Schläge in's Genick, da gibt's auch kein Blut und thut doch wacker weh. – War der Wadeleswirth so ein Raufbold? Ihr werdet ihn schon kennen lernen, daß er ein Mensch war, so lammfromm und gutmüthig wie nur Einer; das hindert aber nicht, daß man zu guter Stunde Einem, der's begehrt, gesalzene Faustknöpfle austheilt: kurzum, der Wadeleswirth war, wie man's nimmt, ein absonderlicher Mensch oder auch nicht. Eigentlich hieß er nicht Wadeleswirth,[103] sondern Lindenwirth, wozu er durch die Linde vor dem Hause und auf dem Schilde das klarste Recht hatte. Jener Name aber – ja das ist eine schlimme Sache, man redet nicht gern davon, es schickt sich nicht, und doch ist das, worauf es sich stützt, nichts Geheimes, man macht dort wo der Mann her ist gar kein Hehl daraus, also: vom innern Kniegelenke bis gegen die Knöchel – rund heraus, die Wade war beim Lindenwirth tapfer bestellt und darum wurde er so genannt.

Jetzt können wir uns schon ruhiger beim Wadeleswirth niederlassen, wir müssen aber damit eilen, denn es gibt bald großen Halloh im Hause und im ganzen Dorfe und Alles durch einen einzigen Menschen oder zwei.

Der Wadeleswirth sitzt also still da und läßt seine Gedanken um sich her schwirren wie die Fliegen, die summend die Stube durchschwärmen. Freilich hat man nicht viel Gedanken, wenn man so müde ist und wie der Wadeleswirth eben vom Feld heimkommt, wo man einen Wagen Heu aufgeladen; da thut's wohl, geruhig zu verschnaufen und die Gedanken, wenn man deren hat, machen zu lassen was sie wollen. Der Katze, die auf dem äußern Fenstersims hockte und gar viel mit sich zu thun hatte, nickte er einmal zu, dann kehrte er sich um und rief:

»Lorle!« Aus der Kammer antwortete eine Stimme: »Was?«

»Ich mein', du machst's auch wie die Katz; die putzt sich, wie wenn wir Fremde bekämen.«

»Mir ist's auch so,« antwortete es von innen.[104]

»Mach' dich nur fertig, und wenn du verkühlt bist, hol mir einen Trunk (Most) aus dem Keller; ich verdurst' schier.«

»Gleich, gleich,« antwortete es wieder aus der Kammer. Man hörte eine Kiste zuschlagen, dann Jemand die Treppe hinablaufen und bald wieder heraufkommen, die Thür öffnete sich, da ... da fiel hart am Fenster ein Schuß, ein gellender Schrei entfuhr dem Mund des Mädchens, das Glas mit dem Most lag auf dem Boden und die Katze sprang in die Stube ganz nahe vorbei an dem Gesichte des Wadeleswirths. Dieser stand auf und fluchte, und das Mädchen war in der halbgeöffneten Thür verschwunden.

Wir aber müssen dem seltsamen Ereigniß nachgehen ...

Zwei junge Männer schreiten durch den Bergwald; der eine in grauer Tyrolerjuppe mit grünen Schnüren, groß und breitbrustig, mit braunrothem unverschorenem Bart, einen grauen Spitzhut, breitkrämpig und vielfach zerdrückt auf dem Kopfe; der andere mit bescheidener Mütze, unter der ein feingeschnittenes Gesicht mit wohlgezogenem Backenbart sichtbar wird, seine kleine Gestalt etwas nach vorn gebeugt mit einem zertragenen schwarzen Ueberrock bekleidet. Die Beiden wandern wortlos dahin. Ein alter Bauer trägt ihnen zwei Ränzchen, eine Zither, einen Malerstuhl und eine Flinte nach. Jetzt treten sie aus dem Walde und im Thale vor ihnen zieht sich ein langes Dorf hin, wie man sagt: nur auf einer Seite gebacken, denn die Häuser stehen längs des Baches, der murrend und[105] wildrauschend über und zwischen Felsen wegrollt; ein Steg führt über den Bach, wo jenseits auf einsamem Hügel die Kirche steht.

»Da hast du's, das ist Weißenbach,« sagte der Große mit klangvoller Bruststimme.

»Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet,« sagte der Kleine, in dessen schwarzem Gewande wir mit Recht einen abgetragenen Schulrock vermuthet haben.

»Laß deinen Horaz,« erwiderte der Große, dem wir ohne Scheu den Malerstuhl zuerkennen dürfen.

»Gern,« versetzte der Kleine und sich umschauend fuhr er lächelnd fort: »Ite, missa est, ihr Bücher sollt mir nicht zwischen die Beine laufen in der freien Natur, still! Bruder, das solltest du malen, oder ich will ein Märchen schreiben, wie das Steckenpferd des Autors, das in jedem Buche aufgezäumt an die Krippe gebunden ist, lebendig wird und mit dem Buch davonjagt; es müßte herrlich sein, wenn so ein Rudel Bücher, so eine ganze Bibliothek da den Berg hinunterritte, hussa! hussa! Ich will das Märchen schreiben.« –

»Du thust's doch nicht, du speist dir immer in die Hände und greifst nie zu.«

»Leider hast du Recht, aber hier will ich frisches Leben holen. Sieh, wie das Dorf hier so friedlich im Mittagsschlummer daliegt als wär's ein großes Wasserungeheuer, das sich am Ufer sonnt; die Strohdächer sind wie große Schuppen. Sieh dort die Kirche! Ich liebe die Kirchen auf den Bergen, sie gehören nicht mitten in den Häusertrödel. Auf diesen Felsen will[106] ich meine Kirche erbauen – das ist schön! Auch leiblich sollen die Menschen aufsteigen, sich erheben zur geistigen Erhebung. Wie diese Kirche hier jenseits des Steges auf dem Berge steht, ist sie die wahrhaft transcendente, supranaturalistische.«

Nach einer Pause fuhr er fort: »Hörst du die Hunde bellen und die capitolinischen Wächter schnattern? Hörst du die Kinder dort jauchzen? Die guten Kinder! Sie ahnen nicht, daß du kommst, ihre Jugend im Bilde zu verewigen. Schon Virgil sagt sehr schön: O fortunatos nimium, sua si bona norint, agricolas. Das Volk ist doch wie die stille Natur, es weiß nichts von der Schönheit seines Lebens, es ist vegetabilisches Dasein und wir kommen, die Geistesfürsten, und verwenden ihre gebundene Welt zu freien Gedanken und Bildern.«

»Und wer weiß,« erwiderte der Große endlich, »wie der Weltgeist uns verwendet, zu welchen Gedanken und Bildern wir ihm dienen.«

»Du bist frommer als du glaubst, das ist ein großer Gedanke,« entgegnete der Gelehrte und der Maler fuhr auf:

»Numero A 1. Gib doch nicht gleich Allem, was man sagt ein Schulzeugniß.«

Die Beiden schwiegen. Der Maler, der seinen Kameraden doch zu hart angelassen zu haben glaubte, faßte seine Hand und sagte: »Hier bleiben wir nun, schüttle allen Schulstaub von dir, wie du dir's vorgenommen, denk nichts und will nichts und du wirst Alles haben.«[107]

Der Kleine erwiderte den Händedruck mit einem unendlich sanften Blicke und der Maler fuhr fort: »Ich muß dir den Mann schildern, bei dem wir bleiben.«

»Nein, thu's nicht, laß mich ihn selber finden,« unterbrach ihn der Kleine.

»Auch gut.«

Als sie sich jetzt dem Dorfe näherten, schlug der Maler den Fußweg ein, der hinter den Häusern herläuft: der Kleine bemerkte: »Es liegt ein tiefes Gesetz darin, daß die Naturstraßen nirgends gradlinig sind; der Bach hat einen undulirenden, einen wellenförmigen Weg, und die Straßen von Dorf zu Dorf ziehen sich selbst durch die Ebene in Schwingungen dahin. Die Philosophie der Geschichte kann davon lernen, daß Natur und Menschheit sich nicht nach der logischen Linie bewegen.«

»Bei den Straßen hat das einen einfachen Grund,« bemerkte der Maler, »ein Gefährt geht viel leichter, wenn es durch eine Biegung wieder einen Schwung bekommt; bei einem schnurgeraden Wege liegt auch das Pferd zu gleichmäßig und ermüdend im Geschirr. Das ist Fuhrmannsphilosophie.«

Mit diesen Worten waren die Beiden in einen Baumgarten getreten; der Maler nahm dem Bauer die Flinte ab und schoß damit in die Luft, daß es weithin wiederhallte, dann schrie er »Juhu!« sprang die Treppe hinauf und hinein in die Stube ...

Da sind wir also wieder beim Wadeleswirth, in dem Augenblick, da die Katze ihm am Gesicht vorbeigesprungen und das Glas Most auf den Boden gefallen[108] war. Der Wirth steht da, hat beide Fäuste geballt und flucht:

»Kreuzmillionenheideguguk, was ist denn das? Was gibt's in's –«

»Ich bin's,« rief der Maler, die Hand zum Willkomm ausstreckend.

Die Faust des Wirthes entballte sich und er rief: »Wa ... Was? Ja, bigott, er ist's; ei Herr Reinhard, sind Ihr auch wieder ause gelaufen?1 Das ist ein fremder Besuch, da sollt' man ja den Ofen einschlagen.«2

»Weil's Sommer ist, alter Kastenverwalter,« erwiderte der Begrüßte, indem er derb die Hand des Wadeleswirths schüttelte, der jetzt fragte:

»Seid Ihr's gewesen, der im Garten geschossen hat?«

»Nein, nicht ich, da mein Weib,« sagte der Maler, die Flinte aufhebend, »kann das Maul nicht halten.«

»Ihr seid noch allfort der Alte, aber der Mann muß für's Weib bezahlen; es kostet Straf', wenn man schießt.«

»Weiß wohl, ich bezahl's gern.«

Reinhard stellte nun seinen Freund, den Bibliothekscollaborator Reihenmaier vor.

»Reihenmaier,« sagte der Wadeleswirth, »so haben wir hier auch ein Geschlecht.«

Der Collaborator erwiderte lächelnd:[109]

»Es können weitläufige Verwandte von mir sein, ich stamme auch von Bauern ab.«

»Wir stammen alle von Bauern ab,« sagte der Wadeleswirth, »der Erzvater Adam ist seines Zeichens ein Bauer gewesen.«

»Wo ist denn Eure Eva, alter Adam?« frug Reinhard.

»Sie kommt gleich mit dem Heuwagen, ich bin dieweil voraus. Lorle! Lorle! Wo bist?«

»Da,« antwortete eine Stimme von unten.

»Mach hurtig die Scheuer auf, daß sie mit dem Wagen gleich 'rein können, es wird einen Regen geben, und komm hernach 'rauf.«

»Die Grundel? Ich bin begierig die Grundel3 wie der zu sehen,« sagte Reinhard; der Wadeleswirth erwiderte schelmisch lächelnd und mit dem Finger drohend:

»Oha, Mannle! Das ist keine Grundel mehr, das kann sich sehen lassen, es ist ein lebfrisches Mädle; bigott aber Ihr könnet Euch nicht sehen lassen, man meint Ihr wäret ein alter Hauensteiner Salpeterer, Ihr habt ja einen ganzen Wald im Gesicht, Rothtannen und Blutbuchen, was kostet das Klafter? Saget einmal, lassen denn die Kesselflicker und Scherenschleifer in den Kanzleien so einen Bart ungerupft und ungeschoren? Machen sie's ihm nicht auch wie den Büchern und den Zeitungen –«

»Mann! Um Gottes willen, Mann!« unterbrach ihn Reinhard, »kommt Ihr jetzt auch mit diesen[110] Geschichten an? Hat man denn nirgends mehr Ruhe vor der verdammten Politik?«

»Ja gucket, das geht einmal nimmer anders, wir dummen Bauern sind jetzt halt auch einmal so dumm und fragen darnach, wo unsere Steuern hinkommen, für was unsere Buben so lang Soldaten sein müssen und –«

»Weiß schon, weiß schon alles,« betheuerte Reinhard.

Der Collaborator aber faßte die Hand des Wirths, klopfte ihm auf die Schulter und sagte:

»Ihr seid ein ganzer Mann, ein Bürger der Zukunft.«

Der Wadeleswirth schüttelte sich, hob beide Achseln, schaute den Collaborator mit gerunzelter Stirne an und sagte dann, indem er lächelnd nickte:

»Einen schönen Gruß und ich ließ' mich schön bedanken.«

Der Collaborator wußte nicht, was das bedeuten soll. Es gab aber nicht lange Bedenkzeit, man vernahm Peitschenknallen auf der Straße, der Wadeleswirth ging nach der »Laube«, dem bedeckten Söller, der das Haus, mit Ausnahme der Gartenseite, umschloß; die beiden Fremden folgten.

»Fahr' besser hist,« rief der Wirth dem jungen Manne zu, der auf dem Sattelgaule vor dem Heuwagen saß; »noch schärfer hist, sonst kommst du nicht herein, du lernst's dein Lebtag nicht; so, so, jetzt frischweg, fahr' zu!«

Der Wagen war glücklich herein; freier athmend ging man wieder nach der Stube.

Der Collaborator fragte bescheiden:[111]

»Warum lasset Ihr denn das Scheunenthor nicht weiter machen, da es doch so mühsam ist hereinzufahren?«

Der Wadeleswirth, der zum Fenster hinausgesehen hatte, kehrte sich um, dann schaute er wieder in's Freie und sprach hinaus:

»Das junge Volk braucht's nicht besser haben als wir, es soll eben auch lernen, die Augen bei sich haben und geschickt sein und wissen was hinter ihm drein kommt. Ich bin mehr als dreißig Jahr da hereingefahren und bin nie stecken blieben.« Jetzt wendete er sich nach der Stube und fuhr fort: »Was ist denn eigentlich Euer Geschäft, Herr Kohlebrater?«

»Ich bin Bücherverwalter.«

Nun kam die Frau, der Sohn, der Knecht und die Magd in die Stube. Alle bewillkommten Reinhard und die Frau bemerkte, auf den Bart deutend:

»Ihr seid recht verwildert in den zwei Jahren, wo wir Euch nicht gesehen haben.«

»Unser Tamburmajor,« sagte Stephan der Sohn, »hat auch so einen gottsjämmerlichen Bart gehabt, er hat ihn aber alle Morgen schwarz gewichst.«

»Wenn ich jung wäre, mich dürftet Ihr mit dem Bart nicht küssen,« sagte Bärbel, eine bejahrte, starkknochige Person, die als Magd im Hause diente; Martin, der Knecht, der hinter ihr stand, war ihr Sohn. Dieser hatte seine besondere Meinung, die er nun auch preisgab:

»Und ich sag', der Bart paßt ihm staatsmäßig, er sieht aus wie der heilig' Joseph in der Kirch'!«[112]

»Und du wie der Mohrenprinz,« endete der Wadeleswirth; »aber wo steckt denn das Lorle? Alte, hol mir einen Trunk aus dem Keller und gib mir ein Mümpfele4 Käs' und dann richtest du dem Herrn Reinhard sein altes Zimmer her und der andere fremde Herr kann auf dem Tanzboden schlafen.«

Der Wadeleswirth bekam nun doch endlich seinen Trunk; er ging lieber eine Stunde im brennenden Durst umher, ehe er die zwei Treppen hinab- und wieder hinaufstieg. Der Collaborator setzte sich zu ihm.

Reinhard machte einen Gang durch das Dorf; alle Kinder liefen ihm nach, und einige muthvolle riefen sogar aus sicherm Versteck:


Rother Fuchs dein Bart brennt an,

Schütt' ein bisle Wasser dran.


Reinhard ging in das Haus, wo der Bader wohnte, die Kinder warteten vor der Thür bis er wieder geschält herauskäme; als er aber mit vollem Bartschmucke wieder erschien, lachten und jubelten sie aufs Neue.

Im Hause des Baders wohnte noch Jemand, dem Reinhard einen Auftrag gegeben hatte, es war der Dorfschütz, der jetzt mit der Schelle herauskam. Er klingelte an allen Ecken und sprach dann laut und deutlich: »Der Maler Reinhard ist wieder ankommen mit einem großmächtigen rothen Bart. Wer ihn sehen will, soll in die Linde kommen, allda ist der Schauplatz. Eintrittspreis ist, daß Jeder ein groß Maul machen und seine Zähne weisen muß, wenn er hat.[113]

Um halb neun Uhr geht die Fütterung an. Kinder sind frei.«

Ein unaufhörliches Gelächter zog durch das ganze Dorf, die Kinder folgten jubelnd und johlend dem Schütz auf dem Fuße, sie waren kaum so lang zum Schweigen zu bringen, daß man die Verkündigung hören konnte.

Als es bereits Nacht geworden und der Himmel mit schweren Regenwolken überzogen war, saß Reinhard auf der Steinbank unter der Linde vor dem Wirthshause; er lachte vor sich hin, der urplötzlichen Heiterkeit gedenkend, mit der er unversehens die Seelen aller Einwohner erfüllt hatte. Da hörte er ein verhaltenes Schluchzen in der Nähe, er stand auf und sah ein Mädchen das nach der Scheune ging.

»Lorle?« sagte er in fragendem Tone.

»Grüß Gott,« antwortete das Mädchen, die dargebotene Hand fassend, ohne aufzuschauen und ohne die Schürze vom Gesicht zu nehmen.

»Du hast ... Ihr habt ja geweint, warum denn?«

»Ich, ich ... hab' nicht geweint,« erwiderte das Mädchen und konnte vor schnellem Schluchzen kaum reden.

»Warum gunnet Ihr mir denn keinen Blick und sehet mich nicht an? hab' ich Euch was Leids than?«

»Mir? mir, nein.«

»Wem denn?«

»Euch.«

»Ja wie so?«

»Es gefällt mir nicht, daß Ihr Euch so zum G'spött vom ganzen Dorf machet, das ist nichts und uns habt[114] Ihr doch auch zum Narren; das hätten wir nicht von Euch denkt.«

»Ihr seid recht groß und stark geworden, Lorle; kommet 'rein in die Stub', daß ich Euch auch sehen kann.«

»Brauchet nicht jetzt noch mit mir Euern besondern Possen haben,« endete das Mädchen, raffte sich schnell zusammen und sprang davon durch das Hofthor nach der Straße.

Reinhard saß mit zusammengekniffenen Lippen vor sich niederschauend wieder auf der Bank. Was ihm vor einem Augenblicke noch wie ein übermüthiger, aber harmloser Scherz vorgekommen war, das hatte jetzt eine ganz andere Gestalt. Von sich sah er bald ab und dachte: Das Kind hat Recht, es ist ein Stück Aristokratie in diesem Scherze: wir wissen nicht wie viel von schmählichem Hochmuth in Jedem von uns steckt. Ich habe das ganze Dorf zu meinem Spaß verwendet.

Der Collaborator kam jetzt auch herab und sagte:

»Ein sonderbarer Mann unser Wirth! Ich bin doch schon durch alle Examina gesiebt worden, aber der hört gar nicht auf mit Fragen und dabei hat er so was Mißtrauisches.«

»Das ist's nicht,« sagte Reinhard, »die Bauern haben eine alte Regel: wenn man mit einem fremden Löffel essen will, soll man vorher dreimal hineinhauchen, verstehst Du?«

»Jawohl, das ist ein tiefsinniger Gedanke.«

»Einen schönen Gruß und ich ließ' mich schön bedanken, Herr Kohlebrater,« entgegnete Reinhard lachend.[115]

Viele Männer und Burschen aus dem Dorfe sammelten sich, von Allen ward Reinhard herzlich bewillkommt; die heitere Weise, die sie herbeigelockt, erhielt eine entsprechende Fortsetzung. Man ging nach der Stube und Reinhard wußte den ganzen Abend allerhand schnurrige Geschichten von seinen Fahrten in Oberitalien und Tyrol zu erzählen, das Gelächter wollte kein Ende nehmen. Reinhard gab sich selbst mehr zum Besten, als es eigentlich seine Art war; er wollte indeß ein Uebriges thun, weil er sie Alle zum Besten gehabt hatte, wie er in gesteigerter Selbstanklage sich vorwarf. Nach und nach gerieth er aber aus innerer Lustigkeit auf allerlei tolle Seltsamkeiten, denn er konnte sich, namentlich in zahlreicher Gesellschaft, wahrhaft in eine Aufregung hineinarbeiten.

Reinhard war so voll Lustigkeit unter den Menschen gewesen und allein auf seinem Zimmer ward er verstimmt und düster; die Welt erschien ihm doch gar zu nüchtern, wenn er nicht selber sie etwas aufrüttelte.

Lorle war den ganzen Abend nicht in die Stube gekommen.

Tief in der Nacht »schlurkte« noch Jemand in Klapp-Pantoffeln durch das ganze Haus und drückte an allen Thüren; es war der Wadeleswirth, der nie zu Bett ging, bevor er Alles von oben bis unten durchgemustert hatte.

1

Zum Besuch kommen, sonst nur von ganz nahen Nachbarn gebräuchlich.

2

Eine gewöhnliche Redensart, wenn ein unerwarteter Freund kommt.

3

Grundel, Gründling, kleiner Fisch.

4

Mümpfele – mundvoll.

Quelle:
Berthold Auerbach: Gesammelte Schriften, 2. Gesammtausgabe, Band 3, Stuttgart 1863, S. 103-116.
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