5. Auf dem Holderwasen.

[46] Als am andern Morgen der Ohm kam, erklärte ihm Amrei, daß sie dableibe. – Es lag eine seltsame Mischung von Bitterkeit und Wohlwollen darin als der Ohm sagte: »Freilich du artest deiner Mutter nach, und die hat nie Etwas von uns wissen wollen; aber ich kann den Dami allein nicht mitnehmen, wenn er auch ginge. Der kann noch lange nichts als Brod essen; du hättest es auch verdienen können.«

Amrei entgegnete, daß sie das vor der Hand hier zu Lande wolle, und daß sie mit ihrem Bruder ja später, wenn der Ohm noch so gut gesinnt bleibe, zu ihm kommen könne.

In der Art, wie nun der Ohm seine Theilnahme für die Kinder ausdrückte, wurde der Entschluß Amrei's wieder etwas schwankend, aber sie wagte das nicht kund zu geben; sie sagte nur: »Grüßet mir auch Eure Kinder und saget ihnen, daß es mir recht hart ist, daß ich meine nächsten Anverwandten gar nie gesehen hab', und daß sie jetzt weit über's Meer ziehen und ich sie jetzt vielleicht mein Lebenlang nicht mehr sehe.«

Der Ohm machte sich rasch auf und gab Amrei nur noch den Auftrag, den Dami von ihm zu grüßen, er habe keine Zeit mehr, ihm Lebewohl zu sagen.

Er ging davon.[47]

Als bald darauf Dami kam und die Abreise des Ohms erfuhr, wollte er ihm nachrennen und selbst Amrei war fast entschlossen dazu; aber sie bezwang sich wieder, dem nicht nachzugeben. Sie redete und that, als ob Jemand ihr jedes Wort und jede Regung befohlen hätte, und doch schweiften ihre Gedanken fort die Wege nach, die jetzt der Ohm ging. Sie ging mit ihrem Bruder Hand in Hand durch das Dorf und nickte allen Leuten zu, die ihr begegneten. Sie war ja jetzt erst wieder zu Allen zurückgekehrt. Man hatte sie ja forrtreißen wollen und sie meinte, alle Anderen müßten ebenso froh sein wie sie selber; aber sie merkte bald, daß man sie nicht nur gern gehen ließ, sondern daß man ihr sogar zürnte, weil sie nicht gegangen war. Der Krappenzacher machte ihr die Augen auf, indem er sagte: »Ja Kind, du hast einen Trotzkopf und das ganze Dorf ist dir bös, weil du dein Glück mit Füßen von dir gestoßen hast. Wer weiß, ob's ein Glück gewesen wär', aber sie nennen's jetzt so, und wer dich ansieht, rechnet dir vor, was du Alles aus der Gemeinde hast. Darum mach', daß du bald aus dem öffentlichen Almosen kommst.«

»Ja was soll ich machen?«

»Die Rodelbäuerin möchte dich gern in Dienst nehmen, aber der Bauer will nicht.«

Amrei mochte fühlen, daß sie sich fortan doppelt tapfer halten müsse, damit sie kein Vorwurf treffe, weder von sich noch von Andern, und sie fragte daher abermals: »Wisset Ihr denn gar Nichts?«

»Freilich, du mußt dich nur vor Nichts scheuen[48] als vor'm Betteln. Hast denn nicht gehört, daß der närrische Fridolin gestern der Kirchbäuerin zwei Gänse todtgeschlagen hat? Der Ganshirtendienst wär' jetzt leer und ich rathe dir, nimm du ihn.«

Das war nun bald geschehen und am Mittag trieb Amrei die Gänse auf den Holderwasen, wie man den Weideplatz auf der kleinen Anhöhe beim Hungerbrunnen nannte. Dami half der Schwester getreulich dabei.

Die schwarze Marann' war indeß sehr unzufrieden mit dieser neuen Bedienstung und behauptete, wohl nicht mit Unrecht: »Es geht Einem sein Leben lang nach, wenn man so einen Dienst gehabt hat; die Leute vergessen's Einem nie und sehen Einen immer drauf an, und es besinnt sich Jedes, dich einmal in Dienst zu nehmen, weil es heißen wird: das ist ja die Gänsehirtin; und wenn man dich auch aus Barmherzigkeit nimmt, kriegst du schlechten Lohn und schlechte Behandlung, da heißt es immer, das ist gut genug für die Gänsehirtin.«

»Das wird nicht so arg sein,« erwiderte Amrei, »und Ihr habt mir ja viel hundert Geschichten erzählt wie eine Gänsehirtin Königin geworden ist.«

»Das war in alten Zeiten. Aber wer weiß, du bist noch von der alten Welt; manchmal ist mir's gar nicht, als wärst du ein Kind, wer weiß, du alte Seele, vielleicht geschieht dir noch ein Wunder.«

Der Hinweis, daß sie noch nicht auf der untersten Stufe der Ehrenleiter gestanden, sondern daß es noch etwas gebe, wodurch sie herabsteige, machte Amrei plötzlich stutzig. Für sich selber eroberte sie nichts weiter daraus, aber sie duldete es fortan nicht mehr, daß[49] Dami mit ihr die Gänse hütete. Er war ein Mann, er sollte einer werden, und ihm konnte es schaden, wenn man ihm einst nachsagte, daß er vormals die Gänse gehütet habe. Aber mit allem Eifer konnte sie ihm das nicht klar machen, und er trutzte mit ihr; denn so ist es immer: gerade an dem Punkt, wo das Verständniß aufhört, beginnt eine innere Verdrossenheit. Die innere Unmacht übersetzt sich gern in die Einbildung äußern Unrechts und erfahrener Kränkung.

Dami bekam indeß auch bald ein Amt. Er wurde von seinem Pfleger, dem Rodelbauer, als Vogelscheuche benutzt: er durfte im Baumgarten des Rodelbauern den ganzen Tag die Rassel drehen, um die Sperlinge von den Frühkirschen und aus den Salatbeeten zu verscheuchen, aber gab das Amt, das ihn Anfangs als Spiel vergnügt hatte, bald wieder auf.

Es war ein fröhliches aber auch ein mühsames Amt, das Amrei übernommen hatte, besonders war es ihr oft schwer, daß sie Nichts zu machen wußte, wodurch sie die Thiere an sich fesselte. Ja, sie waren kaum von einander zu unterscheiden. Und es war nicht uneben, was ihr einst die schwarze Marann', als sie aus dem Moosbrunnenwalde kam, darüber sagte: »Die Thiere, die in Heerden leben, sind alle Jedes für sich allein dumm.«

»Und ich mein' auch,« setzte Amrei fort, »die Gänse sind deßwegen dumm, weil sie zu vielerlei können; sie können schwimmen und laufen und fliegen, sind aber nicht im Wasser, nicht auf dem Boden und nicht in der Luft recht daheim und das macht sie dumm.«[50]

»Ich bleib' dabei,« entgegnete die schwarze Marann', »in dir steckt noch ein alter Einsiedel.«

In der That bildete sich auch ein einsiedlerisches Träumen in Amrei aus, seltsam durchzogen von allerlei heller Lebensberechnung. Wie sie bei allem Träumen und Betrachten emsig fortstrickte und keine Masche fallen ließ, und wie hier an der Ecke beim Holzbirnenbaum der betäubende Nachtschatten und die erfrischende Erdbeere so nahe beieinander wachsen, daß sie fast aus derselben Wurzel zu sprossen scheinen, so waren klares Ausschauen und träumerisches Hindämmern im Herzen des Kindes nahe beisammen.

Der Holderwasen war kein einsam abgelegener Platz, den die stille Märchenwelt, draus es glimmt und glitzert, gern heimsucht. Mitten durch den Holderwasen führte ein Feldweg nach Endringen und nicht weit davon standen die verschiedenfarbigen Grenzpfähle mit den Wappenschildern zweier Herren, deren Länder hier an einander stießen. Mit Ackerfuhrwerk allerlei Art zogen hier die Bauern vorüber, und Männer, Frauen und Mädchen gingen hin und her mit Hacke, Sense und Sichel. Die Landjäger der beiden Länder kamen auch oft vorüber und der Flintenlauf glitzerte von fernher und noch weit nach. Ja Amrei wurde fast immer vom Endringer Landjäger begrüßt, wenn sie am Wege saß, und sie sollte manchmal Auskunft geben ob nicht Dieser oder Jener hier vorbeigekommen sei; aber sie wußte nie Bescheid, vielleicht auch verhehlte sie ihn aus jener innern Abneigung des Volkes und besonders der Dorfkinder, denen die Landjäger für allzeit gewaffnete Feinde[51] der Menschheit erscheinen, die da umgehen und suchen wen sie verschlingen.

Der Theisles-Manz, der hier am Weg die Steine klopfte, redete fast kein Wort mit Amrei; er ging verdrossen von Steinhaufen zu Steinhaufen und sein Klopfen war noch unaufhörlicher als das Picken des Spechts im Moosbrunnenwald und gehörte mit zu dem Schrillen und Zirpen der Heuschrecken in den nahen Wiesen und Kleefeldern.

Ueber alles menschliche Getriebe hinweg wurde Amrei doch oft in's Reich der Träume getragen. Frei schwang sich ihre Seele hinauf und wiegte sich in ungemessenen Bezirken. Wie die Lerchen in der Luft singen und jubeln und Nichts davon wollen: wo ist die Grenze des Ackers von Diesem und Jenem? ja wie sie sich hinwegschwingen über die Grenzpfähle ganzer Länder, so wußte die Seele des Kindes Nichts mehr von den Schranken, die das beengte Leben der Wirklichkeit setzt. Das Gewohnte wird zum Wunder, das Wunder wird zum Alltäglichen. Horch! wie der Kukuck ruft! Das ist das lebendige Echo des Waldes, das sich selbst ruft und antwortet; und jetzt sitzt der Vogel über dir im Holzbirnenbaum, darfst aber nicht aufschauen, sonst fliegt er fort. Wie er so laut ruft, so unermüdlich! wie weit das tönt, wie weit man das hört! der kleine Vogel hat eine stärkere Stimme als ein Mensch. Setz' dich auf den Baum, ahme ihm nach, man hört dich nicht so weit als den faustgroßen Vogel. Still, vielleicht ist es doch ein verzauberter Prinz und plötzlich fängt er an zu reden. Ja, gieb du mir nur Räthsel[52] auf, laß mich nur besinnen, ich finde schon die Auflösung und dann erlöse ich dich, und wir ziehen in dein goldenes Schloß und nehmen die schwarze Marann' und den Dami mit und der Dami heirathet die Prinzessin, deine Schwester; und wir lassen der schwarzen Marann' ihren Johannes in der ganzen Welt suchen und wer ihn findet, kriegt ein König reich. Ach, warum ist denn das Alles nicht wahr? und warum hat man denn das Alles ausgedacht, wenn es nicht wahr ist?

Während die Gedanken Amrei's über alle Grenzen hinausgegangen waren, fühlten sich auch die Gänse unbeschränkt und thaten sich gütlich an benachbarten Klee- oder gar Gersten- und Haferäckern. Aus ihren Träumen erwachend scheuchte dann Amrei mit schwerer Mühe die Gänse wieder zurück, und wenn diese Freibeuter bei ihrem Regimente angekommen waren, wußten sie gar viel zu erzählen von dem gelobten Lande, wo sie sich gütlich gethan; da war des Erzählens und Schnatterns kein Ende und noch lange sprach da und dort eine Gans wie träumend ein bedeutsames Wort vor sich hin und da und dort steckte eine den Schnabel unter den Flügel und träumte in sich hinein. Und wieder trug es Amrei hinauf. Schau, dort fliegen die Vögel, kein Vogel in der Luft strauchelt, auch die Schwalbe nicht in ihrem Kreuzfluge; immer sicher, immer frei. O! wer nur auch fliegen könnte! Wie müßte die Welt aussehen von da oben, wo die Lerche ist. Juchhe! Immer höher, immer höher und weiter und weiter! Ich fliege in die weite Welt zu der Landfriedbäuerin,[53] und sehe was sie macht und frage, ob sie noch mein gedenkt.


»Gedenkst du mein in fernen Landen?«


So sang Amrei plötzlich aus all dem Denken, Schwirren und Sinnen heraus. Und ihr Athem, der beim Gedanken des Fluges tiefer und rascher gegangen war, als schwebe sie schon wirklich in höherer Luftschicht, wurde wieder ruhig und gemessen.

Aber nicht immer glühten die Wangen in wachen Träumen, nicht immer leuchtete die Sonne hell in die offenen Blüthen und in die wogende Saat. Noch im Frühling kamen jene naßkalten Tage, in denen die Blüthenbäume wie frierende Fremdlinge stehen und Tagelang läßt sich die Sonne kaum blicken und ein starres Frösteln geht durch die Natur, nur bisweilen unterbrochen vom Aufzucken eines Windstoßes, der Blüthen von den Bäumen reißt und fortträgt. Die Lerche allein jubilirt noch in den Lüften, wohl über den Wolken, und der Fink stößt seinen klagenden Ton aus vom Holzbirnenbaum, an dessen Stamm gelehnt Amrei steht. Der Theisles-Manz hat sich weiter unten beim rothangestrichenen hölzernen Kreuz unter die Linde gestellt und jetzt in streifweisen Schüttern prasselt der Hagel hernieder, und die Gänse strecken die Schnäbel empor, wie man sagt, damit es ihnen das weiche Hirn nicht einschlage; aber da drüben hinter Endringen ist's schon hell und die Sonne bricht bald hervor, und die Berge, der Wald, die Felder, Alles sieht aus wie ein Menschenantlitz, das sich ausgeweint hat und nun[54] hellglänzend in Freude strahlt. Die Vögel in der Luft und von den Bäumen jubeln und die Gänse, die sich im Wetterschauer zusammengedrängt und die Schnäbel verwundert aufgestreckt hatten, wagen sich wieder auseinander, und grasen und schnattern und besprechen das vorübergegangene Ereigniß mit der jungen flaumweichen Brut, die dergleichen noch nicht erlebt hat.

Gleich nachdem Amrei vom ersten Unwetter überfallen worden war, hatte sie für künftige Fälle Vorsorge getroffen. Sie trug von nun an immer einen leeren Kornsack, den sie noch vom Vater ererbt hatte, mit hinaus auf den Ganstrieb. Zwei gekreuzte Aexte mit dem Namen des Vaters waren noch deutlich auf dem Sack abgemalt, und bei Gewittern deckte sie sich mit dem Sacke zu und wickelte sich fast hinein; da saß sie dann wie unter einem schützenden Dach und schaute hinein in den unfaßbaren wilden Kampf am Himmel. Ein kalter Schauer, der in Wehmuth überging, wollte sich gar oft ihrer bemächtigen, sie wollte weinen über ihr Schicksal, das sie so allein, verlassen von Vater und Mutter, hinaus gestellt; aber sie gewann schon früh eine Kunst und eine Kraft, die sich schwer lernt und übt: die Thränen hinabwürgen. Das macht die Augen frisch und doppelt hell mitten in allem Trübsal und aus ihm heraus.

Amrei bezwang ihre Wehmuth besonders in Erinnerung an einen Spruch der schwarzen Marann': wer nicht will, daß ihm die Hände frieren, muß eine Faust machen. Amrei that so, geistig und körperlich, sah trotzig in die Welt hinein und bald kam Heiterkeit[55] über ihr Antlitz; sie freute sich der prächtigen Blitze und ahmte leise vor sich den Donner nach. Die Gänse, die sich wieder zusammengeduckt hatten, schauten wieder seltsam drein, sie hatten's aber doch gut: alle Kleider, die sie brauchen, sind ihnen auf den Leib gewachsen und für das was man ihnen im Frühling ausgerupft hat, ist schon wieder anders da, und jetzt da das Wetter vorüber ist, jubelt wieder Alles in der Luft und auf den Bäumen und die Gänse machen sich's im warmen Sonnenschein bequem, sie setzen sich nieder und fressen sitzend das neugewürzte Gras im Umkreise.

Von dem tausendfältigen Sinnen, das in Amrei lebte, erhielt nur die schwarze Marann' bisweilen Kunde, wenn sie vom Wald kommend ihre Holzlast und ihren Sack mit gefangenen Maikäfern und Würmern bei der Hirtin abstellte. Da sagte Amrei eines Tages: »Bas', wisset ihr auch warum der Wind weht?«

»Nein, weißt denn du's?«

»Ja, ich hab's gemerkt. Gucket, Alles was wächst muß sich umthun. Der Vogel da fliegt, der Käfer da kriecht, der Has', der Hirsch, das Pferd und alle Thiere die laufen, und der Fisch schwimmt und der Frosch auch, und da steht der Baum und das Korn und das Gras und das kann nicht fort und soll doch wachsen und sich umthun, und da kommt der Wind und sagt: bleib' du nur stehen, ich will dich schon umthun, so. Siehst du, wie ich dich drehe und wende und biege und schüttle? Sei froh, daß ich komm', du müßtest sonst verhocken und es würde nichts aus dir; es thut dir gut, wenn ich dich müd mache, du wirst es schon spüren.«[56]

Die schwarze Marann' sagte darauf nichts weiter als ihren gewohnten Spruch: »Ich bleibe dabei, in dir steckt die Seele von einem alten Einsiedel.«

Nur einmal half die Marann' den stillen Betrachtungen der Amrei auf eine andere Spur.

Die Wachtel schlug bereits im hohen Roggenfeld und neben Amrei sang fast einen ganzen Tag unaufhörlich eine Feldlerche am Boden, sie wanderte hin und her und sang immer so innig, so in's tiefste Herz hinein, es war wie ein Saugen der Lebenslust. Das klang noch viel schöner als die Töne der Himmelslerche, die sich aufschwingt in die Luft, und oftmals kam der Vogel ganz nahe und Amrei sagte fast laut vor sich hin: »Warum kann ich dir's nicht sagen, daß ich dir nichts thun will? bleib' nur da!« Aber der Vogel war scheu und versteckte sich immer wieder. Und Amrei sagte schnell überlegt vor sich hin: »Es ist doch wieder gut, daß die Vögel scheu sind; man könnte ja sonst die diebischen Sperlinge nicht vertreiben.« Als am Mittag die Marann' kam, sagte Amrei: »Ich möcht' nur wissen, was so ein Vogel den lieben langen Tag zu sagen hat, und er schwätzt sich gar nicht aus.«

Darauf erwiderte die Marann': »Schau, so ein Thierlein kann nichts bei sich behalten und in sich hinein reden, im Menschen aber spricht sich auch immer etwas in ihm fort, das hört auch nie auf, aber es wird nicht laut; da sind Gedanken, die singen, weinen und reden, aber ganz still, man hört's selber kaum; so ein Vogel aber, wenn er zu singen aufgehört hat, ist fertig und frißt oder schläft.«[57]

Als die schwarze Marann' mit ihrer Holztraget fortging, schaute ihr Amrei lächelnd nach: »Die ist jetzt ein stillsingender Vogel,« dachte sie und Niemand als die Sonne sah wie das Kind noch lange vor sich hinlächelte.

Tag auf Tag lebte Amrei so dahin, stundenlang konnte sie träumerisch zusehen, wie der Schatten vom Gezweige des Holzbirnenbaums sich von dem Winde auf der Erde bewegte, daß die dunkeln Punkte wie Ameisen durcheinanderkrochen; dann starrte sie wieder auf eine feststehende Wolkenbank, die am Himmel glänzte, oder auf jagende flüchtige Wolken, die einander fortschoben. Und wie draußen im weiten Raum, so standen und jagten, stiegen und zerflossen auch in der Seele des Kindes allerlei Wolkenbilder, unfaßlich und nur vom Augenblick Dasein und Gestalt empfangend. Wer aber weiß, wie die Wolkenbildungen draußen in der Weite und im engen Herzensraum zerfließen und sich wandeln?

Wenn der Frühling anbricht über der Erde, du kannst nicht fassen all das tausendfältige Keimen und Sprossen auf dem Grund, all das Singen und Jubeln auf den Zweigen und in den Lüften. Eine einzige Lerche fasse fest mit Aug und Ohr, sie schwingt sich auf, eine Weile siehst du sie noch wie sie die Flügel schlägt, eine Weile unterscheidest du sie noch als dunkeln Punkt, dann aber ist sie verschwunden dem Auge und auch dem Ohr. Du hörst nur noch ein Singen und weißt nicht von wannen es kommt. Und könntest du nur einer einzigen Lerche im freien Raum einen ganzen Tag lauschen, du würdest hören, daß sie am[58] Morgen, am Mittag und am Abend ganz anders singt; und könntest du ihr nachspüren vom ersten zaghaften Frühlingsjauchzen an, du würdest hören, wie ganz andere Töne sie im Frühling, im Sommer und im Herbst in ihren Gesang mischt. Und schon über den ersten Stoppelfeldern singt eine neue Lerchenbrut.

Und wenn der Frühling anbricht in einem Menschengemüthe, wenn die ganze Welt sich aufthut, vor ihm, in ihm, du kannst die tausend Stimmen, die es umfließen, das tausendfältige Knospen auf dem Grunde und wie es immer weiter gedeiht, nicht fassen und festhalten. Du weißt nur noch, daß es singt, daß es sproßt.

Und wie still lebt sich's dann wieder, wie eine festgewurzelte Pflanze. Da ist der Wiesenzaun beim Holzbirnenbaum, die Schlehen blühen früh auf und werden nur selten zeitig. Und welch eine schöne Blüthe hatte die Mehlbeere, wie kräftig duftete das und jetzt sind schon kleine Birnen daraus geworden und schon färben sie sich roth und auch die giftige Eimbeere beginnt schon schwarz zu werden. Es kommen jene hellen, schnittreifen Erntetage, wo der Himmel so wolkenlos blau, daß man oft den ganzen Tag den Mond wie ein feingezirkeltes Wölkchen am Himmel sieht. Draußen in der Natur und im Menschengemüth ist es wie leises Athemanhalten vor einem Ziele.

Das war bald ein Leben auf dem Wege, der durch den Holderwasen führt! Schnellrasselnd fuhren die leeren Leiterwagen dahin und darauf saßen Frauen und Kinder und lachten, auf- und niedergehoben vom[59] Schüttern des Wagens wie vom Lachen, und dann fuhren die garbenbeladenen Wagen leise und nur manchmal krächzend heimwärts und Schnitter und Schnitterinnen gingen nebenher.

Amrei hatte von der reichen Ernte fast nicht mehr als ihre Gänse, die sich manchmal in kecker Zudringlichkeit an die beladenen Wagen herandrängten und eine herunterhängende Aehre abrauften.

Wenn das erste Stoppelfeld draußen im Feldgebreite sich aufthut, kommt bei aller Freude über den eingeheimsten Erntesegen doch auch ein gewisses Bangen in das Menschengemüth: die Erwartung ist Erfüllung geworden, und wo alles so wogend stand, wird es nun kahl. Die Zeit wandelt sich. Der Sommer wendet sich zur Neige.

Der Brunnen auf dem Holderwasen, in dessen Abfluß sich die Gänse behaglich tummelten, hatte das beste Wasser in der Gegend und die Vorüberziehenden versäumten selten, an der breiten Röhre zu trinken, während ihr Zugvieh indeß vorauslief; sich den Mund abwischend und den Davongeeilten nachschreiend lief man ihm dann nach. Andere tränkten vom Feld heimkehrend hier Zugvieh.

Amrei erwarb sich die Gunst vieler Menschen durch einen kleinen irdenen Topf, den sie sich von der schwarzen Marann' erbettelt hatte, und so oft nun ein Vorüberziehender sich nach dem Brunnen begab, kam Amrei herbei und sagte: »Da könnet Ihr besser trinken.« Bei Rückgabe des Topfes ruhte mancher freundliche Blick bald länger bald kürzer auf ihr und das that ihr[60] so wohl, daß sie fast böse wurde, wenn Leute vorübergingen ohne zu trinken. Sie stand dann mit ihrem Topfe beim Brunnen, ließ voll laufen und goß aus und wenn all dieses Zeichengeben nichts half, überraschte sie die Gänse mit einem unverhofften Bade und überschüttete sie.

Eines Tages kam ein Bernerwägelein mit zwei stattlichen Schimmeln daher gefahren, ein breiter oberländischer Bauer nahm den Doppelsitz fast völlig ein. Er hielt am Weg und fragte:

»Mädle! hast du nichts, daß man da trinken kann?«

»Freilich, ich hol' schon.« Behend brachte Amrei ihr Gefäß voll Wasser herbei.

»Ah!« sagte der Oberländer, nachdem er einen guten Zug gethan und absetzte, und mit triefendem Munde fuhr er dann, halb in den Krug hinein sprechend, fort: »Es giebt doch in der ganzen Welt kein solches Wasser mehr.«

Er setzte wieder an und winkte dabei Amrei, daß sie still sein solle, denn er hatte eben wieder mächtig zu trinken begonnen, und es gehört zu den besondern Unannehmlichkeiten, während des Trinkens angesprochen zu werden. Man trinkt in Hast und spürt ein Drücken davon.

Das Kind schien das zu verstehen und erst nachdem der Bauer den Krug zurückgegeben, sagte es:

»Ja, das Wasser ist gut und gesund, und wenn Ihr Eure Pferde tränken wollt, für die ist es besonders gut; sie kriegen keinen Strängel.«[61]

»Meine Gäul' sind heiß und dürfen jetzt nicht saufen. Bist du von Haldenbrunn, Mädle?«

»Freilich!«

»Und wie heißt du?«

»Amrei.«

»Und wem gehörst du?«

»Niemand mehr. Mein Vater ist der Josenhans gewesen.«

»Der Josenhans, der beim Rodelbauer gedient hat?«

»Ja!«

»Hab' ihn gut gekannt. Ist hart, daß er so früh hat sterben müssen. Wart', Kind, ich geb' dir was.« Er holte einen großen Lederbeutel aus der Tasche, suchte lange darin und sagte endlich: »Säh! da nimm!«

»Ich will nichts geschenkt, ich danke, ich nehm' nichts.«

»Nimm nur, von mir kannst schon nehmen. Ist nicht der Rodelbauer dein Pfleger?«

»Ja wohl.«

»Hätt' auch was Gescheiteres thun können, als dich zur Ganshirtin zu machen. Behüt dich Gott!«

Fort rollte der Wagen und Amrei hielt eine Münze in der Hand.

»Von mir kannst schon nehmen ... Wer ist denn der Mann, daß er das sagt, und warum gibt er sich nicht zu erkennen? Ei das ist ein Groschen, da ist ein Vogel drauf. Nun, er wird nicht arm davon und ich nicht reich.«[62]

Den ganzen Tag bot Amrei keinem Vorüberziehenden mehr ihren Topf an. Sie hatte eine geheime Scheu, daß sie wieder beschenkt werden könnte.

Als sie am Abend heim kam, sagte ihr die schwarze Marann', daß der Rodelbauer nach ihr geschickt habe, sie solle gleich zu ihm kommen.

Amrei eilte zu ihm und der Rodelbauer sagte zu ihr beim Eintritt:

»Was hast du dem Landfriedbauer gesagt?«

»Ich kenne keinen Landfriedbauer.«

»Er ist ja heut bei dir gewesen auf dem Holderwasen und hat dir was geschenkt.«

»Ich hab' nicht gewußt wer es ist und da ist sein Geld noch.«

»Das geht mich nichts an. Sag offen und ehrlich du Teufelsmädle: habe ich dir zugeredet, daß du Ganshirtin werden sollst? Und wenn du es nicht noch heut' am Tage aufgiebst, bin ich dein Pfleger nicht mehr. Ich lasse mir so was nicht nachsagen.«

»Ich werde allen Menschen berichten, daß Ihr nicht dran Schuld seid; aber den Dienst aufgeben, das kann ich nicht, den Sommer über wenigstens bleib' ich dabei. Ich muß ausführen, was ich angefangen hab'.«

»Du bist ein hagebüchenes Gewächs,« schloß der Bauer und verließ die Stube; die Bäuerin aber, die krank im Bette lag, rief: »Du hast Recht, bleib' nur so, ich prophezeie dir's, daß dir's noch gut geht. Man wird noch in hundert Jahren von Einem, das Glück hat, im Dorfe sagen: Dem geht's wie des Brosi's[63] Severin und wie des Josenhansen Amrei. Dir fällt dein trocken Brod noch in den Honigtopf.«

Die kranke Rodelbäuerin galt für überhirnt; und von einer wahren Gespensterfurcht gepackt, eilte Amrei davon, ohne eine Antwort zu geben.

Der schwarzen Marann' erzählte Amrei, daß ihr ein Wunder geschehen sei: der Landfriedbauer, an dessen Frau sie oft denke, habe mit ihr geredet, sich ihrer beim Rodelbauer angenommen und ihr Etwas geschenkt. Sie zeigte nun das Geldstück. Da rief die Marann' lachend:

»Ja, das hätt' ich von selbst errathen, daß das der Landfriedbauer gewesen ist. Das ist der Aechte! Schenkt der dem armen Kind einen falschen Groschen!«

»Warum ist er denn falsch?« fragte Amrei und Thränen schossen ihr in die Augen.

»Das ist ein abschätziger Vögeles-Groschen, der ist nur anderthalb Kreuzer werth.«

»Er hat mir eben nur anderthalb Kreuzer schenken wollen,« sagte Amrei trotzig. Und hier zum Erstenmal zeigte sich ein innerer Widerspruch Amrei's mit der schwarzen Marann'. Diese freute sich fast über jede Boshaftigkeit, die sie von den Menschen hörte, Amrei dagegen legte gern Alles zum Guten aus, sie war immer glücklich, und so sehr sie sich auch in der Einsamkeit in Träume verlor, sie erwartete doch in der That Nichts; sie war überrascht von Allem was sie bekam und war stets dankbar dafür.

»Er hat mir nur anderthalb Kreuzer schenken wollen, nicht mehr, und das ist genug und ich bin[64] zufrieden.« Das sagte sie noch oft herb vor sich hin, während sie einsam ihre Suppe aß, als spräche sie noch mit der Marann', die gar nicht in der Stube war und unterdeß ihre Ziege molk.

Noch in der Nacht nähte sich Amrei zwei Flicken zusammen und den Groschen dazwischen, hing das wie ein Amulett um den Hals und verbarg es an der Brust. Es war, als ob der geprägte Vogel auf der Münze allerlei in der Brust, darauf er ruhte, wecke; denn voll innerer Lust sang und summte Amrei allerlei Lieder, Tagelang vom Morgen bis zum Abend, und dabei dachte sie immer wieder hinaus zu dem Landfriedbauer; sie kannte jetzt den Bauer und die Bäuerin und hatte von Beiden ein Andenken, und es war ihr immer, als ließe man sie nur noch eine Weile da, dann kommt wieder das Bernerwägelein mit den zwei Schimmeln, drinn sitzen die Bauersleute und holen sie ab und sagen: Du bist unser Kind; denn gewiß erzählt jetzt der Bauer daheim von dem Begegniß mit ihr.

Mit seltsamen Blicken starrte sie oft in den Herbsthimmel, er war so hell, so wolkenrein; und auf der Erde, da sind die Wiesen noch so grün und der Hanf liegt zum Dörren darüber gebreitet wie ein feines Netz, die Zeitlosen schauen dazwischen auf und die Raben fliegen darüber hin und ihr schwarzes Gefieder glitzert hell im Sonnenglanz; kein Luftzug weht, die Kühe weiden auf den Stoppeläckern, Peitschenknallen und Singen tönt von allen Aeckern und der Holzbirnenbaum schauert still in sich zusammen und schüttelt die Blätter ab. Der Herbst ist da.[65]

So oft Amrei jetzt Abends heimkehrte, schaute sie die schwarze Marann' fragend an, sie meinte, diese müsse ihr sagen, daß der Landfriedbauer geschickt habe, um sie abzuholen, und mit schwerem Herzen trieb sie die Gänse auf die Stoppelfelder, die so entfernt waren vom Weg und immer wieder lenkte sie nach dem Holderwasen. Aber schon standen die Hecken blätterlos, die Lerchen zwitscherten kaum mehr in schwerem niederem Fluge, und noch immer kam keine Nachricht, und Amrei hatte ein tiefes Bangen vor dem Winter, als wie vor einem Kerker. Sie tröstete sich nur mit dem Lohne, den sie jetzt erhielt, und der war allerdings reichlich. Keine ihrer Untergebenen war gefallen, ja nicht einmal eine flügellahm geworden. Die schwarze Marann' verkaufte die Federn, die Amrei gesammelt hatte, zu gutem Preise, und wies Amrei an, sich neben dem bräuchlichen Geldlohn, das gewöhnliche Stück Kirchweihkuchen für jede einzelne Gans, die sie gehütet, in Brod verwandeln zu lassen. Und so hatten sie fast den ganzen Winter vollauf Brod, freilich oft sehr altbackenes, aber Amrei hatte, wie die schwarze Marann' sagte, lauter gesunde Mauszähne, mit denen sie Alles knuppern konnte.

Quelle:
Berthold Auerbach: Gesammelte Schriften, 1. neu durchgesehene Gesammtausgabe, Band 9, Stuttgart und Augsburg 1857, S. 46-66.
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