XII.

[821] Soden, den 22. Mai


Ich fühlte mich wohl in Paris. Mir war, als würde ich aus der Tiefe des Meeres, wo eine Taucherglocke mir kärglichen Atem gab, wieder hinaufgehoben in die freie Luft. Das Licht der Sonne, die Menschenstimme, das Geräusch des Lebens entzückte mich. Mich fröstelte nicht mehr unter Fischen; ich war nicht mehr in Deutschland. Gute deutsche Freunde, die mein deutsches Herz besser kannten als wortfressende Rezensenten, welche mich für einen Feind des Vaterlandes erklärten, waren doch auch verwundert, mich Frankreich anpreisen zu hören. – Du und dieses Land der Untreue, des Unglaubens und der Unwahrheit! – Nein, nicht so, meine Freunde. – Die großen Vorzüge, welche wir den Franzosen gegenüber haben: der freie Sinn, der fromme Glaube, die Gerechtigkeit und allgemeine Menschenliebe, sind innere Güter, die jeder Deutsche mitbringen kann in jedes Land. Äußere Güter verlassen wir nicht im Vaterlande, und diese alle, die uns fehlen, finden wir in Frankreich. Sein eignes deutsches Herz kann man nur in Frankreich froh genießen. Dort ist es ein Ofen, der uns im kalten Lande wohltätig wärmt; aber im dumpfen Vaterhause mit seinen festverschlossenen Fenstern und Läden ist uns des Ofens Hitze sehr zur Last. Wozu die kindischen Abschiedstränen? Eine Obrigkeit, gebratene Äpfel und den Schnupfen findet man überall.

Ein alter griechischer Dichter, den Plutarch im Leben des Demosthenes anführt, sagte: »Das Notwendigste zum Glücke eines Menschen ist, in einer berühmten Stadt geboren zu sein.« Da nun mehr ist glücklich sein als sein Glück machen, was der griechische Dichter meinte, so ist in unsern Tagen das Notwendigste zum Glücke eines Menschen, in großen Städten leben, die das sind, was in der alten Zeit die berühmten waren.[821]

Wer kein Wasser in den Adern hat, oder wem keine gütige Natur ein rosenrotes Blut gegeben, das wie ein Kind von Puls zu Puls durch das Leben hüpft: der wird in kleinen Städten leicht ein Menschenfeind, oder noch schlimmer, ein Lästerer Gottes und ein Empörer gegen seine weise Ordnung. Unter einer spärlichen Bevölkerung treten die Menschen und ihre Schwächen zu einzeln hervor und erscheinen verächtlich, wenn nicht hassenswürdig. Große Verbrechen geschehen so selten, daß wir sie für freie Handlungen erklären und die Wenigen, die sich ihrer schuldig machen, schonungslos verdammen. Ein großes Mißgeschick kehrt erst nach so langen Zeiträumen wieder, daß wir es für eine Regellosigkeit, für eine Willkür der Vorsehung ansehen, und wir murren über die böse Kometenlaune des Himmels. Aber ganz anders ist es in großen Städten wie Paris. Die Schwächen der Menschen erscheinen dort als Schwächen der Menschheit; Verbrechen und Mißgeschicke als heilsame Krankheiten, welche die Übel des ganzen Körpers, diesen zu erhalten, auf einzelne Glieder werfen. Wir erkennen dort die Naturnotwendigkeit des Bösen, und die Notwendigkeit ist eine bessere Trösterin als die Freiheit. Wenn in kleinen Städten ein Selbstmord vorfällt, wie lange wird nicht darüber gesprochen, wie viel wird nicht darüber vernünftelt! Man klagt die Gewinnsucht, die Habsucht, die Genußsucht an; man tadelt die Verführung der Spielbänke, verdammt die Grausamkeit eigensinniger Eltern, welche Liebende zum Sterben gebracht. Liest man aber in Paris die amtlichen Berichte über die geschehenen Selbstmorde, und wie in jedem Jahre die Zahl derselben sich fast gleich bleibt; wie so viele aus Liebesnot sich töten, so viele aus Armut, so viele wegen unglücklichen Spiels, so viele aus Ehrgeiz – dann lernt man Selbstmorde als Krankheiten ansehen, die, wie die Sterbefälle durch Schlagfluß oder Schwindsucht,[822] in einem gleichbleibenden Verhältnisse jährlich wiederkehren.

Das Kammermädchen einer deutschen Dame in Paris zündete sich aus Unvorsichtigkeit die Kleider an und verbrannte. Die Dame war in Verzweiflung über das unerhörte Unglück. Ich gab ihr die amtlichen Tabellen der Präfektur zu lesen, woraus sie ersah, daß jährlich sechzig oder achtzig in Paris durch Feuertod umkommen und daß diese Zahl sich fast gleich bleibt. Das tröstete sie viel. Das Schicksal in Zahlen hat etwas sehr Beruhigendes, den Gründen der Mathematik widersteht keiner, und eine Arithmetik und Statistik der menschlichen Leiden würden viel dazu beitragen, diese zu vermindern. Wer ein beschauliches Leben führt, wer, die Schlafmütze auf dem Kopfe, die Pfeife im Munde, den Kaffee auf dem Tische, bequemer als ein Fürst in der warmen Loge seines Bücherzimmers sitzt, Könige vor sich spielen läßt, sie beklatscht oder auszischt und über das Narrenchor lacht, das ihnen gehorcht – dieser Glückliche wähle Paris zu seinem Wohnorte. Dort ist ein herrliches Schauspiel, wo alles dargestellt wird, was in allen Gegenden der Welt geschieht oder geschehen kann. Man bleibt in Paris so ruhig. Auch die schnellste Bewegung spüren wir nicht, weil alles, weil der Boden, auf dem wir stehen, und der Luftkreis, in dem wir leben, sich mit bewegt. Ruhe ist Glück. In diesem Sinne ist es ganz wahr, was Frau von Staël von Paris sagte: C'est la seule ville du monde où l'on peut se passer du bonheur. Ruhe ist Glück – wenn sie ein Ausruhen ist, wenn wir sie gewählt, wenn wir sie gefunden, nachdem wir sie gesucht; aber Ruhe ist kein Glück, wenn, wie in unserm Vaterlande, sie unsere einzige Beschäftigung ist. In Deutschland gehe ich aus, Bewegung zu suchen und finde sie nie; in Paris ging ich nach Hause, um Ruhe zu suchen und fand sie immer. Dort ist das Leben gesellig,[823] die Wissenschaft gesellig, und das Bürgertum ist es auch. Die Regierung ist offen und bildet keine geheime Gesellschaft, die mit dem Kinderspuke der Freimaurerei alle Schrecken eines Glaubensgerichts verbände – Schrecken, wenn auch nur gemalte; ja diese beleidigen umso mehr, weil sie uns für Kinder erklären, für welche das genug ist.

Nur in der Jugend ist man wahrer Weltbürger; die besten unter den Alten sind nur Erdenbürger. Auch ich war jung; aber seit ich das Land der Phantasie verlassen, seit ich Deutschland bewohne, habe ich die entsetzlichste Langeweile. Die Stille hier macht mich krank, die Enge macht mich wund. Ich liebe kein Sologeräusch. Auch wenn Paganini spielt, auch wenn Sie singt – ich halte es nicht lange aus. Ich will Symphonien von Beethoven oder ein Donnerwetter. Ich will keine Loge selbst für mich, auch noch so breit; aber auch keine über mir. Ich will unten sitzen, umgeben von meinem ganzen Volke. Der Wert des Lebens wird in Deutschland unter der Erde, in mitternächtlicher Stille, wie von Falschmünzern ausgeprägt. Die, welche arbeiten, genießen nicht, und die, welche genießen, die, welche im Tageslichte das Werk dunkler Angst in Umlauf setzen und geltend machen, sie arbeiten nicht. In Frankreich lebt ein Lebensfroher das Leben eines Kuriers, in Deutschland das eines Postillions, der die nämliche Station immerfort hin – und zurückmacht und dem das Glück ein armseliges Trinkgeld reicht. Freilich ist uns auch jeder Stein auf unsern zwei Meilen bekannt, und wir könnten den Weg im Schlafe machen; wir haben so viel Genie als ein Pferd. Das nennen wir gründlich sein.

Man nennt die Deutschen fromm, bescheiden, freisinnig. Aber ist man fromm, wenn man den Menschen, Gottes schönstes Werk, in Stücke zerschlägt? Ist man bescheiden, wenn man hochmütig ist? Ist man freisinnig, wenn man[824] dienstsüchtig ist? Man findet bei den Franzosen wohl auch Hochmut; aber er ist persönlich, seit dem alten Adam herabgeflucht, es ist kein Gemeindehochmut, wie bei uns; er ist nicht organisiert. Es gibt keinen Beamtenstolz, keinen Hofratsstolz, keinen Soldatenstolz, keinen Adelstolz, keinen Professorstolz, keinen Studentenstolz, keinen Kaufmannsstolz. In Paris, wie in der kleinsten deutschen Stadt, zündet sich jede Eitelkeit ihr Stümpfchen Licht an; aber der Lichtchen sind so viele, daß eine prächtige Beleuchtung daraus wird. Der Umschwung des Lebens ist dort so rasch, daß die kleinsten Erscheinungen, durch die kürzesten Zeiten getrennt, ein erhabenes Ganze bilden. So leuchtet die matt glimmende Lunte als schönes Feuerrad, wenn man sie im Kreise schwingt.

In Deutschland gibt es keine große Stadt. Von Wien ist gar nicht zu sprechen, und von Berlin nicht auf das beste. Zwar ist dort mehr Geist zusammengehäuft, als vielleicht in irgendeinem Orte der Welt; aber er wird nicht fabriziert, er kömmt nicht in den Kleinhandel, es ist nur ein Produktenhandel. Es gibt in Berlin geistreiche Beamte, geistreiche Offiziere, geistreiche Gelehrte, geistreiche Kaufleute; aber es gibt kein geistreiches Gesamtvolk. Das gesellige Leben ist dort ein Viktualienmarkt, wo alles gut, frisch, aber nur roh zu haben ist: Äpfel, Kartoffeln, Brot, auch schöne Blumen; aber das Herz soll kein Markt sein, durch die Adern der Gesellschaft sollen keine Kartoffeln rollen, sondern Blut soll fließen, worin alles aufgelöst ist und worin man Kartoffeln und Ananas, Bier und Champagner, Witz und Dummheit nicht mehr unterscheiden kann. Der gesellige Umgang soll demokratisch sein, keine Empfindung, kein Gedanke soll vorherrschen; sondern alle Empfindungen und alle Gedanken sollen an die Reihe kommen. Und in der gesellschaftlichen Unterhaltung muß es einen Mittelpunkt geben, ein Etwas, von dem alle sprechen, weil es[825] allen wichtig ist und das allen wichtig zu sein auch verdient. Der König ist gut, die Prinzen sind angenehm, das Theater ist schön, Rebhühner sind köstlich; aber immer vom Könige sprechen, immer von den Prinzen, immer vom Theater, toujours perdrix – man wird es überdrüssig.

Wenn in Deutschland selbst die großen Städte kleinstädtisch sind, so muß man, den Geist der kleinen zu bezeichnen, erst ein neues Wort erfinden. Wie in England die Teilung der Arbeiten, ist bei uns die Teilung der Vergnügungen auf das Äußerste getrieben. Man amüsiert sich homöopathisch: in einen Kübel Langeweile kömmt ein Tröpfchen Zeitvertreib. Eigentlich besitzt jede Stadt alles, was man braucht, eine angenehme Geselligkeit, einen freundlichen Herd zu bilden, um den man sich nach den Mühen des Tages versammelt, dort, nachdem man sich zu Hause die Hände gewaschen, auch das Herz zu reinigen. Aber bei uns sind die Erfordernisse zu solcher Bildung getrennt und zerstreut, und mit unglaublichem Eifer und bewunderungswürdiger Beharrlichkeit sucht man die Trennungen zu unterhalten. Hier ist der Stein, dort der Stahl; hier der Zunder, dort die feuerschlagende Hand; hier das Brennholz, dort der Herd. Sie nennen das: Klubs, Kasinos, Ressourcen, Harmonien, Kollegien, Museen. Da gesellen sich die Gleichgesinnten, die Gleichbegüterten, die Gleichbeschäftigten, die Standesgenossen. Da findet jeder nur, was er soeben verlassen; da hört jeder nur das Echo seiner eignen Gesinnung; da erfahren sie nichts Neues und vergessen sie nichts Altes. Eine solche Unterhaltung ist bloß eine fortgesetzte Tagesbeschäftigung, nur mit dem Nachteile, daß sie nichts einbringt und die Zeit rein verloren geht. In diesen Klubs herrscht die Stille eines Kirchhofes. Nichts hört man als das Beingeklapper der Billardkugeln, Würfel und Dominosteine; nichts sieht man als Rauchwolken, die wie[826] Geister aus den Pfeifenköpfen steigen. Erst wenn neue Beamte gewählt oder neue Mitglieder aufgenommen werden sollen, besonders wenn die Vorgeschlagenen Gegner haben, kömmt Bewegung in den Tod, dann ist ein Leben, wie es auf dem altrömischen Forum war. So besteht jede deutsche Stadt aus funfzig kleinen Festungen, deren Besatzung auf nichts sinnt, als sich gegen die draußen zu verteidigen. Sie sterben lieber aus Mangel an Unterhaltung, als daß sie ihre Tore öffneten; denn ihr Zweck und ihr Vergnügen ist nicht die Vereinigung, sondern das Exkommunizieren. Wenn Polizeiminister, Diplomaten, Zentraluntersuchungskommissäre auf Urlaub mir versprechen wollen, bei jeder künftigen Gelegenheit artig gegen mich zu sein, so will ich ihnen etwas Wichtiges mitteilen, etwas Demagogisches. Es gibt in Deutschland einige Tausend Kasinos, und eine Million Menschen üben darin täglich ihr Wahl – und Stimmrecht. Zu welchem Zwecke? Die französische Regierung kann schon mit ihren achtzigtausend Wählern nicht fertig werden ... und so weiter. Ich habe es mit klugen Leuten zu tun, die schon wissen werden, was ich meine und was sie zu tun haben. Aber artig sein.

Wenn mechanische Kräfte von gleicher Größe mit gleicher Geschwindigkeit aufeinanderstoßen, halten sie sich wechselseitig auf und bleiben stehen. Sind aber die Kräfte oder ihre Geschwindigkeiten ungleich, treibt eine die andere fort, und alle kommen in Bewegung. So ist es auch mit Geisteskräften. Das ist das Geheimnis der Verdrüßlichkeit deutscher und der Annehmlichkeit französischer Gesellschaften. Wo nur Standesgenossen zusammenkommen, da wird immer die Langeweile präsidieren und die Dummheit das Protokoll führen. Kömmt, man als Fremder in eine deutsche Stadt und möchte den Geist der Bevölkerung kennenlernen, so ist das gar nicht zu erreichen. Man müßte erst ein Jahr lang alle Klubs, Kasinos[827] und Gesellschaften besuchen und die Wahrnehmungen addieren, um zu einem Urteile zu kommen. Und auch dann würde man sich verrechnen; denn es ist mit den geselligen Stoffen wie mit den chemischen; vereinigt bilden sie einen dritten neuen Stoff. Aber eben dieses unbekannte Dritte fürchtet man in Deutschland wie den Bösen und sucht seine Entstehung zu verhindern. Als ich in Hannover in das dortige Museum eingeführt worden, fragte ich den Sekretär, aus welchen Klassen von Bürgern die Gesellschaft bestünde? Daß die Gesellschaft klassisch sein werde, wie überall, konnte ich mir denken. Der Sekretär antwortete mir mit triumphierender Miene: »Es sind gar keine Bürger dabei, höchstens ein paar, und wir haben zwei Minister.« Das hannövrische Museum zu besuchen, hat ein Fremder nur drei Wochen das Recht. Ich kam aus Versehen einen Tag länger, was doch verzeihlich war, da schwangere Weiber sich in ihrer weit wichtigern Rechnung so oft irren. Man warf mich zwar nicht gleich zur Türe hinaus; aber man gab mir brieflich zu verstehen, man würde mich, wenn ich wiederkäme, mit Schmerz zur Türe hinauswerfen; die eingeführte Ordnung erfordere, daß man – grob sei. Die Ordnung! Ach und Weh über die Nomo – manie der Deutschen. Man sollte diese lebendigen Corpora juris alle in Schweinsleder kleiden.

Auf meiner Reise nach Hannover blieb ich einen Tag in Braunschweig. Aus meinem Zimmer im Gasthofe konnte ich durch das Fenster eines kleinen Saales sehen, der menschenleer war und worin auf einem grünen Tische viele Zeitungen lagen. Ich schmachtete sehr nach der Frankfurter Didaskalia und sagte dem Kellner, er möchte mich in das Lesezimmer führen. Dieser antwortete, das ging nicht an, das Zimmer wäre zugeschlossen, und es wäre eine geschlossene Gesellschaft. Die Zeit wurde mir lang, es war ein schöner Tag, und ich fragte, wohin[828] die Leute spazieren gingen. Man wies mich in Bartels Garten. Ich ging in Bartels Garten. Bartels Garten gefiel mir. Rechts war ein großer Saal, dessen Türe offen stand; ich trat hinein. Viele geputzte und schöne Damen waren da versammelt, und ein Tisch war gedeckt für mehr als hundert Personen. Ich nahm ein Messer, spießte zum Zeichen der Besitzergreifung des Gedeckes das darauf – liegende Milchbrot lotrecht an und bestellte provisorisch einen Schoppen Médoc beim Kellner. Einige alte Weiber warfen mir lange durchdringende Blicke zu. Ich lächelte, denn ich dachte, sie wollten mich agacieren; aber sie waren ganz unschuldig. Der Kellner bemerkte mir mit nordischer Artigkeit, das wäre ein bestelltes Essen und eine geschlossene Gesellschaft. Ich warf mich zum Saale hinaus. Gegenüber links war eine Reihe anderer Zimmer, worin viele Herren Tabak rauchten, Billard und Kegel spielten und andere deutsche Vergnügungen trieben. Ich wollte hineintreten, als ich an der Türe einen Zettel bemerkte, worauf mit großen Buchstaben vermietet geschrieben stand. Und das nennt man einen öffentlichen Garten. Ich setzte mich unter den Bäumen, wo noch sechs bis acht Gäste saßen, wahrscheinlich exkommunizierte wie ich. Bei dieser Gelegenheit machte ich von meiner gewohnten Lebensart eine fromme und lobenswerte Ausnahme. Sonst pflege ich täglich nur morgens und abends zu beten: Hole euch der Teufel alle miteinander! Aber in Bartels Garten hielt ich dieses Gebet auch nachmittags zum zweiten und vorletzten Male, am nämlichen Tage. Ich zahlte meine Bierkaltschale, sagte: Hole euch der Teufel alle miteinander! und eilte voller Zorn hinaus. Bäume sehe ich auf der Landstraße genug; ich war gekommen, Menschen zu sehen, und finde sie alle geschlossen wie die Spitzbuben.

Auf dieser nämlichen Reise übernachtete ich in Eimbeck, einem Städtchen zwischen Minden und Hannover.[829] O ihr armen Eimbecker, wenn ihr wüßtet, welch eine greuliche Missetat ich damals gegen euch verübt, ihr würdet jammern, daß sich das Straßenpflaster erbarmte! Am 15. September 1828 bin ich nicht bloß in euerem Kasino gewesen, ohne Mitglied oder eingeführt zu sein, sondern ich habe auch darin geschlafen und habe mit dem Allerheiligsten, was sich in einem Kasino nur findet, einen sträflichen Unfug getrieben. Ich kehrte in den Kronprinz ein. Der Kronprinz schien gut wie die meisten Kronprinzen, doch hielt er, was er versprochen. Man schlug mein Bett in einem großen Saale auf. Das Mädchen erklärte mir auf meine Verwunderung: alle Zimmer wäre besetzt, dieses wäre der Kasinosaal, und im Sommer versammelten sich die Herren vor der Stadt in einem Garten. Ich ging im Saale auf und ab, und als Ehrenmitglied des Kasinos hielt ich es für Pflicht, stark zu rauchen. Auf dem Tische stand ein Gehäuse von grün lackiertem Blech, das ich anfänglich für einen Vogelbauer hielt, bei näherer Untersuchung aber als das Stimmgehäuse des Kasinos erkannte. Es war sehr zierlich und hatte die Form eines Gartenhauses. Auf dem Giebel des Daches stand statt der Wetterfahne eine dicke goldne Flamme. Im oberen Stocke war ein rundes Fenster, ein Oeil de boeuf, so groß, daß man die Hand hinein – strecken konnte. Aus diesem Loche führten zwei verschiedene Gänge in zwei Schubladen, die im untern Geschosse waren und die Haustüre vorstellten. Über der einen Schublade stand mit goldnen Buchstaben Ja, über der andern Nein geschrieben. Ich untersuchte die Schubladen und – was fand ich? Die guten Eimbecker werden schändlich betrogen und ahnden es nicht. Beide Schubladen stehen hinten durch ein geheimes Loch in Verbindung, so daß der Stimmsammler, wenn er die Hand in die Schublade bringt, die Stimmkugeln herausziehen, unbemerkt jede Kugel aus Ja in Nein und aus[830] Nein in Ja werfen kann. Hierdurch wird die Stimmfreiheit trügerisch, und der Kasinopräfekt hat die Wahlen ganz in seiner Gewalt. Im Eimbecker Kasino wird aber nicht mit Kugeln gestimmt, sondern mit hölzernen Eicheln, vom Posamentier mit grüner Seide überzogen. Ich steckte eine von den Eicheln ein, sie mit auf Reisen zu nehmen. Die Nacht schlief ich sehr unruhig; ich fürchtete, der Geist des beleidigten Gesetzes würde vor mein Bett kommen und mich erwürgen. Die gestohlene Eichel ließ ich in Hamburg auf eine grüne seidene Mütze nähen, welche Mütze ich ein Jahr später, da sie alt geworden war, einem Kutscher in Mainz schenkte. Wie schauerlich sind die Wege des Schicksals! Eine Stimmeichel aus dem Kasion von Eimbeck auf der Nachtmütze eines Mainzer Lohnkutschers! Und der Mensch jammert, daß er sterblich ist?


Giace l'alta Cartago, a pena i segni

De l'alte sue ruine il lido serba.

Muoiono le città, muoiono i regni,

Copre i fasti e le pompe arena ed erba;

E l'uom d'esser mortal par che si sdegni?

O nostra mente cupida e superba


Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 2, Düsseldorf 1964, S. 821-831.
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