V.

[781] Frankfurt, den 4. Mai


Schiller wünscht die Chronologie von Goethes Werken zu kennen, um daraus zu sehen, wie sich der Dichter entwickelt habe, welchen Weg sein Geist gegangen sei. Er spricht von dessen analytischer Periode. Ihm wird die gebetene Belehrung, und darauf anatomiert er seinen hohen Gönner kalt wie ein Prosektor, aber bei lebendigem Leibe, und hält ihm, unter dem Schneiden, Vorlesungen über seinen wundervollen Bau. Goethe verzieht[781] keine Miene dabei und erträgt das alles, als ginge es ihn selbst nichts an. Er schreibt seinem Zergliederer:

»Zu meinem Geburtstage, der mir diese Woche erscheint, hätte mir kein angenehmeres Geschenk werden können als Ihr Brief, in welchem Sie mit freundschaftlicher Hand die Summe meiner Existenz ziehen.« Und jetzt bittet er Schiller, ihn auch mit dem Gange seines Geistes bekannt zu machen. Das alles ist um aus der Haut zu fahren! Freilich hat das Genie seine Geheimnisse, die wir anderen nicht kennen, noch ahnden. Aber ich hätte es nicht gedacht, daß es Art des Genies wäre, so sich selbst zu beobachten, so sich selbst nachzugehen auf allen Wegen, von der Laufbank bis zur Krücke. Ich meinte, das wahre Genie sei ein Kind, das gar nicht wisse, was es tut, gar nicht wisse, wie reich und glücklich es ist. Schiller und Goethe sprechen so oft von dem Wie und Warum, daß sie das Was darüber vergessen. Als Gott die Welt erschuf, da wußte er sicher nicht so deutlich das Wie und Warum, als es Goethe weiß von seinen eigenen Werken. Wer göttlichen Geistes voll, wer, hineingezogen in den Kreis himmlischer Gedanken, sich für Gott den Sohn hält – weicht auch die feste Erde unter seinen Schritten –, der mag immer gesund sein, nur verzückt ist er. Aber für Gott den Vater? Nein. Das ist Hochmut in seinem Falle, das ist Blödsinn. Nichts ist beleidigender für den Leser als eine gewisse Ruhe der schriftstellerischen Darstellung; denn sie setzt entweder Gleichgültigkeit oder Gewißheit zu gestalten voraus. So mit dürrem Ernste von sich selbst zu reden, ohne Eigenliebe, ohne Wärme, ohne Kindlichkeit, das scheint mir – ich mag das rechte Wort nicht finden. Wie ganz anders Voltaire! Seine Eitelkeit macht uns ihm gewogen. Wir freuen uns, daß ein Mann von so hohem Geiste um unser Urteil zittert, uns schmeichelt, zu gewinnen sucht.

Die Liebe hat die Briefpost erfunden, der Handel benutzt[782] sie. Schiller und Goethe benutzen sich als Bücher; es ist eine didaktische Freundschaft, ein wechselseitiger Unterricht zwischen ihnen. Unsere beiden Dichter haben eigentlich ganz verschiedene Mutter sprachen. Freilich versteht jeder auch die des andern, soviel man sie aus Buch und Umgang lernen kann; aber Goethe macht sich's wie ein Franzose immer bequem und redet mit Schiller seine eigene Sprache, und Schiller, als gefälliger Deutscher, spricht mit dem Ausländer seine ausländische. Von ihrer Freundschaft halte ich nicht viel. Sie kommen mir vor wie der Fuchs und der Storch, die sich bewirten: der Gast geht hungrig vom Tische, der Wirt, übersatt, lacht im stillen. Doch kommt Storch Schiller besser dabei weg, als Fuchs Goethe. Ersterer kann in Goethes Schüssel sich wenigstens seinen spitzen idealen Schnabel netzen; Goethe aber, mit seiner breiten realistischen Schnauze, kann gar nichts aus Schillers Flasche bringen. Goethe schreibt: »Ich bin jetzt weder zu Großem noch zu Kleinem nütze und lese nur indessen, um mich im Guten zu erhalten, den Herodot und Thukydides, an denen ich zum ersten Male eine ganz reine Freude habe, weil ich sie nur ihrer Form und nicht ihres Inhalts wegen lese«. Bei den Göttern! Das ist ein Egoist, wie nicht noch einer! Goethe ummauert nicht bloß sich, daß ihn die Welt nicht überlaufe; er zerstückelt auch die Welt in lauter Ichheiten und sperrt jede besonders ein, daß sie nicht heraus könne, ihn nicht berühre, ehe er es haben will. Hätte er die Welt geschaffen, er hätte alle Steine in Schubfächer gelegt, sie gehörig zu schematisieren; hätte allen Tieren nur leere Felle gegeben, daß sie Liebhaber ausstopfen; hätte jede Landschaft in einen Rahmen gesperrt, daß es ein Gemälde werde, und jede Blume in einen Topf gesetzt, sie auf den Tisch zu stellen. Was in der Tat wäre auch nebulistischer, als das unleidliche Durcheinanderschwimmen auf einer Wiese! Goethes[783] Hofleute bewundern das und nennen es Sachdenklichkeit; ich schlichter Bürger bemitleide das und nenne es Schwachdenklichkeit. Alle Empfindungen fürchtet er als wilde mutwillige Bestien und sperrt sie, ihrer Meister zu bleiben, in den metrischen Käfig ein. Er gesteht es selbst in einem Kapitel der Wahrheit aus seinem Leben, daß ihn in der Jugend jedes Gefühl gequält habe, bis er ein Gedicht daraus gemacht und so es los geworden sei. Bewahre der gute Gott mich und meine Freunde, daß wir nicht jeden Zug des Herzens als ungesunde Zugluft scheuen! Lieber nicht leben, als solch einer hypochondrisch – ängstlichen Seelendiät gehorchen! Tausendmal lieber krank sein!

Goethe diktiert seine Briefe auch aus Objektivsucht. Er fürchtet, wenn er selbst schriebe, es möchte etwas von seinem Subjekte am Objekte hängen bleiben, und er fürchtet Sympathie wie ein Gespenst. Er lebt nur in den Augen: wo kein Licht, ist ihm der Tod. Das Licht zu schützen, umschattet er es. Was ist Form? Der Tod der Ewigkeit, die Gestalt Gottes ... Ist Goethe glücklich zu nennen? Er ist so arm und so allein! Ihm kommt jeder Wunsch erst nach dessen Erfüllung, er begehrt nur, was er schon besitzt. Aber die Welt ist groß und der Mensch ist klein; er kann nicht alles fassen. Nur die Sehnsucht macht reich, nur die Religion, die, uns der Welt gebend, uns die Welt gibt, tut genug. Ich möchte nicht Goethe sein; er glaubt nichts, nicht einmal, was er weiß.

Ein Narr im Gesellschafter oder in einem andern Blatte dieser Familie ließ einmal mit großen Buchstaben drucken: Goethe hat sich über die französische Revolution ausgesprochen. Es war ein Trompetenschall, daß man meinte, ein König würde kommen, und es kam ein Hanswurst. Und doch wäre Goethe, gerade wegen seiner falschen Naturphilosophie, der rechte Mann, die französische Revolution gehörig aufzufassen und[784] darzustellen. Aber er haßte die Freiheit so sehr, daß ihn selbst seine geliebte Notwendigkeit erbittert, sobald sie ein freundliches Wort für die Freiheit spricht. Er schreibt an Schiller: »Ich bin über des Soulavie mémoires historiques et politiques du règne de Louis XVI. geraten .... Im ganzen ist es der ungeheure Anblick von Bächen und Strömen, die sich nach Naturnotwendigkeit von vielen Höhen und vielen Tälern gegeneinander stürzen und endlich das Übersteigen eines großen Flusses und eine Überschwemmung veranlassen, in der zugrunde geht, wer sie vorhergesehen hat, so gut als der sie nicht ahnete. Man sieht in dieser ungeheuren Empirie nichts als Natur und nichts von dem, was wir Philosophen gern Freiheit nennen möchten. »Goethe, als Künstler Notwendigkeit und keine Freiheit erkennend, zeigt hier eine ganz richtige Ansicht von der französischen Revolution, und ohne daß er es will und weiß, erklärt er sie nicht bloß, sondern verteidigt sie auch, die er doch sonst so hasset. Er hasset alles Werden, jede Bewegung, weil das Werdende und das Bewegte sich zu keinem Kunstwerke eignet, das er nach seiner Weise fassen und bequem genießen kann. Für den wahren Kunstphilosophen aber gibt es nicht Werdendes noch Bewegtes; denn das Werdende in jedem Punkte der Zeit, das Bewegte in jedem Punkte des Raumes, den es durchläuft, ist in diesem Punkte, und der schnelle Blick, der ein so kurzes Dasein aufzufassen vermag, wird es als Kunstwerk erkennen. Für den wahren Naturphilosophen gibt es keine Geschichte und keine Gärung; alles ist geschehen, alles fest, alles erschaffen. Aber Goethe hat den Schwindel wie ein anderer auch, nur weiß er es nicht, daß das Drehen und Schwanken in der Vorstellung liegt und nicht in dem Vorgestellten.[785]

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 2, Düsseldorf 1964, S. 781-786.
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