XXII. Die Anschlagzettel

[109] Wenn man in Paris Langeweile hat und kein Geld (doch trifft das eine seltener ein als das andere), kann man sich die Langeweile auch ohne Geld vertreiben. Zu den vielen dazu dienenden öffentlichen Unterhaltungen gehören auch die Anschlagzettel, die man ganz unentgeltlich zwar nicht benutzen, doch lesen kann. Paris hat, wie jede deutsche Stadt, seine Intelligenzblätter, petites affiches genannt; ich habe aber in einer großen Sammlung nichts Merkwürdiges weiter gefunden als ein protestantisches Dienstmädchen, das als Köchin in ein Haus zu kommen sucht, wo sie »ihrer Religion obliegen könne«. Es ist leicht zu erklären, warum die feinern Spitzbübereien und Bedürfnisse in diesen petites affiches nicht angeboten werden. Erstens, weil sie von Fremden und höhern Ständen wenig gelesen werden, und zweitens, weil sie den Anzeigenden nicht Platz genug gewähren, sich gehörig auszusprechen. Die Pariser loben ihre Waren und andere Kunsterzeugnisse niemals im Lapidarstil, und wenn sie, weil ihnen etwas gelungen, sich selbst loben, sagen sie nicht wie Cäsar: »Ich kam, sah, und siegte!« – sie sind zu bescheiden – sondern sie gebrauchen viele und große Worte und erzählen ihre Feldzüge umständlich. Die Anschlagzettel sind ihre Kommentarien. Man findet diese an hundert Häusern und Mauern, die ihnen als Sammelplätze dienen. Hier sind es aber keine Narrenhände, welche die Wände bekleben, sondern sehr kluge Leute. Sie wissen nämlich, mit wem sie es zu tun haben[109] – mit Franzosen, die mit ihren Augen nicht bloß sehen, sondern auch hören, riechen, fühlen und schmecken. Darum sind die Zettel von ungeheurer Größe. Man könnte auf manche derselben ein ganzes Quartal des Berliner Freimütigen abdrucken, man brauchte bloß die Sperre der Originalausgabe aufzuheben. Auch bedienen sie sich seit einiger Zeit der großen englischen Buchstaben von durchbrochner Arbeit, an welchen die weißen leeren Stellen in den schwarzen Balken als ägyptische Hieroglyphen rätselhaft erscheinen. Ich will einige Muster von diesen Anschlagzetteln zur Kenntnis des wißbegierigen Lesers bringen und dabei den Text mit den nötigen moralischen Anmerkungen begleiten.

Die erste Ankündigung, die ich las, fiel mir darum auf, weil sie nur auf einem Folioblatte gedruckt war; sie leuchtete durch ihre Bescheidenheit hervor. Sie bietet Schreiblustigen Plumes sans fin an, d.h. unendliche Federn, Federn, die unaufhörlich schreiben – eine in Deutschland längst bekannte Erfindung. Schriftsteller, die sich ihrer bedienen, brauchen nur dafür zu sorgen, daß ihnen die Gedanken zufließen; denn was die Tinte betrifft, so fließt diese aus einem kleinen hohlen Gefäße von Metall, das der Feder angeschraubt wird, unaufhörlich von selbst zu. So oft die Feder trocken geworden ist, gibt ihr der Schreibfinger einen leichten Druck, und dann rollt sich ein Tropfen Dinte in die Spalte hinab und erfrischt sie.

Neben diesem Zettel breitet sich ein anderer aus, der zwei Ellen feine holländische Leinwand lang ist. Die Buchstaben wechseln in allen Farben des Regenbogens ab, die schwarzen ungerechnet. Oben stehen die Worte, und zwar flammenfarbig, wie es ihr mordbrennerischer Sinn erfordert: A bas les perruques! In manchem Schweizer- und deutschen Ländchen würde das als ein Aufruf zur Empörung gegen die Behörden angesehen werden;[110] hier aber durfte man so etwas sogar unter Aufsicht der Polizei drucken lassen! Doch scheint es, daß sich die Pariser Polizei auch später eines Bessern besonnen hat; denn in einer zweiten Auflage des nämlichen Zettels heißt es nicht mehr: A bas les perruques! sondern, zwar ironischer, aber minder staatsgefährlich! Adieu les perruques! Der Perückentöter macht bekannt: »Enfin malgré l'envie, l'eau merveilleuse de Mr. Brescon triomphe. Le plus incrédule est maintenant convaincu que cette eau fait croître les cheveux sur les têtes les plus chauves, les conserve et les empêche de blanchir.« O du Haarkräusler, was hast du getan! Du hast die weißen Haare zerstört, die Schneedecke des Lebens weggezogen – woran soll man künftig Jünglinge von Greisen unterscheiden? Wo soll man Weisheit, wo Schönheit und Stärke suchen? Was soll Mädchen und Fürsten in ihrer Wahl leiten? Das hättest du alles wohl bedenken sollen, Haarkräusler! – Diesem Zettel schließt sich verwandtschaftlich folgender an: »Madame Saint-Ginet et ses Demoiselles ont l'honneur de prévenir qu'elles se chargent de teindre ou d'épiler les cheveux blancs, telle quantité qu'on en ait. Elles se transportent en ville, si les Dames le désirent.« Der gefühlvolle Leser wird schon von selbst wissen, was er hierbei zu denken hat. – Nützlicher ist die folgende Ankündigung von neuen Sparkochtöpfen, Caléfacteurs genannt. Es heißt von ihnen: »La cuisson commence par quelques centimes de combustible continue sans feu et sans soins pendant six heures, au bout desquelles le liquide d'abord bouillant ne s'est éloigné de l'ébullition que de quelques degrés.« Eine schöne Erfindung! Jetzt kommt es nur noch darauf an, daß einer etwas zu kochen habe. Der unglückliche arme Teufel aber, welchem es daran fehlt, kann sich zwar vor wie nach erhängen, erschießen, vergiften; aber ersaufen kann er sich nicht mehr in Paris. Das lehrt ein Zettel mit der Überschrift: On ne[111] peut plus se noyer! Eine neuerfundene Schwimmaschine verhindert dieses. Diese Maschine wird größer oder kleiner verfertigt, je nach der körperlichen Größe der Person, die sich ihrer bedient, so daß sie immer den fünfundzwanzigsten Teil des Körpergewichtes schwer ist. Nach diesem Verhältnisse kostet sie 30 bis 180 Franken. Leichtes Volk erhält sich also wohlfeil über dem Wasser, wichtigen Leuten aber kostet dieses viel. Auf dem festen Lande ist es gerade so.

»Gallerie métallique de la fidélite.« Was heißt das? Es wird zur Subskription auf eine Medaillensammlung eingeladen, in der alle fidelen Franzosen abgemünzt werden sollen. Da werden sie viel zu tun haben; die fidélité métallique ist gar groß in Frankreich. Der Prospektus führt zum Motto: »Le premier devoir de l'homme est la fidélité à son roi!« – wodurch auf eine feine Art zu verstehen gegeben wird, daß die Schweizer, Amerikaner und Frankfurter keine Menschen sind. – Bücheranzeigen. »L'art de choisir une femme et d'être heureux avec elle« – kostet 30 Sous. Aber »L'art de se faire aimer de son mari, à l'usage des Demoiselles à marier« – kostet 3 Franken, also das Doppelte. Ist das eheliche Glück der Männer weniger wert als das der Weiber? Oder ist die Kunst, mit Männern glücklich zu sein, eine schwerere Kunst, die sich der Lehrer teurer bezahlen läßt? Eins von beiden muß wohl der Fall sein. – Gravatiana ... Das übrige kann ich nicht lesen, der Zettel hängt zu hoch. Wahrscheinlich ein Lehrbuch über die Kunst, das Halstuch zu knüpfen. Eine der wichtigsten der freien schönen Künste! Die Sibyllinischen Bücher der Pariser Moden erzählen: Im grauen Altertume, unter Bonapartes Konsulat, wäre einst ein schöner Jüngling drei Stunden vor dem Spiegel gestanden und habe versucht, sich das Halstuch malerisch umzubinden; es sei ihm aber nicht geglückt. Endlich habe er verzweiflungsvoll die Halsbinde[112] umgeworfen und mit Tränen der Wut die Schleife gezogen. Doch im Zufall sei ein Gott gewesen. Nie früher habe die langsame Kunst so Herrliches zustande gebracht als hier der rasche Geist der Natur, und acht Sommertage lang wäre die Schleife des schönen Jünglings Regel geblieben. – Verlorne Sachen. Jemand hat zwei Dinge verloren. Erstens, einen dunkelgrünen Papagei – wer ihn zurückbringt, erhält 50 Franken zur Belohnung. Zweitens, das Miniaturporträt einer Frau, auf Elfenbein gemalt – dem ehrlichen Finder werden 10 Franken angeboten. Man ersieht daraus, daß der Eigentümer verheiratet und daß das Elfenbein teuer ist in Paris ... Ein junger Mensch »au déséspoir« hat 8000 Franken verloren – wer sie zurückbringt, erhält 2000 Franken zur Belohnung. Mit großen Buchstaben steht auf dem Zettel gedruckt: Appel à la conscience! Man hat aber wenige Beispiele, daß dieses Appellationsgericht das Urteil der ersten Instanz, welche entschieden, der Finder solle das Geld behalten, reformiert habe. Gleich nebenbei ist eine andere Bekanntmachung, die dem Finder von verlorenen 1500 Franken (in Banknoten) ganz naiv bemerkt: er brauche davon nur 1000 Franken dem Eigentümer unter Couvert zuzuschicken, die übrigen 500 Franken aber könne er für sich behalten. Es muß also in Paris doch nicht ganz an Beispielen von ehrlichen Leuten fehlen, denn sonst würde man die Druckkosten zu solchen Anschlagzetteln nicht verschwenden. Mit dem Gelde, das junge Commis oft verloren zu haben erklären, hat es aber manchmal die Bewandtnis, daß sie das Geld verspielt. Erst kürzlich wurde ein wohlgesitteter junger Mensch von seinem Prinzipal mit 50000 Franken ausgeschickt. Zufällig führt ihn sein Weg durch das Palais Royal. Der böse Geist kommt über ihn, er spielt, verliert das Geld und stürzt sich in die Seine. Über eine Naivetät der französischen Regierung konnte ich mich nicht genug[113] wundern. Neulich erschien die amtliche Statistik der Stadt Paris. Darin wird bemerkt: unter – ich weiß nicht mehr wie vielen hundert Selbstmorden, die sich im vorigen Jahre in Paris ereignet, wären 223 Folgen der Spielsucht gewesen. Und das erzählen sie selbst! Als wenn die Spielsucht wie die Schwindsucht wäre, deren Tödlichkeit man nicht verhüten könne! Sie sagen zwar: öffentliche Spielhäuser wären notwendige Übel in Paris; denn ohne sie würde heimlich gespielt werden, und dann könne die Polizei keine Aufsicht halten. Das sind aber leere Ausflüchte! Die Polizei könnte ebensogut jedes geheime Spielhaus entdecken, als sie jeden, der ihr politisch verdächtig geworden ist, ausfindig macht, wenn ihr an dem einen so viel gelegen wäre als am andern. Die Sache liegt daran: erstens zieht die Polizei jährlich fünf Millionen Spielpacht, welches Geld sie auf ihre eigentümliche edle Art verwendet. Zweitens werden die Spielhäuser als die Kloaken angesehen, wo alles schlechte Volk zusammenfließt, die also die Reinhaltung der Stadt erleichtern. Und drittens dienen die Spielhäuser der Polizei als Sklavenmärkte, wo sie ihre geheimen Agenten anwirbt und zusammenkauft.

Da finde ich unter den Windbeuteln den Namen eines ehrlichen Deutschen. Was will der? Er bietet seinen Unterricht in der deutschen, englischen und italienischen Sprache an; die Stunde zu 6 Franken. Den Schülern, welche nach Verlauf von einigen Monaten finden werden, daß sie nichts bei ihm gelernt, will er ihr Geld zurückgeben. Deutsche Treue! – Madame Garnerin steigt den nächsten Sonntag in einem Luftballon auf. Man muß das Schauspiel selbst mit ansehen; am Zettel ist nur das merkwürdig, daß die ersten Plätze 40 Franken die Person kosten. – Dort das Riesenblatt mit einem großen Holzschnitte am Kopfe? Es ist ein Kapaun am Bratspieß ... Nein, es ist ein ungeheures Ochsenauge, von[114] einem Messer durchstochen, welches eine Starnadel vorstellen soll. Ein médecin oculiste bietet seine Dienste an. Gut, daß Blinde den Zettel nicht sehen können; das Schwert im Auge würde sie abschrecken. Der Okulist bemerkt schlau: »Rien sans lui!« Er führt mit Namen und Wohnungen eine Liste der Personen an, die er operiert; aber der Kürze wegen erwähnt er nur die geheilten, die andern nicht. Er handelt auch mit allerlei kleinen optischen Waren und gibt nicht bloß die Gläser, sondern auch die Augen dazu her. Er hatte eine »Collection considérable d'yeux artificiels humains, qui imitent parfaitement la nature.« Wer sie in Dutzenden kauft, erhält sie wohlfeiler. Da der Okulist auch Tränenfisteln heilt, so gehört seine Ankündigung in das Fach der romantischen Literatur. Er wohnt sehr malerisch in der Rue de la monnaie. – Ein Zettel in englischer Sprache lautet wie folgt: »Should the following lines be seen by the young Gentleman, who was drinking his Café in the Palais-Royal on sunday the 20. July last, he is most earnestly requested to come to the hôtel de Londres Nr. 15 Rue de l'Echiquier, where he will see that relation, who so much astonished him on passing by at that time. Paris, 4. Aug.« Sehr rätselhaft! Ist es eine Männer- oder eine Weiberstimme? Ist es eine Herausforderung? Ist es ein Sirenenlied? Ist ein Engländer unglücklicherweise seiner Frau begegnet, die ihm von Douvres nachgeschifft, und ist er schnell und erschrocken an ihr vorbeigeschlüpft? Doch, was es auch sei, konnte eine gefundene Stricknadel dem Kotzebue Stoff zu einem Schauspiele in fünf Akten geben, so ist diese Anzeige mehr als genug, einen Roman in drei Bänden daraus zu machen. – Auch an Zetteln in italienischer Sprache fehlt es nicht; aber deutsche Ankündigungen habe ich noch nicht gesehen. Die einzige öffentliche deutsche Inschrift, die mir in Paris vorgekommen, steht in goldnen Buchstaben an der Glastüre eines[115] Kaffeehaus und lautet: Deutsches Frühstück. Wahrscheinlich ist dieses Frühstück aus den ewig denkwürdigen Jahren 1814 und 1815 übriggeblieben. Worin es bestehen mag, weiß ich nicht; vielleicht in Biersuppe und im Allgemeinen Anzeiger.

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 2, Düsseldorf 1964, S. 109-116.
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Gesammelte Schriften: Band 3. Schilderungen aus Paris (1822 und 1823)

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