IX. Le Roi des Aulnes
Élégie

[41] Sollte der Setzer ein paar Buchstaben in der Überschrift glücklicherweise vergessen haben, so wird der Herr Korrektor diese Scharade der klugen Nemesis verstehen und[41] den Druckfehler gewiß nicht verbessern wollen... »Das ist eine kleinliche und heimtückische Kritik!« – denkt vielleicht der edelmütige Leser. Freilich ist sie das; aber in Geisteskämpfen auch ist die Art der Guerillas die wirksamste, wenn sich ein Volk gegen ungerechte Angriffe zu verteidigen hat. Deutsche, die ihr Vaterland mit Verstand lieben, müssen es wissen, daß weniger die Leipziger Schlacht als der Leipziger Meßkatalog uns über die Franzosen erhebt. Es ist wahr: so ganz schlechte und so viele schlechte Bücher wie in Deutschland werden in Frankreich nicht geschrieben. Es ist noch wahrer, daß die Franzosen weit mehr große und viel größere Schriftsteller als die Deutschen haben. Beneiden wir sie aber nicht um ihre Vorzüge, sie sind zu teuer bezahlt. Wir Deutschen leben in einer literarischen Republik: wir sind geistesfreie Menschen; bei uns darf jeder schreiben, und so schreibt nun auch jeder, wie ihm die Natur die Feder geschnitten hat. Das ist freilich Mißbrauch der Freiheit; aber wo Freiheit mißbraucht werden darf, da ist auch ihr Gebrauch verstattet. Die Franzosen aber siechen in einer literarischen Aristokratie; sie sind geisteigene Menschen; sie kriechen vor allen Regeln, und als literarische Höflinge denken, wollen und tun sie nichts anderes, als was die gnädigen großen Herren ihrer Literatur gedacht, gewollt und getan. Die Deutschen sind Protestanten, die Franzosen sind Katholiken in Literatur und Kunst. Da nun bürgerliche Freiheit mit einer alleinseligmachenden Kunst und Wissenschaft nicht zu vereinen ist, so muß die politische Revolution der Franzosen auch eine literarische zur Folge haben, und diese Veränderung fängt schon an sich zu zeigen. Die literarische französische Welt teilt sich in zwei Parteien, deren eine mit Wort und Tat für die klassische, deren andere für die romantische Literatur streitet. Klassisch nennen sie die altherkömmliche, legitime, vertragsmäßige Literatur; romantisch[42] nennen sie jeden Schriftsteller, der seinen eigenen Weg geht, sich um Gesetz und Herkommen nicht viel bekümmert und zuweilen ein Wort anders gebraucht und lauter ausspricht, als es im literarischen Oeil-de-boeuf üblich war. Aber sowohl die Anhänger als die Gegner der romantischen Literatur wissen eigentlich gar nicht, worin die Natur des Romantischen besteht. Wie die Griechen alle Ausländer Barbaren nannten, so nennen die Franzosen alle Literiatur, die nicht französisch ist, romantisch, und da sie nichts, was nicht französisch ist, verstehen, so ist ihnen alles, was sie nicht verstehen, romantisch. Es fehlt den Herzen und Köpfen der Franzosen gewiß nicht an Geräumigkeit, aber sie haben kein Hoftor, sie haben nur eine Haustüre, durch welche nichts Großes eintreten kann; was daher die Mannshöhe überragt, ist ihnen romantisch. Da sie die Wolken für den Himmel ansehen, verschmähen sie oft den Himmel als Wolkendunst; und weil sie in jedem Brunnen mit Schaudern eine unendliche Tiefe erblicken, die zu den Antipoden führt, sehen sie jede Tiefe für einen Brunnen an, in den hinabzusteigen höchst lächerlich und gefährlich wäre, und aus dem man ja viel bequemer, so oft man Durst hat, einen Eimer heraufziehen kann. Ihr Herz schlägt nur bei der klassischen Witterung der Monate September und Mai behaglich; steht aber die Empfindung einige Grad zu weit von dem Gefrierpunkte ab, dann heizen sie ein oder trinken Limonade und verwünschen das romantische Wetter. Den Humor, diese wilde und launische Demokratie der Gedanken und Empfindungen – das in der Breite, was die Romantik in der Höhe und Tiefe ist – kennen die Franzosen so wenig, daß sie ihren eigenen Rabelais nicht begreifen und ihn für einen Satiriker halten. Die Magnetnadel ihrer Empfindung geht haarscharf nach Norden, und sehen sie sie abweichen oder gar oszillieren, erheben sie ein Jammergeschrei,[43] als nahe der Untergang der Welt heran. Diese literarische Aristokratie, da sie, wie schon oben bemerkt, der Entwickelung der bürgerlichen Freiheit hinderlich ist, mußte den Franzosen endlich drückend werden, und manche ihrer jüngern Schriftsteller werfen die Fesseln ab und suchen eine Freistätte im Lande der Romantik. Hierbei zeigt sich aber auch wieder eine höchst seltsame Erscheinung. Die Ultras nämlich suchen die romantische Literatur aufzubringen und befördern hierdurch den Protestantismus der Wissenschaft und Kunst; die Liberalen hingegen suchen den alten blinden Glauben an die klassische Literatur in Achtung zu erhalten; denn beide politische Parteien kennen zwar ihr Ziel, aber nicht ihren Weg. Den Ultras gefällt die romantische Literatur, weil sie glauben, die in romantischen Dichtungen zuweilen vorkommenden Nebel, Gespenster, Kreuze und Jammer wären das Wesentliche dabei, und das alles sei dienlich, das Volk furchtsam, abergläubisch, verliebt und dumm zu machen. Aus denselben Gründen sind die Liberalen der romantischen Literatur abgeneigt. Man erkennt hierin auch wieder, daß das Schicksal ein kluger Minister ist und das Schaukelsystem so gut versteht als einer. Es weiß die Parteien in Frankreich auf Umwegen so zu leiten, daß jede Partei die Absicht der feindlichen befördert und dadurch die Ausschweifung ihrer eignen Leidenschaftlichkeit wieder gut macht. Ein Deutscher aber, der in Frankreich solches Treiben mit ansieht und wahrnimmt, wie so höchst geistreiche Menschen, als die Franzosen, in ihrer Volkstümlichkeit so tief verstrickt sind, daß sie nicht begreifen, was in Deutschland jeder Schuljunge versteht, – lernt endlich wählen und will lieber, wie deutscher Geist, nackt und barfuß sein, wenn auch zuweilen etwas frieren, als wie französischer in engen Schuhen und Kleidern zusammengedrückt sein und glänzen. Freiheit ist das Schönste und Höchste in Leben[44] und Kunst. Möge das deutsche Vaterland sich diese Freiheit um jeden Preis bewahren! Möge es stolz auf die Ungerechtigkeit sein, mit der es seinen Goethe zu behandeln beginnt; möge es sich des Undanks rühmen, welcher den, der ihn erleidet, wie die, welche ihn begehen, auf gleiche Weise ehrt. Daß Freiheit in deutscher Kunst und Wissenschaft sich erhalte, mußte der literarische Ostrazismus gegen Goethe endlich verhängt werden. Ihn tadeln, heißt ihn achten.

Das Kapitel von der französischen Unromantik auszuführen, ist eigentlich hier nicht der rechte Ort; es wird sich bald eine schicklichere Gelegenheit dazu finden. Ich habe es nur für anständig gehalten, die Erlkönigliche Majestät mit einigem Gefolge zu umgeben. Nämlich le roi des aulnes, auf Deutsch der König der Erlen, soll soviel heißen als der Erlkönig, obzwar zwischen einem König der Erlen und einem Erlkönig ein großer Unterschied stattfindet. Und zwar soll es heißen, den Goetheschen Erlkönig. Den haben sie in einer Pariser periodischen Zeitschrift neulich übersetzt und sind dabei so echt französisch verfahren, daß es den deutschen Lesern gewiß Spaß machen wird, etwas Näheres davon zu erfahren. Der Übersetzer hat nämlich das Gedicht filtriert, es von allen romantischen Schmutzteilchen befreit, so daß das reinste klassische Wasser übriggeblieben ist. Übriggeblieben ist eigentlich der rechte Ausdruck nicht; denn trotz der Filtration hat sich die Masse des Gedichtes vermehrt, so daß die Übersetzung noch einmal so groß als das Original ist. Hören wir:


Qui passe donc si tard à travers la vallée?

C'est un vieux châtelain qui, sur un coursier noir,

Un enfant dans ses bras, suit la route isolée.

Il se plaint de la nuit qui voile son manoir;

Et l'enfant (ah! pourquoi troubler ces cœurs novices?)[45]

Se rappelle en tremblant ces récits fabuleux

Qu'aux lueurs de la lampe, au vague effroi propices

Le soir, près des foyers, racontent les nourrices.

Il croit voir ... il a vu, sous les bois nébuleux,

Un de ces vains esprits, de ces antiques gnômes,

Qui, railleurs et cruels, doux et flatteurs fantômes,

Se plaisent à troubler le songe des pasteurs:

Soit qu'ils poussent leur rire à de courts intervalles,

S'attachent aux longs crins des errantes cavalles,

Ou prêtent à la nuit des rayons imposteurs.


Voilant de tous ses pas les riants artifices

Le monstre, au bord des précipices.

Marche, sans les courber, sur la cime des fleurs,

Et de sa robe aux sept couleurs

Il a deployé les caprices,

A l'enfant qu'il attire il ouvre un frais chemin,

Fait briller sa couronne et sourit; dans sa main

Flotte le blanc troëne et les nénuphars jaunes.

»Mon père, dit l'enfant, vois tu le roi des Aulnes?«


Jetzt folgt der eigentliche dramatische Teil des Gedichts, wobei Goethes Gediegenheit gehörig paraphrasiert und in schöner breiter Scheidemünze aufgezählt wird. Endlich liegt das Kind in den letzten Zügen und spricht:


»Mon père! ... il m'a saisi, je souffre ... ah! sauve-moi!«


Und nun der Hauptspaß. Es heißt ferner und bis zum Ende wie folgt


Le châtelain frissonne: et l'enfant, plein d'effroi,

Se serre sur son cœur et demeure immobile.


Mais le vieux châtelain, pressant son coursier noir,

(Et l'enfant dans ses bras), regagne son manoir.[46]

Voilà les hautes tours et la porte propice.

Le pont mouvant s'abaisse; il entre; et la nourrice

Apporte sur le seuil un vacillant flambeau.

Le père avec tendresse écarte son manteau.

»Soyez donc plus discrète, il m'a durant la route,

Isaure, entretenu des esprits qu'il redoute;

Il criait dans mes bras, mais maintenant il dort;

Reprenez votre enfant – Oh! dit-elle, il est mort!«


Das ist echt französische angewandte Romantik, und Jupiter, der in einer Kotzebueschen Posse sich an seinen Blitzen die Tobakspfeife anzündet, hat sich nicht hausbackner gezeigt! ... Am Schlusse des Gedichts steht die Bemerkung: »Ce beau poème élégiaque, très peu connu, est de Mr. H. Delatouche, un des hommes les plus spirituels, et un des poëtes les plus distingués de notre temps.« Goethe mag sich dafür bedanken, daß man seiner bei dieser Gelegenheit nicht gedacht.

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 2, Düsseldorf 1964, S. 41-47.
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