Die Pflicht der Selbsterziehung

[167] Vor die Trefflichkeit setzten den Schweiß die

unsterblichen Götter.

Hesiod.


Der ist gut vor Allen, der selbst jedwedes

erkennet,

Sinnend im Geist, was künftig ihm Besserung

schaffe zum End' aus!

Hesiod.


Es denkt gewiß heutigen Tages kein Gebildeter mehr daran, die Behauptung zu verneinen, daß die ganze Fortentwicklung der Menschheit leidiglich auf deren Erziehung und Bildung beruht. Dies ist keine neue Wahrheit, aber in ihrer ganzen Bedeutung ist sie wohl noch zu keiner Zeit so tief aufgefaßt und begriffen worden und so wird gewiß auch das Wie, welches dem höheren Ziele entgegenführt, von allen Seiten stets deutlicher erkannt und entwickelt werden.

Auf den Lykurgischen Standpunkt, der ein ganzes Volk nach der Schablone erziehen will, werden wir wohl hoffentlich nie mehr zurückkommen und sicherlich ist nur jene Ansicht unserer Zeit und der fortgeschrittenen, sittlichen Entwicklung würdig, welche stets bei der Erziehung die Individualität des Einzelnen im Auge behält.[167]

Darum muß aber auch sowohl die öffentliche, als die häusliche Erziehung zuerst darauf hinwirken, daß der Einzelne sich selbst als Individuum schätzen lerne und daß der Trieb in ihm lebendig wird, an seiner Entwicklung thätig mitzuwirken. –


Sehen wir uns in der Geschichte der alten und neuen Zeit um, wo finden wir ein schöneres Vorbild der Volkserziehung, als in der Atheniensischen, die jedem Einzelnen die Möglichkeit einer freien, geistigen Entwicklung darbot? Wenn sich dort auf einem kleinen Fleck Erde Alles vereinigt fand, was die griechische Kunst Großes leistete, wo die Philosophie in offenen Schulen gelehrt wurde und das Spiel der Bühne ohne Unterschied allen Bürgern zu Theil wurde – wenn sich dort also eine Bildung geltend machte, von der wir heute kein Beispiel mehr haben und nach deren Ideal Dichter und Gelehrte aller folgenden Zeiten die Hände verlangend ausstreckten, so ist doch nicht zu verkennen, daß unsere Zeit so viele Bildungsmittel fast aller Orten aufgehäuft hat, um den Meisten, wenn sie ernstlich wollen, die Möglichkeit der Selbstbildung zu gewährleisten. Daß wir als deren schönste Frucht wiederum nur die höhere, moralische Empfänglichkeit, die reinste Humanität begrüßen können, versteht sich von selbst. –


So wie also jeder Einsichtsvolle den Fortschritt der Menschheit in der Entwicklung des Menschen sieht, kann er wohl nicht anders, als auch umgekehrt, die Verbrechen, die Laster und Fehler, welche die Menschheit beflecken, nicht in deren ursprünglicher Verderbtheit, in einer angeborenen Sucht zum Bösen zu erblicken, sondern er wird sie lediglich in individuellen Anlagen und was noch mehr ist, in den Verhältnissen suchen, unter[168] deren Einfluß sich entweder der Einzelne, oder ganze Schichten einer Bevölkerung entwickelt haben.

Verdammung des Fehlers, aber objective Beurtheilung des Fehlenden, nach Maßgabe der Umstände und Verhältnisse, unter denen seine Individualität sich entwickelte, dieses muß nach unserer bescheidenen Ansicht, heute das Programm jedes ächten Anhängers der Humanität sein. Daß man diesen Grundsatz häufig mißdeutet und verkennt, daß man eine Verherrlichung des Schlechten überhaupt darin erkennen will, ja, daß auch andererseits Manche und nicht selten die Poesie in ihren Werken das Verbrechen mit dem Verbrecher zu adeln sucht, selbst diese Abirrung kann ihm von seiner inneren Wahrheit und Trefflichkeit nichts rauben. Die concrete Erscheinung hat ohne Zweifel das Recht, auch concret beurtheilt zu werden, ehe man ein Verdammungsurtheil über sie ausspricht. Es muß sich natürlicherweise dieser Grundsatz auf alle Verhältnisse und Beziehungen des Lebens anwenden lassen; es gilt eben so wohl für die kleinsten Fehler als die gröbsten Vergehungen, und die Ersteren sind es eigentlich, von welchen wir hier zu reden haben.

Wir schreiben für und über die Familie und es ist hier unsere Aufgabe zu zeigen, wie neben der nothwendigen Toleranz der Einzelnen unter einander, sich der sittliche Ernst des Individuums, der Trieb nach seiner eigenen, höheren Fortentwicklung geltend machen muß. Denn es gibt kleinere Vergehen, kleinere Fehler, die in ihrer täglichen Wiederholung oft grausamere und abscheulichere Folgen nach sich ziehen, als ein einfacher Todtschlag, und wir haben die größten Verbrecher und Verbrecherinnen nicht immer auf dem Schaffot oder in den Jahrbüchern der Criminalisten zu suchen. –[169]

Sei uns aber das Innere eines Menschen und seine Handlungsweise noch so unklar und dunkel, wir werden beide verstehen lernen, sobald wir erfahren, unter welchen Verhältnissen und Beziehungen es sich entwickelte. Tout savoir, c'est tout comprendre, sagt ein geistreicher Franzose, und gewiß, könnten wir genau den Gang verfolgen, welchen die Erziehung von tausenden sogenannt »Wohlerzogenen« genommen, wir würden uns weit öfter in dem Fall sehen, beweinen und beklagen zu müssen, als daß wir verdammen dürfen.

Aber ist damit der Tugend und der Sittlichkeit Genüge geleistet? Sind beide damit zufrieden gestellt, wenn wir uns fast täglich genöthigt sehen, die alte Entschuldigung zu wiederholen: »Was konnte aus dem Menschen Besseres werden bei dieser Erziehung, diesem Beispiel, bei so vieler Vernachlässigung, das Gute zu wecken und zu pflegen?« Das aber ist die wahre Erbsünde, welche sich fortpflanzt von Geschlecht zu Geschlecht, daß es noch zu häufig mißkannt wird, was man der heranwachsenden Generation schuldig ist. Man glaubt gewöhnlich, es sei genug, die Kinder von dem Anblick grober Laster entfernt zu halten; als ob es genügen könnte, sie allein vor Diebstahl, Raub und Mord sicher zu stellen. Der tägliche Anblick des Leichtsinns, des Zorns, der Koketterie, der Unordnung, der Vergnügungssucht und der Oberflächlichkeit, wirken sie nicht gleichfalls demoralisirend auf das jugendliche Gemüth? Was nützen die schönsten moralischen Reden und Lehren der Eltern und Erzieher, wenn nicht das Beispiel des Guten und Schönen hinzutritt!

Diese Ersten sind es also vornehmlich, denen die Pflicht, an der eigenen Fortentwicklung unermüdlich zu arbeiten, nicht dringend genug an das Herz[170] gelegt werden kann; Eltern, welche sich mit ihren Kindern nicht noch einmal miterziehen, sind sich selten klar über den ganzen Umfang ihrer Pflichten. Wer nur einige Erfahrung in der Welt gemacht, hat es gewiß schon hundertmal gesehen, wie systematisch in Kindern durch die Gedankenlosigkeit und Oberflächlichkeit ihrer Erzieher, die fehlerhaften Anlagen auf Kosten der Besseren recht geflissentlich entwickelt und gesteigert werden.

Nun kommt aber für jeden Menschen eine Zeit, wo die Entschuldigung »er ist schlecht erzogen,« nicht mehr stichhaltig ist. Was fragt der Staat und was fragt die Gesellschaft darnach, wie und wo er erzogen wurde. Sie macht ihn selber verantwortlich für sein Thun und Handeln und hat das vollkommenste Recht dazu. So lebhaft wir nun in diesem Fall die niederen Schichten einer Bevölkerung bedauern müssen, denen fast immer aber auch jedes Mittel fehlt, sich über sich selbst aufzuklären, und die weit öfter aus Dummheit und Eigensinn, als aus Bosheit fehlen, so wenig können wir Diejenigen aus den höheren Ständen entschuldigen, welche, wenn ihr Verstand eine gewisse Reife erlangt hat, denselben nicht anwenden, sich ihre Pflichten gegen sich und Andere klar zu machen.

Neben den Grundsatz der Humanität und Toleranz muß sich daher sehr ernstlich die Aufforderung der Selbsterziehung stellen, wenn Ersterer nicht bloß zu einer weichmüthigen Phrase werden soll und anstatt sittlich zu heben, nur tiefer hinabzieht.

Selbst für den in seiner Jugend Wohlgeleiteten ist dies dringende Pflicht und es muß die beste und schönste Frucht einer tüchtigen Erziehung sein, daß der Mensch nie müde wird, an sich selbst zu bessern und zu arbeiten. Wie viel mehr ist sie es jedoch für den Schlechterzogenen,[171] obgleich wir nicht verkennen, wie sehr er sich auch hier wieder im Nachtheil befindet. Doch würde dieser Nachtheil lange nicht so groß sein, oder ist es in der That nicht, wenn die Gesellschaft stark und sittlich genug fühlt, nicht den Fehler zugleich mit dem Fehlenden entschuldigen zu wollen.

Gewiß wäre mancher Mann, manche Frau auf dem Wege des Leichtsinns oder der Pflichtvergessenheit umgekehrt, manches junge Mädchen hätte sich veranlaßt gefühlt, einmal ernstlich über sich nachzudenken, ohne die sogenannten »guten Freunde«, deren Moral so beweglich ist, wie eine Windfahne, und die nur in Entrüstung gerathen, wenn ein Mensch, der nicht zu ihrer Gesellschaft gehört, etwas gethan, oder einen Fehler besitzt, welchen sie unter ihren Augen täglich sehen können, ohne Anstoß oder Aergerniß daran zu nehmen. Dieser Art von »Toleranten« hat Jeder, dem es für sich und Andere ernstlich um den Fortschritt im Guten zu thun ist, gründlich zu mißtrauen und ebenso den sogenannten »gutmüthigen Leuten«, die es aus lauter Gutmüthigkeit für ihre Pflicht halten, für das Unrecht und seine Folgen, für Vernachlässigungen, welche oft das Glück einer ganzen Familie mit dem Ruin bedrohen, immer nur entschuldigende Worte zu haben. Das ist freilich diejenige Gutmüthigkeit, welche sich stets am breitesten macht und darum am meisten in die Augen fällt, aber in der That gar keine ist, denn wahre Güte findet sich immer nur vereinigt mit Ernst, Verstand und sittlichen Grundsätzen. Der wahre Menschenfreund wird jederzeit mit Liebe den Fehlenden von dem Fehler trennen, aber diesen Letzteren nie beschönigen wollen. Das ernste, zürnende Wort, welches eine sittlich fühlende Gesellschaft über die Fehler, die sie beflecken, vernehmen läßt, wird immer[172] die beste und wirksamste Zurechtweisung für den Fehlenden sein. Sie macht sich hingegen zur Mitschuldigen der Leichtsinnigen und Pflichtvergessenen, wenn sie dieselben durch eine laxe Moral in ihrem Thun und Treiben noch eben so sehr bestärkt und fördert, als dies bereits durch eine schlechte Erziehung geschehen ist.

Sie muß dies um so mehr, als gewiß kein Mensch, aus den höheren Ständen wenigstens, sich damit entschuldigen kann, er habe nie etwas Besseres gesehen oder gehört. Ueberall drängen sich dem Menschen die Bildungsmittel auf, deren er bedarf, überall findet er das höhere Beispiel, das ihn zur Nacheiferung auffordert, wenn es ihm auch in seiner nächsten Umgebung versagt blieb. Neben einer nicht pflichtgetreuen Hausfrau und Mutter, neben einem leichtsinnigen, oberflächlichen Mädchen, stehen Andre, die ihre Schuldigkeit redlich erfüllen, die als Muster edler Weiblichkeit gelten können, und die gerne den ernstlich Strebenden helfend die Hände reichen.

So, in gleicher Weise, wie der atheniensische Geschmack sich bildete und schärfte an den erhabenen Kunstwerken, welche sich täglich seinem sinnlichen und geistigen Auge darboten, stellt die Entwickelung des menschlichen Lebens und Geistes, vor dem nicht ganz Rohen und Ungebildeten eine Reihe so erhabener Gestalten auf, daß deren Betrachtung allein genügen kann, den Schwachen Kraft zu geben und den sittlich Schwankenden zu höheren Gefühlen zu begeistern. Ein ernster, nachdenkender Blick allein auf unsre großen Heroen der Dichtkunst muß genügen, ein höheres Streben zu erwecken. Wie haben diese Männer an sich gearbeitet, wie ernst haben sie es mit ihrer eigenen menschlichen Ausbildung genommen, ohne welche es ihnen nie möglich geworden wäre, so Großes zu leisten.[173]

Wollten wir also doch stets ihr großes Beispiel vor Augen haben und der herrlichen Worte von Wilhelm von Humboldt gedenken:


»Denn an der Menschheit reichem Teppich webet,

Nur wer aus innrer Kraft sich frei erhebet!«[174]


Quelle:
Luise Büchner: Die Frauen und ihr Beruf. Leipzig 41872, S. CLXVII167-CLXXV175.
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