Lesen und Vorlesen

[155] »Du wirst wie die Fliege, Gift,

»Mit dem Zuckerlecken!«

Rückert.


»Erst hattest du deine Freude dran;

»Nun haben sie andre Leute dran!

»Das ist nun deine Freude dran!«

Rückert.


»Wir haben hier noch eine Seite des weiblichen Lebens in den Kreis unserer Betrachtungen zu ziehen, welche ganz besonders wichtig in den Uebergangsjahren vom Kinde zur Jungfrau ist, und deren Verfehlung häufig die traurigsten Folgen für das spätere Lebensalter nach sich ziehen kann. Es ist nicht genug, daß man die physischen Kräfte des Mädchens und eine zweckmäßige Körperpflege, durch Gymnastik, Spaziergehen, Schwimmen, Schlittschuhlaufen und kräftige Lebensmittel zu stärken und zu entwickeln sucht, eine gesunde geistige Diät, muß sich mit der körperlichen vereinigen, um Frauennaturen zu erziehen, die auch innerlich gesund und unverdorben sind. Es ist nicht immer der Fall, daß in dem gesunden Körper auch eine gesunde Seele wohnt und sie untergräbt nur zu oft, trotz aller Mittel, die äußerlich angewendet werden, von innen heraus die blühenden Wangen und die Fülle der jugendlichen Erscheinung.[155] Was nützt es uns, durch die Physiologen auf's Genauste darüber belehrt zu werden, wie die nervös- hysterische Reizbarkeit so vieler Frauen, durch eine vernünftige Körperpflege in der Kindheit und Jugend könnte ausgerottet werden, wie damit auch zugleich so viele Verschrobenheit und Phantasterei, da, wo man mit Recht eine gesunde, vernünftige Lebensauffassung erwarten könnte, verschwinden müßten, namentlich aber jenes unbefriedigte Zagen, Bangen und Schmachten, welches sich oft bis in das spätere Lebensalter des weiblichen Geschlechtes fortsetzt.

Wir glauben, daß der Wurm, welcher so manches Frauenleben für immer vergiftet, und zerstörend über seine frische Blüthe hinstreift, der solche Frauen, ehe sie nur noch den rechten Ernst des Lebens kennen gelernt, mit sich und der Welt entzweit, der sie Ansprüche und Anforderungen an das gewöhnliche Menschenloos stellen läßt, welchem dieses nur in den seltensten Fällen entspricht, und der endlich den Schmelz reiner und keuscher Weiblichkeit viel öfter, als man es denkt, bereits in der Knospe erstickt, daß er oft erzeugt wird, durch die verfrühte und wahllose Lecture von Büchern, die für Erwachsene noch zu schlecht und verderblich, in der Hand der Jugend und des Kindes geradezu, wie ein zerstörendes Gift wirken. –

Es ist eine merkwürdige, aber thatsächliche Erscheinung, daß oft die nämlichen Eltern, welche auf die physische Pflege ihrer Tochter jede erdenkliche Sorgfalt verwenden, sich um deren geistige und gemüthliche Entfaltung kaum bekümmern. Wenn sie nur hübsch und gesund ist, wenn ihre äußere Erscheinung ihr nur bald zu einer guten Partie verhilft, dann mag es um das Innere bestellt sein, wie es wolle. – Man sehe sich einmal in seinem eigenen Bekanntenkreise um, man erinnere sich an[156] die frühere Geschichte so mancher Jugendfreundin, und man wird es ganz natürlich finden, daß nur zu häufig diese kräftigen Knospen trotz ihres frischen Aussehens schon innerlich angesteckt und verkrüppelt sind, ehe sie nur in das Leben hinaustreten. Unendlich wenig Mütter kümmern sich darum, wie ihre heranwachsenden Töchter ihre freie Zeit ausfüllen. Wenn die Kleine nur ihre Schularbeiten gemacht, tüchtig geturnt und Clavier gespielt, vielleicht auch im günstigen Fall eine Aufgabe an einer Handarbeit vollendet hat, dann mag sie thun, was sie will. Nur zu oft bedient das Mädchen sich dann seiner Freiheit, um sich von dem Toiletten- oder Schreibtisch der Mama den ersten besten Roman zu holen, sich damit in eine entfernte Ecke zurückzuziehen und dessen Inhalt mit großem Wohlbehagen zu verschlingen.

Die Kinder sind darum nicht zu tadeln; es ist ein großes Vergnügen für ein gewecktes, phantasievolles Mädchen, sich in diese poetische Welt voll ungekanntem Schmerz und leise geahntem Glück hinein zu leben und hinein zu dämmern, aber leider genießen es nur die Wenigsten ungestraft. Dennoch ist es eine schwere, oft verzweifelte Aufgabe den Eltern, das Schädliche dieser Lectüre klar zu machen; selbst ganz gescheidte Leute sind in dieser Beziehung unzugänglich. Es ist ihnen zu unbequem, sich fortlaufend darum zu bekümmern, was ihr Kind treibt, und so mögen sie es nicht begreifen, welch ungeheuerer Schaden dem Mädchen aus der hastigen, ungeregelten Lectüre erwächst, die seine Phantasie unnatürlich früh erregt und die Entwicklung des gesunden Verstandes in jedem Falle hemmt. Ganz gewiß läßt sich mindestens die Hälfte weiblicher Verschrobenheit und Verkehrtheit auf das vorzeitige Lesen von Romanen und sonstigen ungeeigneten Büchern zurückführen. Man hütet seine Kinder[157] vor schlechter Gesellschaft, aber mit unbegreiflicher Gedankenlosigkeit läßt man sie oft Jahre lang unbewacht in der noch verderblicheren Gesellschaft von unpassenden Büchern, welche dem Papa und der Mama wohl nichts mehr schaden, aber die Reinheit einer jugendlichen Seele auf immer untergraben können. Die meisten Mütter sind sich, wie in vielen andern Dingen auch, zwar oft dunkel bewußt, daß sie es verhüten sollten, aber einestheils sind sie zu schwach, den Bitten des Töchterchens um Mamachens Buch zu widerstehen, und sie trösten sich und besorgte Warner mit dem trefflichen Argument: »Ach, das Kind versteht es ja noch gar nicht, was es liest!« Ausgezeichnet, wozu liest es dann die Dinge überhaupt? und wird es auf diese Weise nicht ganz gewiß bald verstehen lernen, was es noch gar nicht wissen sollte? Zweitens sind sie zu bequem, dem leselustigen Mädchen für eine passende Lectüre zu sorgen, und lassen es lieber unbesprochen hingehen, wenn sie, ohne zu fragen, die ungehörigen Bücher zur Hand nimmt. Drittens sind sie auch oft so gedankenlos und zerstreut, es gar nicht zu bemerken, wo ihr Buch des Tages über hinkommt und wer es mit ihnen liest.

Es brauchen dies nun noch keineswegs frivole oder unsittliche Bücher zu sein, kein Roman, vielleicht der einzige Walter Scott ausgenommen, taugt für das Alter von 12–16 Jahren. Die erste unausbleibliche Folge der Romanlectüre in diesem Alter ist vor allen Dingen diese, daß sie jedes ernstere geistige Streben, jede Anstrengung, die Nachdenken erfordert, dem Mädchen verleidet. Die wenigsten wollen dann noch ernstlich lernen, wenn sie die Süßigkeit geschmeckt haben, mit unglücklich liebenden Heldinnen zu weinen und mit glücklichen Bräuten zu schwärmen. Dies mag uns Jedermann auf's Wort[158] glauben: aus allen Romanen, selbst wenn es die strengsittlichen und mit genug hausbackener Weisheit verbrämten Werke deutscher und schwedischer Schriftstellerinnen sind, oder das Product einer puritanischen englischen Feder, die Vierzehnjährige liest mit Interesse nur die Liebesverhältnisse und Liebesscenen heraus; alles Uebrige, sei es auch noch so moralisch und lehrreich, geht spurlos an ihrem unreifen, noch unempfänglichen Verständniß vorüber. Was nun die für die Jugend vielgepriesenen Geschichtsromane betrifft, so möchten wir hier an den Ausspruch von Michelet erinnern: »Meine Tochter wird, ehe sie vollständig erzogen ist, nie einen Geschichtsroman lesen, weil dadurch nur der Geschmack für wirkliche Geschichte verloren geht!« Das ist ein wahres, tüchtiges Wort, und wenn wir oben Walter Scott ausnahmen, so geschah dies nur, weil Mädchen, die im zarten Alter W. Scott gerne lesen es wohl auch ungestraft thun dürfen. Die modernen deutschen Geschichtsromane hingegen, welche gegenwärtig fast jedes Haus überfluthen, die sollten in den Händen von jungen Leuten nie gefunden werden. Wenn die Alten daraus eine verkehrte und entstellte Geschichtsbelehrung schöpfen wollen, so mögen sie sich diese unschuldige Unterhaltung gönnen, die Jugend aber sollte man um Gotteswillen davor behüten. Durch solche und ähnliche Werke wird das wahre Verständniß, der wahre Sinn für Geschichte nur erstickt, nicht gefördert und so das Mädchen schon in früher Jugend um ein geistiges Gut betrogen, aus dem sie in reiferen Jahren unendlichen Genuß schöpfen könnte.

Fast ebenso verhält es sich mit den classischen Producten unserer Literatur. Mit nur wenigen Ausnahmen gehören sie nicht in die Hand unreifer Kinder; auch hier lesen sie nicht das Schöne, nur das Unterhaltende und[159] Leidenschaftliche heraus. »Wie sollen wir es aber machen,« klagen manche Mütter, »die lesewüthigen Mädchen von den Büchern zurückzuhalten, die sich denn doch einmal in dem Hause befinden?« Man thut gewiß am besten, wenn man in diesem Falle an den eignen Verstand und an das Ehrgefühl der jungen Mädchen appellirt. Wir haben eine vortreffliche Mutter gekannt, in deren kleiner Bibliothek sich nichts Geringeres als Schiller und Goethe befand. Sie sagte ihrer vierzehnjährigen, phantasievollen und von Lesewuth entbrannten Tochter nur das Eine: »Diese Bücher taugen mit wenigen Ausnahmen noch nichts für Dich, mein Kind, ich wünsche, daß Du dieselben erst kennen lernst, wenn Du sie auch verstehst und wahren Genuß davon haben kannst. Ich schließe sie nicht weg, aber ich verlasse mich darauf, daß Du weder diese Bücher, noch ein anderes in die Hand nimmst, welches ich Dir nicht erlaube!« Die Bücher blieben unberührter, als wenn sie hinter Schloß und Riegel gelegen hätten. Daß diese nämliche Frau sich zugleich bemühte, der Tochter für eine passende Lectüre zu sorgen, versteht sich von selbst, und zwar war dies zu einer Zeit, wo man mit guten populären Schriften, interessanten Reisebeschreibungen und faßlichen Geschichtswerken noch nicht so wohl versorgt war, als heutigen Tages.

Als ihr Kind das 18–19. Jahr erreicht hatte, da ließ sie derselben die Wahl ihrer Lectüre unbekümmert frei; sie konnte es ruhig thun, das Frivole war dieser nun von selbst zuwider, und ihr einfacher, gebildeter Geschmack verwarf das Unwahre und Unpassende aus eigner Machtvollkommenheit. Die Zahl der Mütter, welche so vernünftig handeln, ist leider nicht groß, vielleicht gelingt es diesem schlichten Wort, manche derselben auf die Gefahr aufmerksam zu machen, vor der sie mit ein wenig[160] Achtsamkeit und Strenge ihr Kind so wohl behüten könnten. Einen zweiten und viel schwereren Vorwurf als die schlechten Bücher, treffen die heutigen Zeitungen und das damit verbundne Feuilleton-Unwesen. Es hat uns schon wahre Sorge gemacht, wie hier eine Umkehr zum Besseren zu erzielen sei. – Man muß es durchaus zu erwecken und zu fördern suchen, daß die jungen Mädchen die Zeitungen lesen und dadurch die Gegenwart verstehen und die Geschichte des Tages mit Interesse verfolgen lernen. Ja, es muß bei einem guten Geschichtsunterricht ein Hauptgesichtspunct sein, die Schülerinnen für das Verständniß und das Interesse an der Zeitung vorzubereiten. Frauen, die in ihrer Jugend kein Tages-Journal lesen, thun es alt, gewöhnlich erst recht nicht, wenn man schon kaum begreifen kann, wie es möglich ist, zu existiren, ohne fortlaufende Kenntniß der geistigen Strömungen innerhalb deren die kurze Spanne unseres Daseins sich entwickelt. Leider führen viele gebildete Frauen ein solch unbegreifliches Austernleben und so lange dies der Fall, kann man doch auch wahrlich nicht erwarten, daß die Frauenwelt einen vollen und ganzen Antheil an der Entwicklung und den Fortschritten der menschlichen Gesellschaft nehmen wird.

Wir glauben daher, daß es ganz und gar Pflicht der Eltern ist, ihre Kinder schon zeitig an das Lesen der Zeitung zu gewöhnen, mit ihnen darüber zu sprechen und ihnen zu erklären, was sie noch nicht verstehen. Ueberdem sind gegenwärtig die Tagesblätter so billig, daß wohl kaum eine gebildete Familie existirt, die sich nicht ein Solches hält – aber, da ist nun das unglückliche Feuilleton, ohne welches selbst das kleinste Blatt nicht mehr bestehen kann, oder glaubt bestehen zu können und diese Lockspeise verfehlt dann auch ihre Wirkung nicht. Das Feuilleton[161] wird gelesen, dies ist sicher, ob aber auch der wichtigere der politische Theil – diese Frage bleibt häufig unentschieden. Indessen wäre dies wiederum Sache der Eltern, dies zu ergründen, was sie aber nicht verhindern können, ist die Natur des Feuilleton, und hier müssen wir mit aller Offenheit, selbst auf die Gefahr hin heftig angegriffen zu werden, gestehen, wie dieser belletristische Theil häufig Geschichten so schlüpfrigen Inhalts bringt, Situationen und Lebensverhältnisse darstellt so gewagter Art, daß besorgte Eltern mit Recht diese Blätter ihren Kindern entreißen und es vorziehen, sie gar keine Zeitung lesen zu sehen als solche, die mit derartigem Gifte versetzt sind. Vor einem schlechten Buche kann man seine Tochter hüten, aber nicht vor diesem tropfenweise eingeflößten Opium und wollte man dagegen einwenden, die Zeitungen hätten andre Zwecke und Ziele, als in Mädchenpensionaten gelesen zu werden, so ist wohl mit Recht dagegen zu bemerken, daß grade das Feuilleton nicht die Männer, sondern vornehmlich die Frauen und die jungen Leute anzulocken bestimmt ist, und daß die Knaben diese Geschichten ebensowenig zu Gesicht bekommen sollten, als ihre Schwestern. Es ist ja gar nicht nothwendig, solches Zeug zu schreiben und zu drucken und würde es nicht angenommen, so hüteten sich die Schriftsteller schon von selbst, die Gränzen der Schicklichkeit und des Anstands zu überschreiten. Was wir hier von der Jugend sagen, gilt ganz in derselben Weise von dem Volke; auch in den geringen Ständen werden gegenwärtig die Zeitungen gelesen und muß es jedem Volksfreund, der eine politische Entwicklung seiner Nation erstrebt, darum zu thun sein, daß es geschehe, wie aber nun der geringe Mann Respect bekommen soll vor den gebildeteren Klassen, die oft in solchen Feuilleton-Geschichten[162] in der lasterhaftesten Weise dargestellt sind, dies begreife wer kann. Vornehmlich empörend aber ist es, wenn solche Erzählungen und Romane aus weiblichen Federn herrühren, wenn Frauen sich in der Ausmalung von Dingen gefallen und vor die Augen ihres Geschlechtes bringen, die sie selbst zu lesen, erröthen müßten.

Schreibt in Bücher, was Ihr wollt, man kann sie sich fern halten, nicht aber das fliegende Blatt, welches jeder neue Tag in Hunderte von Häusern, in Tausende von Händen bringt. Jedenfalls sollte die Zeitung, wie dies auch bei einigen der Fall, so eingerichtet sein, daß man unbeschadet des übrigen Inhalts, das Feuilleton hinwegschneiden kann; noch besser freilich wäre es, dasselbe überhaupt in anständigem Tone zu halten.

Ein anderes Auskunftsmittel besteht für sorgliche Eltern darin, mit ihren Kindern das Tagesblatt laut vorzulesen, wie es sich auch für jede verständige Mutter in hohem Grade empfehlen wird, vielmöglichst mit den heranwachsenden Töchtern gute Bücher gemeinschaftlich zu lesen.

Dieser Vorschlag erinnert uns zugleich an einen andern Mangel der weiblichen Bildung, der sich oft sehr störend geltend macht und um so auffallender hervortritt, je mehr eine junge Dame anscheinend wohl erzogen ist. Warum giebt es so wenig Frauen und Mädchen, welche angenehm, fließend und ausdrucksvoll vorlesen? Eine der angenehmsten Gaben für den Familien- oder Freundeskreis findet sich nur selten ausgebildet, während fast jedes junge Mädchen Clavier spielen oder singen kann. Es wäre doch viel natürlicher, daß man erst sprechen lernte, ehe man singt, abgesehen davon, daß für einen wirklich ausdrucksvollen Gesang dies die erste Vorbedingung ist. Dennoch giebt es unter einem Dutzend jüngerer und älterer Damen[163] oft kaum Eine, die eine Seite ruhig, unbefangen und mit der richtigen Betonung herunterlesen kann, ohne, entweder anzustoßen oder affectirt zu sein. Erröthend reicht man das Buch der Nachbarin, die es kaum besser macht. Uns däucht, gut, d.h. verständlich und ungenirt vorlesen zu können, sei bei einem gebildeten Menschen eben so unerläßlich als richtig zu sprechen. Die fehlende Uebung ist wohl in der Regel die Hauptursache dieses Mangels, nicht minder der Umstand, daß die jungen Leute eben darum zu selten gut vorlesen hören. Die Lesekränzchen, wo mit vertheilten Rollen gelesen wird, helfen dem Uebel nur wenig ab. Erst muß man fließend Prosa vorlesen können, ehe man sich an die gebundene Sprache wagt, und die Meisten lernen dort nicht mit Geschmack lesen, sondern nur declamiren. Ueber die Art dieser Declamation, über das falsche Pathos, das dabei gewöhnlich in Anwendung kommt, breite sich schweigend die Decke der Duldung. Wir wollen nur daran erinnern, daß für das Ganze durch diese Leseübungen wenig gewonnen wird. Die Hauptrollen fallen schließlich doch immer, und zwar mit dem größten Recht, an die zwei oder drei guten Leser, welche in der Regel den Kern dieser Vereinigungen bilden.

Eine weit zweckmäßigere Uebung für die jungen Mädchen würde es sein, wenn die Mutter sie an gemüthlichen Winterabenden im traulichen Wohnzimmer um sich versammelte und sie dann der Reihe nach ein gutes Buch laut vorlesen müßten und der Vater oder die Mutter ihnen auch einmal ihrerseits ein Gedicht oder eine Stelle aus einem Drama mit dem richtigen Ausdruck vortrügen. Da darf im Interesse der erwachsenen Mädchen auch schon einmal ein Roman mit unterlaufen; in solcher Weise gehört, von erklärenden Bemerkungen und Gesprächen[164] begleitet, schadet er auch der Vierzehnjährigen nichts. So lange es aber die meisten Frauen vorziehen, ihre Abende in Thee- und Kaffeekränzchen zuzubringen, statt einen so reinen und beglückenden Genuß zu suchen, werden Töchterchen in einer Ecke kauern und die ungestörte Ruhe dazu benutzen, mit fliegender Hast und fieberheißen Wangen die Romane zu verschlingen, deren sie habhaft werden können, werden aber stottern und stammeln und sich scheu zurückziehen, wenn sie drei zusammenhängende Zeilen laut vorlesen sollen. Gut zu lesen ist ein schönes, herrliches Talent und verdient gewiß nicht weniger Pflege als die Musik, verdient sie um so mehr, als sich bis zu einem gewissen Grade jeder Gebildete diesen Vorzug aneignen kann. Die größere geistige Empfänglichkeit, die Fülle und Biegsamkeit des Organs werden natürlich auch hierin, wie bei jedem andern Talent, die größere oder geringere Leistungsfähigkeit bestimmen.

In früherer Zeit, als Gesang und Clavier noch nicht in der Gesellschaft jede andre Unterhaltung absorbirten, war es vielfach Sitte, daß Frauen und auch junge Mädchen in gemischter Gesellschaft Gedichte declamirten. Es war dies in der sogenannten sentimentalen Epoche, als die neuerwachte Dichtkunst anfing ihren Triumphzug durch Deutschland zu halten, wo Klopstock, Matthissen, Hölty und Schiller mit hingebender Andacht zwischen Tassen- und Gläsergeklirr von den rosigen Lippen flossen.

Wir würden es jetzt äußerst komisch finden, wenn eine junge Dame im Ballkleid sich hinstellte und Angesichts von Damen und Herrn ein sentimentales Gedicht vortrüge. Aber welch grenzenlos dumme und unpassende Worte werden oft von jungen Herrn und Damen zusammen gesungen und war die Idee nicht hübsch, bei einer geselligen Vereinigung die Poesie ebensowohl zu berücksichtigen,[165] als ihre himmlische Schwester? Eine solche Wiedervereinigung im Sinne eines ernsten, gediegenen Geschmackes würde wahrlich auch unsern heutigen Gesellschaften nicht zum Schaden gereichen, denn warum sollte das Talent das Vorlesens sich nicht ebensowohl geltend machen dürfen, als das Talent des oft nur so genannten Vorsingens. Dann müßten freilich unsere jungen Leute beiderlei Geschlechts auch im Stande sein, nicht etwa nur ein vorher einstudirtes Gedicht, denn darin liegt oft das Gemachte und Unnatürliche, vorzutragen, sondern sie müßten richtig und unbefangen aus jedem Buche vorlesen können, das ihnen gereicht würde.

In der Schule lernen wir häufig nur die Buchstaben kennen, in der Familie sollten wir mit Geschmack lesen und vorlesen lernen, wie wir es überhaupt eigentlich nur dort erringen können, das, was der Unterricht uns gab, mit Geschmack und Grazie auf Leben anzuwenden. Ganz gewiß aber sollte der Familienkreis die schützende Schranke sein, innerhalb deren das weibliche Geschlecht nicht nur physisch entwickelt, nicht nur vor schlechter Gesellschaft bewahrt, sondern vor den noch schädlicheren Einflüssen einer unpassenden Lecture bewahrt wird. Dann erst wird auch eine gesunde Seele in dem gesunden Körper wohnen. –[166]

Quelle:
Luise Büchner: Die Frauen und ihr Beruf. Leipzig 41872, S. CLV155-CLXVII167.
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