IV.

[62] Natürlich ging er hin, den nächsten Sonntag. Die ganze Woche hatte er sich gesträubt. Unsinn, da sie ja doch nicht kam, sicher nicht. Wo würde sie denn kommen – lächerlich, er kannte doch seine Pariserinnen: wenn man ihnen gefällt, machen sie erst keine Geschichten, und acht Tage fasten, wenn schon serviert ist, aus reinem Übermut – ja freilich!

Und sie war nicht einmal seine Nummer. Er konnte sie doch nicht gebrauchen. Sie hatte nichts von seinen pathetischen Weibern.

Aber immerhin – endlich heiratete man sich ja nicht. Warum denn nicht, en attendant mieux! Bis auf die große Leidenschaft, die er nun doch einmal nicht von den Bäumen beuteln konnte, sondern geduldig erwarten mußte. Als Zeitvertreib und Grillenscheuche, den Platz zu halten, daß keiner für seine Krisen bliebe. Und auch – es ist eine alte Erfahrung: wenn man nur erst eine hat, dann kommen die anderen von selber und es angelt sich besser.

Und in der Woche sagte er sich: wie er sich auch entschlösse, er blieb ja immer frei, im letzten Augenblick[63] zu thun und zu lassen, wie es ihm gerade belieben würde. Und am Sonntag sagte er sich: wenn er auch hinginge, aus Neugierde bloß, ob sie käme, er blieb ja immer frei, sich im letzten Augenblick noch zu drücken, bevor sie ihn bemerken würde. Und schon auf der Brücke sagte er sich: wenn er auch heute mit ihr schliefe, er blieb ja immer frei, sie morgen wieder heimzuschicken, auf Nimmerwiedersehen, wenn er es genug haben würde.

Es war zwei Stunden lang in Küssen und in Scherzen eine fröhliche Fahrt durch das Wäldchen, bis die Sonne sank, und dann in heiteren Reden und schönen Plänen ein freudiges Diner. Es vergnügte ihn besonders, daß viele Blicke, wie sie durch die Straßen schlenderten, an ihrem Glücke hafteten und ihre Anmut von manchem Neide bemerkt ward. Nur, neun Uhr vorbei, auf einmal das alte Spiel von neulich wieder, mit den nämlichen Entschuldigungen von der Cousine und daß es ihr heute nicht möglich sei, durchaus nicht heute, aber ganz gewiß das nächste Mal.

Jetzt ärgerte er sich aber ernsthaft. Was wollte sie denn eigentlich und wie stellte sie sich denn das überhaupt vor? An der Seine zu spazieren und den Fraß bei Duval zu verschlingen, wenn das alles war – dazu, wahrhaftig, brauchte man nicht erst umständlich und feierlich eine Geliebte!

Er sagte es ihr ganz unverblümt heraus, daß er zu dem Wiedersehen nur gekommen war, um mit ihr zu schlafen, wie sie es neulich versprochen. Wenn er[64] ihr nicht gefiel, könnte sie's bleiben lassen. Doch sagte man das dann offen und äffte nicht die Leute an der Nase herum und verdarb ihnen nicht unnütz und boshaft die Zeit – wenn sie auf dem Boulevard Arago draußen wohnen, eine Stunde zu laufen, noch dazu.

So sagte er es ihr ins Gesicht ohne Schonung. Er mochte einmal die »unklaren Verhältnisse« nicht leiden und solche »Spreizerei«, wie seine wienerische Kurzgebundenheit es hieß, war ihm verhaßt. Sie war ganz verdutzt und zerknirscht und hielt das Köpfchen scheu gesenkt, daß der Sturm darüber weg brause, mit einem reuig flehentlichen Blicke vor sich hin, der kaum einmal schief nach der Seite blinzelte, wie ein Kind, das Unfug angestellt hat, und es weiß wohl, daß es Strafe verdient, aber schön wär' es doch, vielleicht noch einmal mit dem bloßen Schrecken davon zu kommen. Nur, trotzdem, blieb sie unabänderlich und fest, daß es unmöglich sei, heute, und es käme ihr selber hart genug an, weshalb er ihr doch verzeihen sollte und nicht noch das Herz schwer machen durch seinen Verdruß. Und sie klammerte sich wieder an die Cousine, die alte Geschichte von neulich noch einmal von vorne, die ihm schon recht langweilig war.

Er war wild, weil er es nicht begriff. Eigentlich hatte er ja gar keine Absicht auf sie, durchaus nicht, als höchstens für eine rasche Nacht, und die Enttäuschung war darum leicht verschmerzt. Aber daß es da ein Rätsel gab, welches er sich nicht erklären konnte,[65] ein seinem Verstande verschlossenes Geheimnis, dieses brachte ihn in Aufruhr und Empörung.

Die Geliebte eines anderen? Der würde sich hüten, sie die Sonntage frei zu lassen. Und umgekehrt gerade: dann wäre sie sicher mit ihm, wenn er ihr gefiel, erst recht, und nur Wiedersehen, Zusammenkunft, Briefwechsel hätte sie verweigert. Oder gefiel er ihr nicht? Diese verzwickten Gehirnchen des launischen Geschlechtes hatten schon manchmal verwünscht unverständliche Mucken! Aber warum denn, wenn er nicht ihr Geschmack war, warum war sie denn überhaupt gekammen? Und wahrhaftig, wie sie seine Liebkosungen erwiderte, nein, spröde und abgeneigt war das durchaus nicht. Scheu und Scham? Ach, das zweite Mal auch noch, da man sich doch schon kannte, das ging denn doch übers Maß einer Pariserin! Und dann, in diesem Falle hätte sie sich mit Würde gesträubt und mit Entrüstung ihre Ehrbarkeit beteuert, daß sie nicht »eine solche« sei – man kannte die Tonart ja auch! Aber nein, keine Spur, sondern sie behandelte es wie er als selbstverständlich und natürlich, daß sie mitsammen schliefen. Nur »diesesmal gerade« war es nicht möglich, jedesmal.

Jedesmal: denn ebenso wieder den dritten Sonntag und darauf, als sie ihm erlaubt hatte, sie vom Magazine zu holen und auf dem Heimwege zu begleiten, Abend für Abend, den ganzen Monat hindurch, regelmäßig von neun bis zehn, wiederholte sich unabänderlich, wie nach ewiger, unwandelbarer Vorschrift, aus den nämlichen Anfängen durch den nämlichen[66] Verlauf nach dem nämlichen Schlusse die nämliche Geschichte ohne Wechsel, mit der nämlichen Antwort immer auf die nämliche Bitte. Freilich schwor er es sich mit heiligeren Eiden jeden Morgen, unverbrüchlich diesesmal, daß es gestern zum letzten gewesen und jetzt zu Ende sei mit der läppischen Affenkomödie, die ihn verhöhnte, unwiderruflich zu Ende. Aber jeden Abend trotz alledem, wenn er auch um sechs das mannhafte Wort noch einmal feierlich bekräftigte, jeden Abend wieder, wie nur draußen kaum die Nacht die ersten Märchen süß zu flüstern anhub, in grünen Nebel tief vermummt, da scheuchte es ihn hinaus ins Rauschen und Raunen, ein Unwiderstehliches, gegen das alle Wehrkraft vergeblich war, und rastlos lief er in Angst und Hoffnung und lief, wollüstig den blauen Atem schlürfend, welchen die Sterne versandten, und lief, ohne daß er es gewahr ward, bis er sich wieder an der Ecke fand, alle Abende wieder, an der Ecke der St. Eustache unter der ächzenden Laterne, an welcher aus der düsteren Montmartre heraus der rauhe Stoß des Windes brach, dem braunen Schlund der Hallen gegenüber; nämlich, sie arbeitete in der Turbigo.

Es war nicht – sagte er sich – es war nicht Liebe, die ihn verfolgte; Neugierde war's, was ihn jagte. Er kam nicht mit dem küssedurstigen Fieber des Troubadour; er kam mit der zähen Forscherwut des Gelehrten. Dem psychologischen Problem lief er nach, schlaflos, bevor sich die Rechnung nicht aufgelöst hätte – das war es, nicht das thörichte Gänschen.

Er brütete und brütete, und womit er sich auch[67] zerstreuen wollte, seine Gedanken waren festgeleimt an dieser Sorge. Es beleidigte seine Eitelkeit, daß etwas geschehen konnte, ohne daß er es begriff. Es machte ihn ganz krank am Ende, sich so schwach und gering zu fühlen, so ohnmächtigen, unwirksamen und wehrlosen Verstandes. Doch blieben dieses Leid, dieser Aufruhr, diese wachsende Begierde innerhalb des Gehirns. Das Herz wurde nicht beteiligt.

Und wie ein Schachspieler mit unnachgiebiger Erbitterung, die sich nicht abschrecken läßt, versuchte er grüblerisch Zug um Zug, unerschöpflich in Listen. Immer wieder, alle Tage und manche Nacht, zergliederte er sein Problem, trennte die Nähte auf, schälte die Haut, wog seine Elemente, maß ihre Verhältnisse, prüfte ihre Triebe, verglich ihre Wirkung, mischte sie anders und anders, überhitzte und erkältete sie, gesellte sie nach allen Methoden, um sie nach allen Methoden zu scheiden, und wenn er sie wieder zusammengefügt, zersetzte er sie von neuem. Und niemals, trotz alledem, wie in empörter Ehre und herausgefordertem Hochmut er auch sann und rang und brütete und sich verbiß und eingrub, mit Grimm bald, bald mit Schmeichelei, niemals, in aller Hoffnung und Wut bis zu mörderischen Launen des Wahnsinns, niemals gelang es.

Ja, er hätte sie bezechen können mit gemischtem Weine – es gab dienstbare Wirte – bis daß ihr Widerstand taumelte und stürzte, und dann im Winkel über sie her; oder wenn sie im Wagen fuhren, hinterrücks auf sie, und mit Knebeln und Zwicken und Kratzen. Oft erwog er diesen Plan, bereitete ihn vor,[68] rüstete ihn mit Fleiß, besorgte alle Anstalt, leitete ihn ein. Aber dann immer wieder zuletzt, lahm, schwank, feig – weil es ja nicht ihr Leib, sondern die Seele war, was er begehrte, was sie verwehrte!

Nein, das half ihm nichts, das brachte sein Problem nicht vorwärts. Gewalt, statt zu fördern, konnte nur höchstens verderben. List, List und Witz!

Ah, welche Wollust, wenn sie gesiegt haben würde, welche Wonne, welch jauchzender Triumph! Die bloße Hoffnung schon, alle Tage trotz aller Niederlage mit neuem Mute – welche Wollust, welch bange, bebende, betäubende Wollust schon die bloße Hoffnung! Und nein, sie war, wenn er nur im Verharren nicht strauchelte und nicht wankte im Vertrauen, nein, sie war kein Wahn.

Alle Mittel der Reihe nach: Sinne, Mitleid, Habgier.

Er stürmte auf sie mit taumelnder, fletschender, heulender Brunst. Irres Lallen toller Krämpfe, Röcheln aus geschnürter Kehle, und sein Atem sengte. Was in heißen Nächten oft, wenn er sich wälzte, an schaurigem Spuk das Fieber der Begierde aus ihm brütete, was an schwarzen Dämpfen aus seiner kochenden Geilheit tauchte, und die wilde Unzucht verirrter Dichtungen, die ihn beschwichtigen sollten, braute und verschmolz er zu einem brennenden Gifte, daß es ihr die Kraft auszehre und die Adern verpeste. Aber sie, wenn er sie so mit wahnsinniger Leidenschaft anfiel, lächelte nur hell und, indem sie mit weichen Fingern seine feuchte Hand streichelte, sagte sie nur leise: »Aber ich auch, ich liebe Dich ja auch.«[69]

Er drohte Selbstmord. Er weinte in stoßendem Schluchzen wie ein Kind, dem Laune versagt wird. Er raufte sich das Haar. Ob sie denn das wirklich wollte, daß er verzweifelte, verdürbe, stürbe? Aber sie blieb nur immer bei dem beschworenen Troste: »Das nächste Mal, ganz gewiß, das nächste Mal!«

Er gelobte ihr Berge und Wunder. In ein Märchen würde er sie bringen, in dem ihr Wunsch Gesetz und Kaiserin ihre Laune, in einen blühenden Hymnus üppiger Wonnen. Schon nahte er sich dem Ruhme und dem Reichtum; dann badete er sie in Gold und in diamantene Vließe, von Rosen und Vergißmeinnicht gebrämt, welche Rubine und Saphire wären, wollte er sie kleiden und auf dem hohen italischen Schlosse, weit über die schimmernde Loire hinaus, von der die Sehnsucht alter Rüstern winkend zu ihr herüber grüßte, dienten in wetteifernder Priesterschaft ihrer Schönheit aus allen Völkern die schönsten Sklavinnen dann, knisternde vom Süd und nordisch bleiche, daß unten die stampfenden Hengste selbst in demütiger Liebe ihre Wildheit verlernten.

In diesem Stile – Schwur auf Schwur, immer toller. Er begehrte sie nicht zu eiliger Umarmung, in einer vergänglichen Laune. Sie wollten sich nimmermehr trennen, das ganze Leben! Ewig umschlungen, ewig, er konnte ja nicht sein ohne sie! Aber, obwohl ihr dieses alles sehr gut gefiel, beharrte sie doch: »Nur heute, weißt Du, geht's wirklich nicht ... Nämlich, hör' zu: Die Cousine ...« Ah, er hätte sie erwürgen mögen, die vermaledeite Cousine![70]

Und wenigstens – flehentlich, da er am Erfolge verzweifelte, beschwor er sie darum – wenigstens den Grund sollte sie ihm sagen, daß er es begreifen könnte. Wenigstens den Grund – er war ja mit jedem zufrieden und fand sich willig in alles. Aber den Grund, daß er sich die Zweifel und Skrupel erledigen könnte, die fraßen.

Warum? Warum?

Aber sie bat ihn nur sanft, daß er sich nur ein ganz klein wenig noch gedulde und sie ein bißchen lieb behalte, einstweilen; dann würde alles bald ganz sicher noch sehr gut, ganz gewiß das nächste Mal. Anderes war nicht aus ihr zu bringen. Und dann wußte sie wieder, daß er oft den Harm vergaß und fröhlich lauschte, so allerliebst zu plaudern, von ihren kleinen, aber wichtigen Sorgen, den Abenteuern im Geschäfte und mancher bedenklichen Geschichte, wie sie den Mädchen in der großen Stadt begegnen, wenn sie jung und schön und lustig sind, und wußte zum Abschied kundige Küsse, die verhießen.

Dies währte durch den ganzen Monat bis in die letzte Woche.

Quelle:
Hermann Bahr: Die gute Schule. Berlin 21898., S. 62-71.
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