V.

[71] Als aber die letzte Woche um war, an ihrem letzten Tage, da geschah etwas. Da ereignete es sich, daß er sie vergeblich erwartete, an der Ecke, unter der schiefen Laterne, im Winde. Sie kam nicht, und auch nicht den anderen, noch den dritten Tag.

Da, an dieser namenlosen Angst, ob sie krank oder untreu, und wie dieser vulkanische Brief aus seiner zerrissenen Seele ausbrach, da ward er es gewahr, daß es nicht um das Problem, sondern daß es Liebe war. Es kam aber keine Antwort auf den Brief. In ihrem Magazine wußten sie nichts: »Das Fräulein ist nicht mehr bei uns.«

Am vierten Tage in der zehnten Morgenstunde, als er im Bette sich mit wüsten Träumen schlug, klopfte es ganz leise wie ein verschämter Bettler oder ein Modell, das Arbeit sucht, an seiner Thüre, und dann noch einmal, und nachdem er unwirsch seinen grunzenden Ruf wiederholt hatte, bereits zu grober Abfertigung bereit, da nach einer Weile trat sie herein, trippelte an sein Bett, indem ihr verwunderter Blick neugierig über den Wirrwarr verschlissener Bibelots[72] stolperte, und nachdem sie ihn herzhaft geküßt, setzte sie sich an den Rand und sagte, ein wenig ängstlich und niedergeschlagen: »Nämlich, ich bin von der Cousine fort, weil ich ohne Dich nicht leben kann ... das war das Gescheiteste ... seit Samstag.«

Da heulte er auf wie ein hungriges Raubtier, endlich über der Beute, und riß sie an sich und warf sich auf sie und wälzte sich mit ihr, jauchzend in kurzen, schrillen, heiseren Pfiffen, und verwundete sie mit bissigen Küssen am ganzen Leibe, als wollte er sie zerfleischen.

Sie aber entwand sich. Denn sie hatte den neuen Hut aus schwarzen Spitzen und mit Rosen und Anemonen in einem leichten Zweige rückwärts hinunter, sehr zerdrücklich und zerbrechlich. Und vor dem Spiegel, indem sie sich glättete und aufsteckte: »Du hast immer aufs Land wollen ... und schau nur, heute die Sonne!«

Er ermannte sich und ließ sie. Er überlegte, daß er nur ja nichts an dem Glücke verdürbe, das endlich gekommen. Es galt jetzt, sein Talent fürs Glück beweisen, indem er es nicht in groben Brocken mit Hast verschlang, sondern seine süßen Beeren über den Gaumen, langsam und mit Bedacht und in alle Poren spülte, neidisch um jeden Tropfen, kein Stäubchen von seinem vollen Feingeschmacke zu verlieren. Er wollte planmäßig und mit einer »systematischen Kultur« des Glückes verfahren, üppige Frucht zu ernten. Er wollte es sich vorstellen, den ganzen Tag, den ganzen langsamen Sommertag vorstellen und das[73] ganze Bewußtsein ausfüllen mit recht deutlichen Begriffen.

Sie nahmen den Wagen nach Sèvres, weil's, sagen die Maler, dort am lieblichsten lenzt. Die kerzengerade Straße, wo einst die Fischweiber zogen; an den jungen Ahornen, so knospenfroh und blütengierig wie ihr Glück. Und dann die graue und traurige Wüste, in Armut, der Raffaëlischen Gestalten. Nur manchmal, jäh, der schrille Allarm der heiseren Warnpfeife, sonst löste sich aus dem ewigen schwarzen Seufzer der Räder und der Schienen kein Ton. Aber plötzlich, die Stadt versunken, vom Hügel herunter sangen die Lerchen.

Und sie schrie, wie sie unter die Blüten gingen, die weißen Blüten – aber da sie die holdere Schwester grüßten, deswegen, sagte er, erröteten sie vor Freude – sie schrie aus unbändigem Jubel empor, weil es Ranunkel und Gänseblümchen gab. Und er mußte es ihr alles erklären, was das war, und neugierig neigte sie sich über jeden Kelch und schmeichelte jedem Halm und koste die Gräser und pries alle Wunder dieser neuen Welt. Und dieses alles wuchs, ganz still und einsam und ganz von selbst, so prächtig und unsäglich süß, schöner als selbst Theater, wie von einer guten Fee, und obendrein noch ganz umsonst, und man wußte gar nichts davon, aus keiner Zeitung, und sterben hätte man können, ohne es je, jemals zu schauen!

Sie wandelten in Küssen. Er zeigte ihr das Moos und zeigte ihr den Tau und alles Köstliche.[74] Und dann wieder zwischen den Zweigen durch sahen sie nach dem besonnten Strom. Es war ihr wie im Traum. Und dieses alles, alles das gehörte jedem, wer nur kam, wer nur wollte – jeder, alle Tage, konnte es haben, so viel Glück!

Sie setzten sich auf den Stein, ganz allein, vor dem Teiche, der wie ein junger Mond im Rasen lag, und sie schauten nach dem toten Schlosse. Aber Strauch in hellen Keimen stieg aus den schwarzen Trümmern, und in zerbröckeltem Gesimse huschten Schwalben. Kastanien träumten im leisen Winde, die Zipfel der grünen Kappen tief hereingezogen.

Da erzählte sie es ihm, wie es gekommen war. Die Cousine hatte seine Briefe gefunden und seine Photographie. Also natürlich Tra-Tra durch das ganze Haus, und daß sie ein schlechtes Mädchen sei und noch dazu mit einem Ausländer. Und als es ihr zu dumm wurde, hatte sie es ihr kurz erklärt, daß sie ihn liebe, basta. Weil sie aber noch immer keine Ruhe gab und nicht aufhörte, ihr die Ohren abzutrommeln, da hatte sie ihr Bündel gemacht und war davon. Erst wollte sie nur gleich zu ihm laufen, aber dann auf dem Wege war Scham gekommen, was er sich denn denken würde, und so nahm sie sich denn lieber ein kleines Zimmer, Rue de la Harpe, und den nächsten Tag war sie bis auf den Arago und lange herum, ob sie ihm nicht vielleicht begegne, aber dann doch wieder zurück, aber die letzte Nacht hatte sie elend geschlafen und sich gefürchtet, in dem fremden Hause ganz allein, und nur immer an ihn gedacht, bis sie es[75] nicht mehr aushielt – er brauche sie aber nicht zu behalten, weil sie eine eigene Wohnung hätte, und wenn sie auch in der Turbigo nicht mehr arbeiten könnte bei der Freundin der Cousine, sie würde sich schon was anderes finden, hinlänglich erfahren im Commerce.

Er warf gegen den Atem des Abends den Mantel über sie, und sie hüllten sich eines in das andere und verwuchsen Leib in Leib. Er hatte den Arm um ihren Nacken und fühlte die warmen Knospen ihrer Brust. Und was sie sagte, jedes Wort klang ihm wie himmlische Musik von frohen Engeln, und er war sehr verwundert, es zum ersten Male zu gewahren, was der Frühling ist. Auf dem Steine hätte er bleiben mögen und sterben. An das Problem, wunderbar, dachte er gar nicht mehr.

Langsam dann, ganz langsam, nach dem Mahle in dem Gärtchen am Strome – zwischen Knospen, und eine Nachtigall schlug – langsam die Seine hinauf kehrten sie heim, durch die bunten Flammen der Ausstellung. Es war viel schöner noch, als er sich es erwartet hatte. Langsam schritten sie den Boulevard nach der Wohnung.

Er entzündete das Licht, sie band die Blumen zu einem großen Strauß und gab ihnen Wasser. Er rauchte noch eins, während sie sich entkleidete, und trank den Atem der Blüten und ihres Fleisches. Sie redeten kein Wort, sondern leise nur summte sie vor dem Spiegel, indem sie sich die Flechten löste, eine alte auvergnatische Weise. Dann, als wären sie es[76] lange gewohnt, gingen sie zu Bett. Und das war mit einem jähen Überfall von Schreck und fast Entsetzen, wie er es gewahrte, daß er eine Jungfrau umarmt hatte.

Und stotternd und stammelnd, wirr und bestürzt, indem er sich in den Knieen aufrichtete: »Ja, Du ... wie denn ... Davon hast Du ja gar nichts gesagt ... ist es denn ... kann es denn wirklich ...?«

Sie setzte sich auf, indem sie das Hemd wieder knüpfte, und starren, weit hinausgestielten Blickes, wie um Hilfe vor einer unglaublichen Gefahr, und mit zuckenden Lippen: »Für eine solche hast Du mich genommen!« Und sie drehte sich nach der Wand und weinte, weinte bitterlich. Aber bald erbarmte sich der Schlaf.

Er aber, in Aufruhr und Fieber, fand keinen Frieden. Er warf und wälzte sich und wendete die schwülen Kissen. Ihm brannte der Schlund.

Er sprang heraus, gierig um Wasser, und schlürfte und netzte sich die Augen und tauchte unter ins Becken, und in einem großen Meere hätte er schwimmen mögen, daß nur dieser lechzende, würgende Durst gekühlt würde. Und dann die Vorhänge zu, sie nicht zu wecken, und Licht gemacht, wanderte er und wanderte atemlos, und über Berge hätte er wandern mögen, steil ins Eis, daß er nur irgendwo sich entliefe. Und er fragte sich, was denn das wäre.

Ja, das war das Glück, aus dem Verstande ließ es sich beweisen. Es war das Glück, das große Glück. Er hatte nur noch nicht die Gewohnheit.[77]

Es konnte ganz gewiß nichts anderes sein als das Glück. Nur seltsam freilich war es, sehr verwunderlich, wie er es empfand. Er hatte sich das Gefühl eigentlich anders gedacht, wenn es endlich käme, das große Glück.

Nämlich weil es so jäh und botenlos gekommen war – ja, offenbar deshalb! Wenn er sich hätte vorbereiten und rüsten können, es zu empfangen – aber wie mochte er das auch denken! Ganz außer dem Programm, unvermutet auf einmal war es da.

Er stellte es sich in kräftigen Gründen eindringlich vor, wie glücklich er zu sein hätte. Er machte sich darauf aufmerksam, was dieses bedeutete, jungfräulichen Leib und jungfräuliches Herz gewonnen zu haben, und führte es sich zu Gemüte, von welchem Umfang und von welchem Inhalt dieser seltene Genuß war, der die Sinne und die Sehnsucht und auch zugleich die Eitelkeit befriedigen konnte. So, durch deutliche Begriffe, verbesserte er sein Gefühl.

So stimmte er sich. Dann, gewissenhaft, Punkt für Punkt, wiederholte er im Geiste die erste Liebe, die sie ihm gewährt hatte. Und jetzt, wie er es jetzt empfand, war es schon sehr schön und angenehm.

Draußen graute der Morgen, und die Bäume schüttelten sich. Leise schlug er den Vorhang zurück. Sie atmete sanft. Er kniete nieder, und inbrünstig küßte er die rosige Sohle ihres Fußes, der aus der Decke sah. Und so in der Haltung des Betenden entschlief er.

Quelle:
Hermann Bahr: Die gute Schule. Berlin 21898., S. 71-78.
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