I

[102] Die Prinzipienlehre unserer Zeit läßt einen allgemeinen Umbau der Wissenschaften erkennen. Der Zweckgedanke, auf Staat und Gesellschaft bezogen, verliert seinen Wert. Eine künstlerische Auffassung der metaphysischen Form scheint Raum zu gewinnen und die Wissenschaften sich unterzuordnen. Die Kausalität, auf ein mageres Begriffspaar, Ursache und Wirkung gestützt, ging von der Beobachtung zeitlicher Abläufe aus; von einem Messen, Wägen und Vergleichen materieller Zusammenhänge. Die Metaphysik begnügte sich mit fatalen Konstruktionen, die eine persönliche Freiheit zwar forderten, nicht aber zu begründen vermochten. Diese Methode und das Gesetz der Kausalität selbst mußten phantastisch und willkürlich erscheinen in dem Augenblick, in dem der reine Intellekt versagte; in dem er sich als unzulänglich erwies, die ringsum in aller Unvernunft hervorbrechende Geschichte und ihre greifbaren Elemente zu bändigen. Daß eine solche Entwertung der mathematischen Begriffe inzwischen eingetreten ist, läßt sich kaum mehr bestreiten.

Damit beginnt ein neuer Versuch, den letzten Wert zu erfassen. Da die Wissenschaft auf Tatsachen immer verwiesen bleibt, so regt sich ein Interesse für Tatsachen und Erfahrungen, die dem Strom des Werdens sicherer als das von Druck und Stoß abhängige, als das meß- und wägbare Faktum überhoben sind. Solche Tatsachen und Erfahrungen aber bietet vor allem die Kunst. »Es gibt«, so kann man 1905 bereits bei Voßler (›Die Sprache als Schöpfung und Entwicklung‹) lesen, »es gibt eine geschichtliche Erkenntnis ohne irgendwelche Bezugnahme auf die praktische Wirklichkeit. Das ist die Erkenntnis durch reine Anschauung oder Kunst, die sich auf ein theoretisches, nicht auf ein praktisches Geschehen bezieht. Die Wissenschaft von dieser Erkenntnis pflegt man Ästhetik zu nennen. Alle andere geschichtliche Erkenntnis ist auf die praktische Wirklichkeit bezogen, also empirisch. Darum enthält sie willkürliche Elemente,[102] seien es konstruierte Typen oder Gesetze, seien es Zweckbegriffe«.

Die Kunstgeschichte tritt als Erfahrung anstelle der Profangeschichte; die Tatsachen haben Bedeutung nur noch, soweit sie gestaltet, das heißt dem faktischen Strome der Zeit überhoben sind. Dem Wesen des Kunstproduktes entsprechend wird man im neuen Gesamtbild die letzte und höchste Form nicht ohne den Inhalt, ohne die Welt der Gefühle und Triebe mehr setzen können. Der formalistischen, rein verstandesmäßigen Ansicht der Dinge folgt eine solche, die die Vernunft nicht abgezogen von ihrer seelischen und körperlichen Ausprägung mehr will gelten lassen. Letzter Urheber der Dinge muß ein Künstler, oberstes Kriterium einer neuen Wertskala die Kunst selber sein, in ihrer ganzen Vermögensfülle.

Drei Dinge gewinnen damit eine neue Bedeutung. Zunächst der Begriff der Inspiration. Wer ist der Künstler? Wie kommt das Kunstwerk zustande? Geben dem Dichter die Götter ein oder die Dämonen? Worin ist das ›Genie‹ begründet? Worin das sogenannte ›Schaffen‹? Wer schafft und kreiert? Gott oder die Menschen? Ist die Kunst im Individuum beschlossen, in seinen Instinkten etwa, im Unbewußten, oder in einer Über- und Unterwelt? So daß, um dies vorwegzunehmen, die Kunst, wenn sie schon den letzten Wert darstellt, doch vom Produzierenden vielleicht gar nicht ausgeht, sondern der Mensch nur, wie die Scholastik sagte, die causa efficiens, keineswegs aber der Schöpfer seiner Leistung ist?

Sodann der Stil, die Einheit der Kunstleistung: sind sie Naturgaben? Gibt es einen angeborenen Stil, oder sind alle Einzelwesen nach ihrer Seinsweise begründet in einem einheitlichen Plan und Entwurf, der ihnen die Besonderheit zuweist nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten? Ist die Menschenseele einzigartig und unveränderlich, oder unterliegt sie einem gestaltenden Gesetz? Je nachdem die Antwort gegeben wird, gibt es einen individuellen, autonomen Stil und eine individuelle Stilmetaphysik, oder es herrschen traditionelle, gemeinsame, schulmäßige Begriffe. Der interessante Streit über Nachahmung (Nachfolge, Gehorsam) und Originalität (natürliche Eigenart, Willkür), ein Streit, der einstmals in der Debatte zwischen Bembo und Erasmus die Gemüter erregte, lebt hier wieder auf.[103]

Nicht zuletzt wird fraglich: der Begriff der Persönlichkeit. Wie ist das Wort persona abzuleiten? Daß es ursprünglich das Abbild der Götter und die Maske des antiken Theaters bedeutet, gibt keine Lösung. Ist der Maskenträger aktiv mit personare oder passiv mit personari in Beziehung zu setzen? Die Maske des griechischen Theaters hatte ein Schallrohr, durch das der Schauspieler zum Publikum sprach. Der Mime, der hohe Töne von sich gibt, könnte als Persönlichkeit gelten. So faßte noch vor kurzem C. G. Jung (in ›Psychologische Typen‹, Rascher, Zürich) die Persona als täuschendes Individuum auf, das sich mit seiner Maske identifiziert. Auch Erasmus, beim Beginn der (reformatorischen) Individual- und Original-Tendenzen setzt Persönlichkeit gleich Maske, erlogenes Antlitz, wenn er dann auch widersprechend die angeborene Gestalt als die echtere, der anderen, verlarvten (personatus), die nur auf der Nachahmung der Vorbilder beruhe, entgegenstellt.

Sehr im Gegensatz zu diesen beiden Auffassungen steht indessen eine dritte, die den Begriff der Maske auf das ganze Kleid, auf den Überwurf bezieht und an die magische Auffassung dieses Überwurfes bei den Alten erinnert (das Löwenfell des Herakles, das Seelenkleid des Gnostikers). Die Tier- oder Göttermaske prägt danach den Kern des Helden, der die höhere oder die physisch stärkere Person anzieht. Es handelt sich hier nicht mehr um ein Mimikry des Schauspielers und Nachahmers, sondern um die magische Identifikation mit einem kreativen übermenschlichen Wesen, das den Menschen, der vorher nur Sinn und Materie war, im Innersten prägt und erhöht. Vico vertritt diese Auffassung. Persona kommt nach ihm nicht von personare, durchtönen, sondern von personari, Festkleider anlegen.

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 102-104.
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