II

[104] Den Stand dieser Untersuchungen zu erörtern, ist nicht meine Absicht. Es genüge eine einfache Beobachtung. Mit wachsender Aufmerksamkeit registriert man eine Leistung nach ihrer künstlerischen Qualität. Soweit ein Urteil überhaupt wichtig wird, geht es zunächst von ästhetischen Gesichtspunkten aus, und es[104] wird allgemach gleichgültig, ob es sich dabei um das Werk eines berufsmäßigen Artisten oder um dasjenige eines Geschichtsschreibers, Philosophen oder Theologen, also eines Gelehrten handelt. Die Kunst der eigentlichen Künstler aber erhält mehr und mehr den Charakter der ästhetischen Norm; sie wird zur absoluten Kunst, zur Hieroglyphe, das heißt zu einem Zeichen, in dem Religion, Philosophie und Zeitgeschichte in unauflösbarer Einheit verbunden sind. Eine Publikation wie die bei Rentsch in Zürich erschienenen ›Kunst-Ismen‹ (Herausgeber Lissitzky und Hans Arp) besagt in diesem Sinne mehr als ganze Bände wohlgemeinter ›Kunstwissenschaft‹. Der Mechanismus unserer Zeit macht es zum Gebot, die Erscheinungen nach einem strengeren Maßstab zu kontrollieren, als er seit langem in Anwendung war. Die Gestalt eines Argumentes, nicht seine Fülle entscheidet. Der Wert einer Leistung ergibt sich aus ihrer bis in die kleinsten Teilformen strahlenden Lichtspiegelung.

Und wiederum ist es eine Dreiheit, diesmal eine historische, die das moderne ästhetische Ideal bestimmt. Da ist vor allem die Tradition des sogenannten ›schöpferischen Idealismus‹. Der Gnadenstreit steht am Beginn ihrer Debatten. Die Gnade kann nicht verdient und nicht durch Nachahmung oder Nachfolge errungen werden. Man besitzt sie, oder man besitzt sie nicht. Es bedarf keines asketischen Bemühens, um erleuchtet, ein Genie zu sein. Die Werke als solche erweisen die gratiae gratis datae. Sie dienen nicht mehr der persönlichen Läuterung; sie werden Selbstzweck, Literatur. Bei Herder ist das Ideal eine Welt des schönen Scheins über den Gegensätzen von Pietismus und Kaserne. Bei Schiller zeigt sich eine Welt der Vorbilder, die ihre Beispiele aus den ›Ahndungen‹ der genialischen Persönlichkeit bezieht. Bei Goethe erreicht das Vorbild bereits die Stärke der antiken Selbstvergötterung; bei Nietzsche führt es zum Ideal des Stifters einer ästhetischen Religion.

Hier schließen sich neuerdings Bemühungen der Ethnologie an. Das Studium der primitiven Völker fördert eine Welt zutage, die der christliche Kulturkreis nahezu unterdrückt hatte: diejenige des Animismus und der Magie. Anschauungen und Werte, die über Zeiträume von Jahrtausenden kaum eine Entwicklung erfuhren, brechen in den Forschungen der Frazer, Tylor, Lévy-Bruhl und vieler anderer mit ihrem ganzen Gewicht in das[105] moderne intellektualistische und psychologische Weltbild ein. In der Denkart der Kinder und der Neurotiker ergaben sich dazu die phylogenetischen Analogien. Das auf Beruhigung und Bestand bedachte Gewissen unserer Zeit stürzt sich auf diese Funde mit der Inbrunst dessen, der sich im Untergang auf festen Boden zu retten hofft. Das Verlangen, aus ferner Urzeit neue Kräfte der Vereinfachung und der Verbundenheit zu schöpfen, erklärt den Eifer dieser Studien. Das Ergebnis aber ist eine Inthronisation der Magie, in der man den Schlüssel aller primitiven Kunstübung und -wirkung zu erkennen glaubt. Forschern und Empfängern verschlägt es dabei einstweilen wenig, ob man das Paradies oder das Reich des Dämons selber wiederentdeckt hat.

Eine dritte und letzte Strömung ist diejenige, die den eben beschriebenen Forschungen aus dem Symbolschatze, der Heiligenverehrung und den Logosideen der Kirche Vergleichspunkte bietet. In der Kirche ragt ja gewissermaßen eine Welt des Tabu und Totems höchst lebendig bis in die Gegenwart und letzten kulturellen Sublimierungen herein. Ich will nicht behaupten, daß die um das Urchristentum bemühte Philologie bereits irgendeine Verbindung mit den Ethnologen habe oder auch nur erstrebe. Ich möchte nur auf die Verwandtschaft und demnächstige Notwendigkeit gegenseitigen Einvernehmens hinweisen. Die Ergebnisse der Mysterienforschung und der Symbollehre werden dann ebensosehr zur Erhöhung des Kunstprestiges beitragen, wie die Untersuchungen, die den Stil der Naturvölker betreffen. Ein Werk wie Rémy de Gourmonts ›Latin mystique‹ (1892) gibt schließlich, indem es die Welt der Kirchendichter durch anderthalb Jahrtausende zurückverfolgt, eine Analyse des kirchlichen Formbegriffs. Und die pneumatologischen Stiluntersuchungen der Dieterich, Norden und Reitzenstein enthüllen eine hieratische Welt, in der das Pneuma etwas sehr anderes ist als Magie und Animismus im primitiven Sinne, in welcher der inspirierte Künstler aber nicht weniger als der Primitive das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung kennt.[106]

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 104-107.
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