III

[107] Wie kommt es nun, daß zu solch hoher Einschätzung der Kunst im schroffsten Gegensatze die Geltung der Person des Künstlers steht? Frühere, begeisterte Zeiten übertrugen die Schätzung des Werkes auf die hervorbringende Person und waren geneigt, darüber sogar das Werk zu vergessen. In mancher edlen Freundschaft zwischen Künstler und Mäzen blieben uns Beispiele solch legendären Tatbestandes erhalten. Heute läßt sich ein umgekehrter Prozeß beobachten. Die Biographien und Briefsammlungen verlieren ihren harmlosen Charakter und ihren romanhaften Wert; sie nehmen an Bedeutung und Interesse ab, gerade wo es sich um überragende Persönlichkeiten handelt. Fehlt es dem Künstler an ebenbürtigen Gegenspielern, oder fällt das Interesse für Intimitäten den subalterneren Schichten zu? Ob ein Mann namens Lersch in einem Versbande seine Familiengeschichte erzählt oder ein namhafter Komödiendichter seine Bemühungen gegen das ›Plüschzeitalter‹ in einem freundlichen Überblicke zusammenfaßt: Wen bewegt es? Das Publikum bleibt überlegen. Der Glaube an die Wichtigkeit des Mitgeteilten ist dahin. Die Probleme werden nicht mehr von einem einzelnen gelöst; jedermann weiß es. Die Duplikate laufen in Mengen herum. Hat man es mit dem Urbild oder mit einem Doppelgänger zu tun? Wer weiß es noch? Wer aus der turba incondita vermag es noch zu beurteilen?

So scheint es, daß dem Künstler nur die Anonymität verbleibt. Daß er vorzieht, auf private Beziehungen zu seinen Empfängern zu verzichten. Daß er den daher rührenden Qualen vorbeugt, indem er die Übertragung des Interesses von seiner Privatperson auf sein Werk durch ein entschlossenes Harakiri erzwingt. Solche ›Sachlichkeit‹ war die Ursache der Künstler-Melancholie zu allen Zeiten. Das Gloria-Ideal, das Zilsel uns von den Alten und den humanistischen Dichtern entworfen hat (›Die Entstehung des Geniebegriffs‹, Mohr, Tübingen 1925), das Ruhm-und Erfolgsbedürfnis: an wen sollte es sich heute auch wenden? Wer sollte die Gloria verleihen? Es gibt keine Gesellschaft mehr, die das Zutrauen aufbrächte, Ruhmestitel zu verleihen. Gerade desjenigen Werk, der Wort, Farbe oder Ton nicht nur dekorativ gebraucht, sondern sich mit seinem Gegenstande[107] identifiziert; für den also die Aufnahme seines Werkes eine Aufnahme oder Ablehnung seiner Person bedeutet; gerade das Werk des Künstlers, der seine Zeit befruchten könnte; der nach ihrem vergrabenen Gesichte sucht: gerade dieses Werk begegnet dem wirtschaftlichen Boykott, der ängstlichen Schablone, dem Mißverständnis, der vollkommenen Hilflosigkeit.

Die getrennt marschierenden Truppen, der neuen Formung und der neuen Theorie, sie haben sich noch nicht gefunden. Nur erst die Vorposten berühren sich. Zwischen der Direktive, zwischen den aufräumenden Bemühungen und dem neuen Werk steht der ganze alte Apparat, der in seiner Weise zwar ebenfalls von ›Sachwerten‹ ausgeht, nicht aber von solchen des Stils, sondern von solchen des Stoffes und des privaten Details. Fast die gesamte akademische Betrachtung urteilt noch in diesem Sinne und beweist damit ihre materielle Gebundenheit, wie sehr immer sie mit abstrakten Erörterungen und mit dogmatischen Postulaten den Nachweis ihrer Geistigkeit zu erbringen hofft.

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 107-108.
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Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften
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