IV

[108] Fragt man die Künstler, woran sie leiden, so kann man immer wieder dasselbe hören. Sie haben keine Beziehung mehr zur Wirklichkeit. Das Band, das sie in früheren Zeiten mit der Gesellschaft einigte, ist zerrissen. Es ist keine Tragfähigkeit, kein Anknüpfungspunkt mehr vorhanden. Es finden sich, soweit überhaupt von einer distinguierenden Umgebung die Rede sein kann, kaum zwei Menschen mehr, die noch dasselbe glauben und lieben. An wen soll beispielsweise der Romancier sich wenden, wenn er sich nicht eingestehen will, daß seine ganze Kunstgattung dem Untergang verfallen ist? Wen soll er darstellen, ohne sofort in eine Mythologie zu geraten? Und auch die Selbstdarstellung: Wem soll sie bekennen, wenn sie sich überhaupt an die Öffentlichkeit wendet? Tasso konnte bekennen; es gab noch eine Instanz für Manieren und Sitten. Schon Rousseaus Bekenntnis schließt Bübereien in sich, die er plausibel zu machen versucht und weiten demokratischen Kreisen plausibel zu machen vermochte. Das Selbstbekenntnis[108] einer proletarischen Zeit wird voraussichtlich dasjenige des Hochstaplers Ignaz Straßnoff sein.

Die Katastrophe, die wir durchleben, ist enorm. Die gesellschaftlichen Schichten verschieben sich von Tag zu Tag. Auch der Bildner, der Maler: sie finden sich einem abstrakten und imaginären Raum gegenüber, wie der Dichter sich einer abstrakten und imaginierten Gesellschaft ausgeliefert findet. Für wen soll einer seine Bilder malen? Für den Händler? Und wem gibt der sie weiter? Bleiben sie Schecks und Börsenwerte, und gehen sie als solche in unendlichem Kreislauf durch die Welt, oder werden sie schließlich irgendwo einmal aufgehängt, geschätzt und geliebt? Von wem dann? Wer wird es bis dahin sein? Der Bauer, der Bürger oder der Prolet? Zum Künstler gehört es wesentlich, daß er den Empfänger kennt und dessen Glauben, dessen Liebe, dessen Hoffnung in die Form mit einbezieht. Im Auswiegen des beiderseitigen Anteils beruht vielleicht das Geheimnis der Form. Wie nun, wenn der Künstler auf die Realität verzichten muß, wie er bereits auf seine Person verzichtet hat? Vermutlich erwirbt er sich daraus eine weitere Belastung seiner Melancholie.

Nimmt man aber als Empfänger eine ›normale Mitte‹ an, den Durchschnittsmenschen, den zeitgenössischen Demokraten, so kontrastiert die Breite des aufnehmenden Publikums unüberbrückbar mit der Enge und Konzentration der Form. Nur ein willfähriges Breittreten und Vergröbern könnte hier helfen. Merkwürdigerweise aber drängt gerade umgekehrt ein gewisses Etwas, nenne man es Selbsterhaltung, Zwang oder Vorsehung zu immer schärferem Erfassen des Substanziellen, zu einer thesenhaft gesteigerten Abgrenzung.

In den romanischen Ländern wird dies vielleicht weniger empfunden. Dort vermag sich noch immer der Romancier großen Stiles mit deskriptiven Mitteln zu behaupten, ohne auf eine exemplarische Gestaltung verzichten zu müssen. Das deutet auf das Vorhandensein eines traditionellen Gefüges, an das sich anknüpfen läßt; auf eine tragfähige Wirklichkeitsschicht, trotz aller Risse und Sprünge. In Deutschland ist das Problem brennender. Hier war der Geist zuletzt vielleicht wirklich nur noch als ›ideologischer Überbau‹ vorhanden, und dieser Überbau ist brüchig geworden. Neue ungefüge Gesellschaftsschichten[109] brechen hervor, oder sie werden mit einer gleich unbekümmerten Brutalität unterdrückt. Die neuen Schichten haben wenig Sinn für Kunst und Finesse; für Distanz und Geschmack; für eine den errungenen Besitz verteidigende Lebensart.

Der Künstler, der auf Überlieferungen angewiesen ist, erscheint den Ankömmlingen als Romantiker, wenn nicht als ein verstiegener Narr. Er selber neigt dazu, sich unsicher zu empfinden. Entweder er selber hat, gleich Trofimowitsch in den ›Dämonen‹, die rohere Indifferenz gezüchtet, oder er geht, nach einigem Schwanken, mit Haut und Haar zu ihr über. Widersteht er aber und gibt sich Rechenschaft, so fühlt er sich zwischen zwei auseinanderstrebenden Motiven torturiert: zwischen einem traditionellen Erbe von Sitte, Schulung, Stil und Adel, und einem ringsum widerlich flutenden Triebleben, dem er bald mit einer Überbetonung des Ideals, bald mit einer Besinnung auf seine eigenen höhnischen Triebe zu antworten genötigt ist. Ein solcher Zwiespalt aber, der überlieferten Vorstellungen und der libidinösen Energie, ist allen Psychopathologen wohl bekannt. Die Termini dafür schwanken, je nach der Heftigkeit und der Dauer des Konfliktes zwischen Zwangsneurose, Hysterie, depressivem Irrsein und Dementia praecox. Mit anderen Worten: Das romantische Problem erweitert sich zu einem pathologischen.

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 108-110.
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