V

[110] Einige Worte über Romantik.

Man hat, in der Absicht, den Sinn des zeitgenössischen Bürgertums zu ermitteln, vielfache Anstrengung aufgewandt, den Geist der Romantik zu definieren. Der weitaus stärkste Versuch dieser Art war derjenige des Bonner Professors Carl Schmitt (›Politische Romantik‹, 1919). Die Problemstellung dieser Schrift bezog ihre Schärfe aus dem Gegensatze des denkbar unpolitischsten Themas. Schmitt suchte die Romantik aufzuräumen, indem er, ausgehend von Adam Müller, einen ideologischen Bogen nach rückwärts spannte bis zu Malebranche. Einen säkularisierten Gnadenbegriff der Descartesschule, den Okkasionalismus[110] reklamierte er als das bestimmende Element. Indem er den schwächsten Punkt der Romantik, ihre Politik, angriff und die Romantik auf staatliche Normen bezog, hatte er leichtes Spiel, eine dilettantische Wertverwirrung aufzuzeigen. Sein Argument aber blieb eine Konstruktion; denn auch Goethe wäre dann, eignem Geständnis zufolge, Okkasionalist gewesen; das Gelegenheitsgedicht hielt der Herr Geheimrat für die erfreulichste Gattung der Lyrik.

Ex contrario könnte man sagen, daß die Romantik politisch nicht begriffen werden kann, weil sie gerade politisch nicht begriffen werden will; weil sie der Politik vorsätzlich widerstrebt. Die Bemühungen Adam Müllers haben einen ganz anderen Sinn als denjenigen, politische Normen zu setzen. Sie sind eher ein Versuch, die Politik durch Romantisierung aufzuheben. Wenn er sich dabei auf einige strengere Restaurationsphilosophen berief – als Feudalherren waren De Bonald und De Maistre doch gleichfalls Romantiker –, so war dies vielleicht nicht einmal ein Mißverständnis.

Auch zeitlich kann man die Romantik nicht aus dem Barock ableiten. Des Cervantes Roman ›El ingenioso hidalgo Don Quijote‹ enthält reichlich ein halbes Jahrhundert vor Malebranche das vollständige Programm der Romantik; ihren Geist, ihren Stil, ihren Okkasionalismus absurder Wortspiele und Antithesen: ihre ganze unreale und widersprechende Denkart; vor allem aber, wie sich dies schon im spanischen Titel kundtut, ihre Genielehre.

Nach Oscar Wilde umfaßt die Romantik »alle ernsthaften und tieferen Bestrebungen der Kunst seit dem Mittelalter«; seit also dem innerhalb und außerhalb der Kirche beginnenden Positivismus. Dies scheint mir der Sache näher zu kommen und würde letzten Endes besagen, daß alles außerkirchliche, prinzipielle Leben ein irrer Roman, ein Abenteuer ist, oder in ein solches mündet. Mit der Renaissance und ihren ingeniösen Entdeckungen, die man auch auf die innere Welt bezog, entsteht die Romantik und teilt sich der geistige Strom. In den Dichtwerken gestaltet sich eine phantastische, in den Systemen eine abstrakte Weltgesetzlichkeit, die schließlich einander sogar bekämpfen. Europa zerfällt, soweit es sich von der Kirche entfernt hat, in Intellekt und Vision. Insofern aber der Künstler[111] als Visionär stets an ein Urbild gefesselt bleibt, streben die romantischen Geister aus dem Abfall zur Kirche zurück; betonen sie ihre genialische Weihe desto entschiedener, je unannehmbarer und gottverlassener sie den Alltag empfinden. Ihr Gegensatz als Hüter der illusionären und generösen Denkart führt sie zur Blague, zur Pose, zur blutigen Paradoxie. In der Bewegung des Dandyismus wird dies besonders deutlich.

Verzweifelte Versuche zielen jetzt darauf ab, die delikate Situation zu durchbrechen und der verwünschten Hypokrisie einen Zugang zur Wirklichkeit zu erzwingen. Ein Wüten beginnt wider die eigene suspekte Natur, wider das edlere, als Romantik empfundene Gewissen. Man sucht sich in Einklang zu setzen mit einer Triebwelt, deren Häßlichkeit ausgekostet und exaltiert wird, wie vorher der Traum und die Seligkeit. Wo man, den Romantizismus verwerfend, sich in die libidinöse Hölle versenkt, überschreitet man ebenso alles Maß wie auf der anderen Seite im Ideal. Byron entdeckt das ›Dämonische‹ und verherrlicht den Luzifer. Baudelaire, der Dichter des ›Albatros‹, stürzt sich in Opiumräusche und in exotische Laster. Wilde liebäugelt mit Homosexuellen und rüden Apachen. Nietzsche, den dithyrambischen Thyrsosschwinger, widerlegt die ›blonde Bestie‹. Freud, der sich eben in seiner ›Traumdeutung‹ noch als enttäuschten Beglücker und Philanthropen bekannte, lehrt die Inzestphantasie und die polymorphe Perversität auf dem Grunde der Kinderpsyche.

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 110-112.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Schriften
Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften
Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften.