VII

[114] In einem merkwürdigen Parallelismus der Situation und ihrer Bedürfnisse hat unsere Zeit den Therapeuten, den Seelenarzt wieder entdeckt. Das Wort hat einstweilen noch einen etwas anderen Sinn, als es ihn etwa im ersten Jahrhundert hatte; doch horchen wir immerhin auf, wenn Philo in seiner Schrift vom ›Beschaulichen Leben‹ über den Namen der Therapeuten folgende Auskunft gibt: »ϑεοαπενται oder ϑεοαπεντοιδες heißen sie, entweder weil sie sich zu einer ärztlichen Kunst bekennen, welche die Seele von den durch die Leidenschaften verursachten Krankheiten befreit, oder weil sie von der Natur und den heiligen Schriften gelernt haben, Gott als die Realität zu verehren, die besser ist als das Gute, einfacher als das Eine und ursprünglicher als die Einheit.« Man hat nach ägyptischen Denkmälern den Namen der Therapeuten einfach als ›Gottesfreunde‹ interpretieren wollen. Der Widerspruch aber läßt sich dahin lösen, daß offenbar Arzt und Priester institutionell noch[114] nicht geschieden waren, wenigstens in Fragen der seelischen Erkrankung.

Gab es schon dazumal eine Psychoanalyse? Es scheint fast so. In den Eingangskapiteln der Apokalypse finden sich Worte, die auf ein Wissen um ›Tie fenpsychologie‹ sehr wohl schließen lassen; ebenso in gnostischen Texten, wie naturgemäß in jeder theologischen Literatur, die von Anfängen und Paradiesen, von Auflösung und Wiedergeburt handelt. Die seelischen Erkrankungen zur Zeit der hellenistischen σωτηο-Erwartungen erwecken den Eindruck einer weit verbreiteten Epidemie. Das Evangelium des heiligen Lukas birgt eine vollständige exorzistische Lehre. Nach Palladius hatten die ägyptischen Mönche mannigfache therapeutische Theorien. Zu Antonius Abbas bringt man seelisch Erkrankte, die nicht er selbst, sondern nur sein Mitbruder Paulus, seiner größeren ›Einfalt‹ wegen, heilen kann. Gregor von Nyssa spricht von der heimlichsten, innersten Krankheit, die zur Zeit Christi hervorgetreten, um im umfassendsten Sinne geheilt zu werden. Bruchstücke einer Libidotheorie finden sich bei jedem einzelnen der großen Asketen. Der heilige Theodosius, Erzvater der Mönche, erbaute sogar ein eigenes Krankenhaus für Einsiedler, ›die sich in die Wüste ohne besonderen göttlichen Befehl zurückgezogen hatten und da die Strafe ihres Stolzes, entweder durch Beraubung ihrer Sinne oder dadurch, daß sie vom Teufel besessen wurden, büßen mußten‹.

Heute geben die Erfolge der analytischen Neurosenlehre ein ungeschminktes Bild der seelischen Situation. Man mag entsetzt sein, wenn man die Schriften der Freud, Adler, Rank, Ferenczi und vieler anderer liest; die Literatur ist bereits unübersehbar. Man wird aber gestehen müssen, so ist unsere Zeit, und wäre sie schließlich nur in den Theorien dieser Männer vorhanden.

Die Methode des zeitgenössischen Therapeuten ist bekannt und oftmals dargestellt. Von der Annahme ausgehend, daß unbearbeitete, aber zur Einheit drängende Teilkräfte der Psyche vom Ich des Patienten abgelehnt und in ein hypothetisches ›Unbewußtes‹ verdrängt wurden, zielt die Kunst des Arztes darauf ab, die verurteilten Triebregungen aufzuspüren und sie bewußt zu machen. Dies geschieht, indem ihnen der Analysator zunächst[115] zum Bilde (Traum, Symbol) und dann zum bindenden Worte verhilft. Die Anerkennung der verdrängten Wünsche kommt ihrer Aufnahme in das reale Weltbild des Erkrankten gleich. Die Beruhigung und endliche Heilung erfolgt durch die Herstellung einer vorher gespaltenen seelischen Einheit. Das Wesentliche dabei ist, daß das Gewissen des Leidenden, sein Ideal, sein Ich, seine überkommenen Anschauungen von Erlaubt und Unerlaubt, von Schönheit, Sitte und Recht gewöhnt werden, Tatsachen anzuerkennen, die vor der ärztlichen Behandlung als für ihren Träger unannehmbare phantastische Zumutungen abgelehnt und ins Unbewußte verwiesen waren. Da es sich meist um häßliche, abnorme, primitive und darum schreckende Vorstellungen des infantilen Trieblebens und der Pubertätszeit handelt, so ist der Arzt zugleich darauf bedacht, die romantischen Ansichten des Patienten herabzustimmen; sein Wissen um Leib und Seele reicher, tiefer, sachlicher zu gestalten und dadurch seinen Widerstand zu stärken.

Ähnliches versucht – und damit komme ich zum Thema zurück – der neuere Künstler, der damit sehr in die Nähe des Arztes rückt. Die Kunsttheorien der letzten Jahrzehnte, so verschlungen und wirr sie sich geben mögen, haben doch das eine gemeinsam, daß sie entschiedener als je eine Zeit vorher der Beschwörung innerer Konflikte dienen. Die unbekannt drohende Macht soll entladen und gefesselt, die getrennten seelischen Vermögen sollen gesammelt und in einem neuen Weltbilde vorgestellt werden. Der Künstler sucht das erschütterte Fundament zu sichern, indem er den innersten Phantasieraum abtastet und dabei auf die Grundformen der Anschauung stößt. Das konstituierende Element der Erscheinungen und damit alles Unheimliche der Traumwelt, doch auch ihr Gesetz – das letzte der Imagination erreichbare Gefängnis der Seele soll erfaßt und sichtbar werden. Mit dem Berufstherapeuten verglichen, vermag der Maler ganz anders die verdrängten Vorstellungen wachzurufen und im Symbole zu bannen, als der doch im ganzen auf seine Ratio und einen abstrakten Eingriff in den Mechanismus der Krankheit hingewiesene Arzt. Und ebenso vermag der Dichter, dank seiner Intuition und seines Wortschatzes, ganz anders alle Besetzungen der libidinösen und der romantischen Irrwege aufzustören und dingfest zu machen, als[116] abermals der Arzt, der nur in seltenen Fällen und nicht ex officio über die Sprache verfügt.

Und also, um zusammenzufassen: die Kunst unserer Zeit ist therapeutisch bemüht, den Konflikt zwischen Dämon und Ich zu lösen. Sie treibt zu diesem Zwecke eine Analyse ihrer Stilmittel, die an die magischen Experimente der Alchimie gemahnt. Sie sucht eine Synthese, die die sublimsten Errungenschaften einer Überkultur und die verborgensten Leiden der inneren Nacht in ihre Form einbezieht. Niemals ist eine Epoche dem Künstler günstiger gewesen, was die Notwendigkeit und den direkten, praktischen, den sanitären Nutzen seiner Kunst betrifft. Niemals aber war der Künstler auch so grausam in sein eigenes Selbst zurückverwiesen.

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 114-117.
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