VIII

[117] Bezeichnend ist ein jüngst erschienenes Werk, betitelt ›Bildnerei der Geisteskranken‹ (Berlin 1923). Der Verfasser, Hans Prinzhorn, ein Nervenarzt, erweist an einer Auswahl von 187 zum Teil farbigen Abbildungen aus der Sammlung der psychiatrischen Klinik Heidelberg die auffallende Verwandtschaft notorisch schizophrener Kunstübung sowohl mit der Gestaltungsart der Kinder und der Primitiven, wie mit gewissen Stilelementen bei Brueghel, Bosch, Kubin und in der Miniaturenmalerei. Der Verfasser weiß, daß die Aufstellung eines neuen Normbegriffes des Menschen nötig wäre, um seiner Publikation und der modernen Kunst überhaupt ihren Rang anzuweisen. Er verhehlt sich nicht, daß die Beziehungen »zwischen dem Weltgefühl des Schaffenden und des Geisteskranken« erst auf dem Boden einer Metaphysik der Gestaltung zum Austrag zu bringen wären, daß aber dazu erst in jüngster Zeit die Bausteine zusammengetragen werden. So muß er sich darauf beschränken, einen ›Beitrag zu einer künftigen Psychologie der Gestaltung‹ zu geben.

Prinzhorn versucht also keineswegs, die Kunst der Geisteskranken zu verstehen; er begnügt sich mit einer diskursiven Darstellung der schizophrenen Ausdrucksmittel (Spieltrieb, Schmucktrieb, Ordnungstendenz, Nachahmungstrieb, Symbolbedürfnis,[117] Anschauungsbild, Physio- und Ideoplastik). Das eigentliche Formproblem fehlt; es sei denn, daß der Verfasser gelegentlich auf die beiden Komponenten des schizophrenen Konfliktes verweist, wobei atavistische (Sexual-)Triebe und die verletzlichsten kirchlichen Vorstellungen gleichermaßen als Quellen des Symbolschatzes erscheinen. Begreiflicherweise; denn auf der Versöhnung dieser beiden Komponenten beruht ja der Versuch des schizophrenen Künstlers, sich selbst zu heilen.

Dem weitaus größten Teil des beigebrachten Materials kann man das Prädikat einer einprägsamen Leistung nicht versagen. Gewisse Plastiken Karl Brendels würden sich in einer Ausstellung von Primitiven nicht unterscheiden. Die Heiligenmalereien Moogs, wenn sie als Glasfenster eines frühmittelalterlichen Domes erschienen, stünden weder nach ihrer Leuchtkraft noch nach ihrer Raumaufteilung hinter manchem Meisterwerk zurück. Nach einem sehr gründlich durchgeführten Versuch, eine spezifisch irre Note dieser Bildwerke aufzufinden, muß der Herausgeber gestehen: ein Unterschied zwischen dieser und der Kunst unserer Zeit ergebe sich nur darin, daß die eine ihre seelischen Einstellungen bewußt erstrebt, während bei der andern die gleichen Resultate zwangsläufig auftreten.

Hier wie dort führt der Zerfall des traditionellen Weltbildes, führt die Abkehr von der Wirklichkeit zu dem Bedürfnis, die gespaltene (schizophrene) Seele vermittels beschwörender Symbole, durch eine Vereinheitlichung der unter- und der überweltlichen Sphäre zu beruhigen. Der Geisteskranke kann dabei sogar als mystische Avantgarde gelten. Er hat den ›Vorteil‹, den ihm jeder Künstler neidet: in den Mutterschoß der Dinge eingekehrt zu sein, und seine wachen Sinne sind ihm doch geblieben. Er lebt in einer Welt direkter Wahrnehmung, in der die Wesen ihren inneren, unbeschwerten Lebgeist zeigen, und er kann, bestürzt, das Unerhörte doch noch fassen. Seltsam genug, daß er in seiner anonymen Abgeschiedenheit zu ähnlichem Gestalten kommt wie der bewußte Künstler. Wundersam aber ist es, daß eine Art tieferer Ratio nicht einmal von der Geisteskrankheit erreicht und zerstört wird; ja diese Ratio nimmt bei fortschreitendem Verfall der Sprach- und Deutfähigkeit eher noch zu.

So scheint mir dieses Buch von mehrfacher Bedeutung. Es[118] bezeichnet den Wendepunkt zweier Epochen. Der Kranke belehrt die Gesunden. Kunst und Künstler haben das Höchstmaß ihrer Leiden erreicht. Der Kranke tröstet den Gesunden als den noch nicht der Dissoziierung Verfallenen, aber mit ihr Kämpfenden. Er tröstet ihn, indem er eine Einheit der Anschauungsformen in der fernsten Totemvorstellung des Wilden und den letzten Verwirrungen einer übervölkerten Kultur erweist. Er tröstet den Künstler, indem er zeigt, daß die intellektuelle Katastrophe den Kunst-(oder Heilungs-) Prozeß nicht zu stören vermag, sondern ihn fördert; daß also aller Voraussicht nach bei einer Verschärfung der jetzigen Situation die letzte Fackel der Menschheit, die Kunst, nicht verlöschen wird, fänden die Künstler sich auch in den Sanatorien wieder.

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 117-119.
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Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften
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