388. Das untergegangene Dorf Granzendorf.

[292] Nicht weit von Walkendorf bei Tessin hat früher das große Dorf Granzendorf gelegen. Längst ist dasselbe aber schon untergegangen; keine Spur ist mehr davon vorhanden, und nur die Sage erzählt uns von dem ehemaligen Dorfe und zeigt uns den Ort, wo es gestanden. Die Bewohner von Granzendorf waren hiernach schlechte, böse Leute, die Alles nahmen und raubten, was ihnen gefiel und was sie nur immer habhaft werden konnten. So war es ihnen denn auch möglich geworden, bei Nacht und Nebel aus der nahen Kirche zu Walkendorf eine Glocke zu stehlen und dieselbe in ihrem Kirchthurme aufzuhängen, wo sich bis dahin noch nicht eine solche befunden hatte. Dieser Kirchenraub sollte ihnen aber theuer zu stehen kommen. Es brach nämlich einmal plötzlich Feuer in der Nacht in Granzendorf aus. Gewaltig stürmte der Wind und fachte das gierige Element auf das Erschreckendste an, so daß bald das ganze Dorf in lichten Flammen stand. Vergebens zog man die Sturmglocke, um die Bewohner der Umgegend zu Hilfe und Rettung herbeizurufen; aber Niemand hörte sie, denn, o Wunder, die geraubte Glocke schwieg und wollte, so viel man sich auch anstrengte und abmühte, keinen Ton von sich geben. Und so blieben denn die entsetzten Bewohner[292] Granzendorfs in ihrer größten Noth und Angst ganz allein auf sich angewiesen und bald war das große, schöne Dorf nur noch ein rauchender Schutt- und Trümmerhaufen. Nichts war von demselben übrig geblieben, als nur der Kirchthurm mit der geraubten Glocke. Die armen Abgebrannten siedelten sich in andern Dörfern und Gegenden wieder an. Ehe sie jedoch gingen, nahmen sie die freventlich geraubte Glocke von dem Thurme und versenkten sie in den Granzendorfer See, um dadurch, wie sie meinten, wenigstens in etwas ihr schweres Verbrechen zu sühnen. Die versenkten Glocken ruhen noch immer in der Tiefe des Granzendorfer Sees. Alle Johannismittage soll man sie läuten hören können, wenn man alsdann nämlich ein weißes Taschentuch in dem See auswäscht.


Niederh. 3, 144 f.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 292-293.
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