490. Das Läuten und Blasen vom Thurm zu Malchin.

[358] Vor langer Zeit lebte in Malchin ein alter Küster mit seinem Weibe; die hatten eine einzige Tochter. Als dieselbe 18 Jahre alt war, wurde sie einem jungen Handwerker verlobt. Dieser pflegte sie nun fast allabendlich zu besuchen. Mehreremale geschah es, daß bei solchem Besuche die Unterhaltung auf Spukgeschichten gelenkt wurde. Das junge Mädchen aber sprach sich dann jedesmal frei von aller Furcht vor Gespenstern aus. Da dachte ihr Verlobter bei sich, sie einmal bei passender Gelegenheit auf die Probe zu stellen. Eines Sonntags Abends kam er etwas später als er sonst zu thun pflegte; es war mitterweile 9 Uhr geworden. Als er bei dem alten Küster[358] eintrat und seine Braut nicht in der Stube gewahrte, fragte er sogleich nach derselben. Der alte Mann erzählte ihm, daß er sie kurz vor seinem Eintreten in die Kirche geschickt habe, um ein Buch zu holen, welches er am Tage auf dem Altar habe liegen lassen und an diesem Abend noch nothwendig brauche; sie werde aber sogleich wieder zurückkehren. Ohne ein Wort zu sagen, kehrte der Bräutigam sogleich wieder um. Er wußte sich ein weißes Betttuch zu verschaffen; indem er sich darein hüllte, eilte er der Kirchthür zu und stellte sich in derselben auf. Das junge Mädchen, nichts ahnend, hatte den Auftrag ihres Vaters ausgeführt, das Buch vom Altar genommen und kehrte nun wieder zurück. Als sie aber an die Kirchthür kam und die weiße Gestalt erblickte, stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus und sank zu Boden. Der erschrockene Bräutigam warf seine Hülle von sich, ergriff das Mädchen und trug es unter Thränen in das Elternhaus, aber als Leiche. Auch er starb vor Gram am dritten Tage. Er vermachte der Kirche sein Vermögen mit der Bedingung, daß alle Abend um 9 Uhr zum Andenken an die Todesstunde seiner Braut geläutet und vom Thurme geblasen würde. Dies geschieht auch bis auf den heutigen Tag, nur durch die Lucke, die dem Küsterhause gegenüberliegt, blasen die Musikanten nicht, weil sie dann eine Maulschelle und am andern Morgen ein dickes Gesicht bekämen.


Von einem Seminaristen in Neukloster; vgl. Niederh. 4, 87 f.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 358-359.
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