Spleen.

[62] Mir ist, als hätte ein Jahrtausend ich geschaut.

Nie barg ein Schrank, darin der Akten Flut gestaut,

Wo Liebesbriefe sich, Urkunden, Blätter schichten,

Mit Haaren, die verpackt in Scheine, mit Gedichten,

Mehr Heimlichkeiten, als mein Hirn, mein müdes, kennt.

Es ist ein Königsgrab, ein Riesenmonument;

Nicht eine Massengruft bedeckt so viele Leichen.


Ich bin ein Kirchhof, der geflohn vom Mond, dem bleichen,

Durch den die Würmer ziehn wie scharfer Reue Pein

Und meinen Teuersten zernagen das Gebein.

Ich bin ein alt Gemach, wo welke Rosen sterben,

Wo in der Jahre Rauch Gewande sich verfärben,

Pastelle wehmutvoll und Bouchers, wie getaucht

In fahle Düfte, die ein offen Fläschchen haucht.

Nichts währt so lange wie der lahmen Tage Stocken,

Wann vor der schneegen Zeit rastlosen schweren Flocken

Die Langeweile, die aus trüber Stumpfheit kam,

Die schreckliche Gestalt der Ewigkeiten nahm.


Nun bist, belebter Staub, allein und unbeachtet,

Du ein Granit, um den ein dumpf Entsetzen nachtet,

[63] Entschlummert wie im Dunst der Wüsten Afrikas,

Gleich einer Sphinx, die längst der nichtge Mensch vergaß,

Die keine Karte nennt, und die vom Gram umsponnen

Ihr grimmes Lied nur singt im Strahl der Abendsonnen.

Quelle:
Baudelaire, Charles: Blumen des Bösen. Leipzig 1907, S. 62-64.
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Die Blumen des Bösen
Les Fleurs du Mal /Die Blumen des Bösen: Franz. /Dt
Die Blumen des Bösen: Französisch/Deutsch
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