149. Der Geist Osschaert

[120] Ganz Holland ist voll Spukgeister, Kobolde und Tückebolde; die stillen Flächen, die weiten Ebenen, die tiefen Gewässer – das flüsternde Röhricht, das murmelnde Wellenrauschen – aus allen brechen und sprechen die Stimmen der Natur geheimnisvoll, und des Volkes eigner Sinn gibt sich dem geisterhaften Geheimnis gern gefangen.

Im Wanslande geht ein Geist um, der Osschaert heißt, der treibt viel mannigfaltigen Spuk, guten und schlimmen, recht nach Koboldnatur. Er teilt alle Eigenschaften des Kludde, des Lodder und des langen Wapper, macht sich groß, macht sich klein, macht sich sichtbar, macht sich unsichtbar, wandelt in Tiere sich um, wirft Trunkenbolde zur Abkühlung ihrer Saufhitze in manch ein kaltes Bad, äfft als Esel die menschlichen Esel, legt sich den Bezechten auf den Rücken, daß sie ihn huckepack tragen müssen, wie die Vollzapfen im thüringischen Städtchen Ruhla ihren Bieresel, so daß sie, wenn sie es schon satt haben, es noch satter kriegen, und dabei lacht er auch so herzlich, so laut und so wunderschön, wie nur immer ein Esel lachen kann; noch lieber aber kommt er vom Esel aufs Pferd als vom Pferd auf den Esel, wie so viele Gute zu kommen pflegen. Des Osschaerts Natur ist echt holländisch-amphibisch, er ist, gleich seinen gespenstischen Kumpanen, die oben genannt wurden, zu Land und zu Wasser heimisch; er handhabt Wasser und Land ganz nach seinem Belieben. Eines Tages ging ein alter Gärtner vom Dorfe zur nahen Stadt. Es war noch früh am Tage, aber dunkel, denn es war Winterzeit. Da sah er ein greulich Ding auf sich loskommen und simulierte aus, das möge wohl gar der Osschaert sein, wich ihm aus – sprang etwas hastig neben den Weg auf eine Wiese. Das Ding sah ihm nach und verschwand. Wie der Gärtner von der Wiese wieder auf die Heerstraße lenken wollte, fand er sich abgeschnitten und zwischen lauter Wassergräben, die in Holland das Allerhäufigste sind, was dort zu finden. Nun hatte aber der gute Mann Eile und[120] war ihm gar nicht einerlei, daß er zwischen den Kanälen von einem zum andern irrte und doch über keinen hinwegkommen konnte, denn sie waren alle zu breit, und wie tief sie waren, das konnte man so eigentlich nicht wissen, gerade wie jener gute Schulrat bei einer Schulmeisteramtskandidatenprüfung sagte, als er die Frage nach der Höhe des Berges Sinai zur Beantwortung aufstellte und neben denen, die sie nicht beantworten konnten, er sie selbst auch nicht beantworten konnte: Man kann es so eigentlich nicht wissen. Da wurde dem alten Gärtner das Ding zu bunt, und er tat den Mund auf und tat einen Fluch, daß der Schnee sich erschrak, der auf den Baumästen lag, und herunterfiel. Da plumpste ihm aber gleich eine schwere Last auf den Rücken und spornte ihn, wie ein Reiter sein Roß, nach dem breitesten der Gräben hin und trieb ihn hinein, nolens volens, da half kein Zittern vor dem Froste. Und siehe als der Mann in den breiten Graben trabte, da machte er keinen Schuh naß, denn der Graben war gar kein Graben, sondern die salztrockne Heerstraße, aber seinen Aufhuck, o den behielt er und mußt' ihn noch eine gute Viertelstunde tragen und Lastgaul, wo nicht -esel sein, bis ihm eine Bäuerin begegnete, die eine Kiepe (Tragkorb) von Weidengeflecht trug, da hopste der Osschaert hinein, und jenem ward es leicht, der Frau aber schwer; sie wußte gar nicht, was sie auf einmal so Schweres trug, und stand und nahm den Korb ab und giekte hinein. Da flog ihr eine Fledermaus ins Gesicht aus dem Korbe, und sie tat einen Schrei, und die Fledermaus wurde so groß wie ein Mondkalb und lachte, daß es durch Mark und Bein drang.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 120-121.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Deutsches Sagenbuch
Gesammelte Werke. Märchenbücher / Deutsches Sagenbuch: Zwei Theile in zwei Bänden
Deutsches Sagenbuch (German Edition)