150. Die Mahr

[121] Was in andern deutschen Landen der Alp heißt oder die Trud, die grausen Nachtspuke, die die Menschen quälen, das ist in Holland und den Niederlanden die Mahr. Aber die Sagen von ihr sind häufiger und viel fürchterlicher als im innern Deutschland. Die Mahr ist nicht eigentlich ein Gespenst, sie ist eine dämonische Qual, von Menschen gegen Menschen verübt. Wer eine Mahr ist, deren Seele zieht aus, andere zu peinigen, zu reiten, wie der richtige Volksausdruck ist, und es ist das Sprüchwort: Reitet dich die Mahr! nicht viel anders zu verstehen als das: Reitet dich der Teufel! Absonderlich üben böse Hexenweiber das teuflische Mahrreiten. Zu Harlem ist's in einem reichen Hause geschehen, daß ein Mädchen unversehens in der Schlafkammer eines Knaben nackt am Boden liegend gefunden ward, neben ihr ein Besenstock, und das Mädchen schrie und jammerte. Als es gefragt wurde, bekannte es: Ich wachte in der Nacht, sah, wie meine Mutter aufstand, sich auszog, mit einer Salbe sich strich, einen Stock nahm und darauf zum Fenster hinausritt. Da stieg ich auch auf, holte auch einen Besenstock, strich mich auch mit der Salbe, fuhr auch aus dem Fenster, da kam ich über dieses Haus, ward hier hereingeführt, da lag meine Mutter auf des Knaben Brust gleich einer Mahr. Ich schrie laut vor Schreck: Jesus Maria!, da fuhr alsbald meine Mutter auf und mit geballten Fäusten an mir vorbei durchs Fenster fort.

Als das Mädchen solches erzählt, wurde die Hexe verhaftet und gestand, daß sie in jeder Nacht da oder dort die Leute als Mahr gequält, und wurde verbrannt zur gerechten Strafe.

Bei Vilforde fanden Schnitter ein Weibsbild liegen, die lag wie tot, doch war sie nicht kalt wie eine Tote, aber sie atmete auch nicht wie eine Schlafende. Ein Hirte, den die Schnitter herbeiriefen, sprach: Das ist eine Mahr, die ist ausgezogen, einen andern zu quälen. Die Schnitter wollten's gar nicht glauben, aber der Hirte sagte: Harret nur, ihr sollt Wunder sehen! Und neigte sich zu der Liegenden und flüsterte ihr ein paar Worte ins Ohr, da kam ein klein Tierchen, fingerslang, weither gelaufen, blitzgeschwind, das kroch der Frau in den Mund. Der gab nun der Hirte einen Schub, daß sie um und um kollerte, da wachte sie auf, schaute starr sich um und flüchtete rasch davon.

Einen jungen Menschen quälte jede Nacht die Mahr, er liebte ein Mädchen,[121] das ein Kamerad von ihm auch liebte, ohne daß er's wußte, und klagte diesem seine Qual. Da sprach der Kamerad: Folge mir und tue das: halte gegen deine Brust ein wohlgespitztes Messer mit der Spitze, wenn du dich zu Bette ge legt hast, aber schlafe nicht ein. Das war ein Teufelsrat, denn der andere rechnete, wenn die Mahr auf jenen falle, solle sie ihm das Messer in die Brust stoßen, damit er des Nebenbuhlers ledig würde. Jener aber befolgte den Rat, nur verkehrt, denn er hatte das Richtige vergessen und hielt die Spitze und Schneide des Messers über sich; wie die Mahr auf ihn fiel, stach sie sich durch und durch und kam nimmermehr wieder.

Selbst Pferde wurden von der Mahr geritten, wie denn das Wort Mahr selbst so viel ist als Pferd, wovon in deutscher Sprache noch die Worte Marstall und Mähre üblich sind, daher auch bei der bösen Trudentat der Begriff von reiten und geritten werden. Die Mahr ist aber selbst bisweilen Vampir, und ebenso vertauscht sie Kinder gegen Wechselbälge. Wer den Kindern abends ein Kreuz über Wickel und Wiege macht, hat nichts von der Mahr für sie zu fürchten.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 121-122.
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