297. Das Fräulein vom Willberg

[217] Nahe bei Höxter bildet die Lage der drei Dörfer Godelheim, Amelunxen und Ottbergen ein Dreieck, durch welches die Aa fließt. Godelheim gegenüber liegt der Wiltberg oder Willberg, auf dem ist es nicht geheuer, vorzeiten wohnten Hünen auf ihm, die sich mit den Hünen auf dem nahen Brusberg viele zentnerschwere Steinkugeln zuwarfen. Noch sieht man mitten im Tale das tiefe Loch, das einmal eine solche Kugel, die zu kurz geworfen wurde, in den Erdboden schlug. Ein Fräulein wandelt am Willberge herum und erscheint bisweilen und begabt die Menschen, wenn sie verständig sind.

Zwei junge Bursche aus Wehrden, Peter und Knipping haben sie geheißen, gingen in den Wald nach Vogelnestern, der eine war erstaunlich faul, legte sich unter einen Baum und schlief ein, und das war der Peter. Knipping verlor sich im Walde und suchte Nester. Da zupfte den Peter etwas am Ohr. Er wachte auf, sah sich um und sah nichts. Das geschah, nachdem der faule Peter wieder eingeschlafen war, zum zweiten und endlich gar zum dritten Male. Da mochte der Peter nicht länger liegenbleiben an einem so unruhigen Ort und stand auf, einen ruhigeren zu suchen, wo er im Frieden schlafen könne. Siehe, da ging vor ihm her eine weiße Jungfer, die knackte Nüsse auf, warf die Kerne zur Erde und steckte die Schalen in die Tasche und verschwand. Peter las die Nüsse auf und aß sie, und es freute ihn, daß er nicht die Plage gehabt, sie selbst aufknacken zu müssen, denn das wäre ihm schon zu viel Arbeit gewesen. Da Peter nun den Knipping wiederfand, erzählte er ihm, was ihm begegnet war, und zeigte ihm den Ort, wo das wandelnde Fräulein verschwunden war, danach machten sie sich Merkzeichen, holten noch ein paar Kameraden und gruben an derselben Stelle. Da fanden sie ihr Glück, vieles Geld, so viel sie einsacken konnten. Am andern Tage wollten sie mehr holen, da war aber alles verschwunden. Peter war ganz glücklich,[217] er baute sich von seinem Geld ein Haus, darin er herrlich schlafen konnte.

Ein anderer älterer Mann, auch aus Wehrden, ging nach Amelunxen, um auf dortiger Mühle Korn zu mahlen. Auf dem Rückwege ruhte er ein wenig aus am Teich im Lau, da erschien ihm das Fräulein vom Willberg und sprach zu ihm: Trage mir zwei Eimer voll Wasser hinauf auf die Stolle vom Willberg. Solches tat der Mann, und als er die zwei Eimer voll Wasser auf den Gipfel des Berges gebracht, sprach das Fräulein: Morgen gehe nach Ottbergen, suche den Schäfer auf und bitte ihn um den Blumenbusch, den er auf seinem Hute trägt, dann komme zu dieser Stunde wieder. Auch dieses tat der Mann, ungern gab ihm der Schäfer den Blumenbusch, ein schönes Jungfräulein hatte ihm denselben geschenkt, er hatte aber nichts damit anzufangen verstanden, wußte nicht, daß das Fräulein vom Willberg die Geberin und daß im Busch die Wunderblume war, vor der sich alle Schlösser und Riegel auftun. Als jener mit dem Busch zum Fräulein auf den Berggipfel kam, sah er eine vorher nie erblickte eiserne Türe, mußte den Blumenbusch vor das Schloß halten, und da sprang die Türe auf. In einer Höhle sah der Mann ein uraltes graues Männlein sitzen, dem war der Bart durch den Tisch gewachsen, und ringsum standen Schätze zu Hauf. Über dem Tisch hing ein goldener Kronenleuchter. Jetzt begann der Mann einzusacken und legte, die Hände frei zu haben, den Blumenstrauß auf den Tisch. Das Fräulein sprach zu ihm: Vergiß das Beste nicht. Da langte der gute Mann nach dem goldenen Kronenleuchter. Da hob das graue Männlein seine Hand und gab ihm eine Dachtel. Des erschrak der Mann über alle Maßen und eilte von dannen, ließ die Blumen liegen und hörte nicht auf des Fräuleins wiederholten Ruf: Vergiß das Beste nicht! Krachend flog die Gewölbetüre hinter ihm zu. Als er drunten am Berge war, angesichts Godelheim, wollte er seinen Schatz zählen – da fand er statt Geldes in seinen Taschen eitel Papierzettel, es stand auf jedem ein Wappen und ein Geldwert. Der gute Mann konnte aber nicht lesen, was daraufstand, und warf das Papier in die Aa, da floß es hin, sein Glück. Es war das erste Papiergeld.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 217-218.
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