333. Die Spinnerin im Mond

[239] In einem Dorfe bei Salzwedel, es könnte Wiebelitz gewesen sein, lebte ein altes armes Weiblein, hatte eine einzige Tochter, die hieß Marie, und das war gar ein geschicktes Kind und half der Mutter leichtlich über die Armut hinweg. Marie konnte täglich beinahe zwei Zahlen Garn spinnen, und ihr Faden war unvergleichlich gleich und fein. Aber so fleißig die Marie war, so lebensfroh war sie und in der Spinnenkoppel (Spinnstube) stetig die Lustigste, zumal wenn die Rädlein beiseite gesetzt wurden und der Tanz anging, der spät genug aufhörte. Der Mutter war das gar nicht lieb, daß das Töchterlein zum öftern bis nach Mitternacht umhertollte und ihre Ermahnungen sich so gar wenig zu Herzen nahm. Nun war wieder ein Winter fast zu Ende, und Marie war der Fleiß selbst gewesen, und es kam der Abend von Mariä Lichtmeß, wo noch einmal Spinnekoppel sein sollte, den Winter zu beschließen, denn: Lichtmeß muß man die Wurst bei Tag eß', lautet das Sprüchwort, und die Mutter sprach zur Tochter, als diese ihr Rädchen aufnahm, um fortzugehen: Liebes Kind, heute ist ein Marientag, heute darf kein Kind ungehorsam gegen die Eltern sein, sonst straft es der Himmel alsogleich, darum versprich mir, daß du heute nicht wieder bis nach Mitternacht ausbleibst, sondern vor Mitternacht heimkommst, und daß du heute nicht zum Tanze gehst, ich verlasse mich darauf. Marie versprach mit nassen Augen, was ihre Mutter verlangte, und nahm ihr Rad und ging. Es wurde sehr fleißig gesponnen, aber nun kamen die jungen Bursche und hatten im Wirtshause ein paar Prager Musikanten gefunden, das war etwas Neues, die mußten mit, und nun ging das Tanzen los. Marie wollte fort, wollte der alten Mutter Wort halten, allein die Bursche und die Mädchen ließen sie nicht fort, sie mußte mit an den Reigen, die Spielleute pfiffen und fiedelten auch gar zu schön. Und als die Marie einmal im Tanzen war, da ging sie nimmer davon, da konnte die Alte lange warten, denn Tanzen war Mariens Wonne und ihr Glück. Und da ging die Mitternachtstunde vorüber, ehe sie es nur dachte, und als der lustige Kreis das Haus verließ, wurden die Mädchen mit Musik nach Hause gebracht und bekamen schöne Ständchen, das hallte gar lieblich durch die helle Mondnacht und die tiefe Stille. Da kamen sie auch am Kirchhof vorbei, dessen Tor offen stand, und stand eine alte Linde darauf, darunter war ein freier ebener Raum, und dahinein gingen die Tänzer und die Spielleute und begannen von neuem den Tanz. Erst schauerten und scheuten die Dirnen, dann folgten sie doch, halb gezwungen, und endlich auch Marie. Die alte Mutter aber wartete daheim und weinte über ihr Kind, und da sie von weitem den Freudenschall hörte, dachte sie gleich, dabei werde die Marie nicht fehlen, und machte sich auf und kroch aus dem Häuschen, ihr Kind zu holen. Da sah sie nun zu ihrem Schreck und Zorn ihre Marie unter den Kirchhofspringern und rief ihr zu mit strengem Gebot, sogleich nach Hause zu folgen. Aber die Maid rief: Ei Mutter, der Mond scheint ja noch so hell und schön! Geh nur hin, ich komme bald! Da hob die Alte ihre beiden dürren Hände zum Himmel auf und schüttelte ihre grauen Haare, die ihr wild um das Haupt hingen, und schrie im wilden Grimme: Ei daß du Rabenkind im hellen Monde säßest fort und fort und hättest immer und ewig deine verfluchte Spinnekoppel droben oder beim Teufel und seiner Großmutter! Und wie die Alte diesen Fluch gesprochen, schlug sie hin und war tot, Marie aber behielt nicht Zeit zum Jammern und Klagen, samt ihrem Rädchen ward sie schnell entrückt hinauf in den Mond, da sitzt sie, da sinnt sie, da spinnt sie – wenn der Mond recht hell scheint, kann man sie gar deutlich sehen, und all ihr wunderzartes überfeines Gespinst, das streut sie vom Mond herab, zum Frühlingsbeginn, wann die Spinnekoppeln enden, und im Herbst,[239] wann sie beginnen und die Abende sich längern, da führt es der Wind an hellen Tagen dahin und dorthin, und schwimmt weiß durch die Luft und zieht regenbogenfarbig glänzend von Strauch zu Strauch, von Blume zu Blume, und die Leute nennen es Marienfäden, Marienseide, fliegenden Sommer.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 239-240.
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