356. Es spukt in Tegel

[250] – – Wir haben ja aufgeklärt!

Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel,

Wir sind so klug, und dennoch spukt's in Tegel,


läßt Altmeister Goethe im Faust den Proktophantasmisten sagen. Ja, es hat sehr in Tegel gespukt. Tegel ist ein ehemaliges Jagdhaus des Großen Kurfürsten, das in der Umgegend zum Unterschiede vom Dorfe Tegel Schloß Tegel heißt. Dort nistete sich zu Ende des vorigen Jahrhunderts ein Poltergeist ein, der Tag und Nacht rumorte und den Bewohnern keine Ruhe ließ. Zunächst entsprach dieses Gespenst seiner Natur durch Poltern, dann begann es mit Steinen nach den Leuten zu werfen, welche Steine zum Überfluß sehr heiß waren und mutmaßlich unmittelbar aus dem Kalkofen der Hölle. Man hörte es auch mit Peitschen in den Stuben knallen, und auf diese Weise war seine Gesellschaft keinesweges angenehm. Mit dem Feuer ging dieses Gespenst ganz gefährlich um, und die Eßwaren ließ es auch nicht unangetastet. Auch zeigte es sich bisweilen sichtbar, bald groß, bald klein, bald schwarz, bald weiß, bald eins, bald zwei, auch zu dritt beliebte es sich sehen zu lassen. Und war doch eine Zeit, wo die Aufklärung im schönsten Gange, im blühendsten Wachstume war. Ganz Berlin war voll davon, in allen Kreisen der Gesellschaft wurde von nichts gesprochen als von dem Spuk in Tegel, Bücher wurden darüber geschrieben – und endlich ist der Geist wieder hinweggekommen, man hat nicht erfahren, wohin. Einige sagten, er sei in den Tegelsee gebannt worden, Spötter aber behaupteten, der damalige Besitzer des kleinen bescheidenen Jagdschlößchens, der bekannte Buchhändler Nicolai, habe ihn in die von ihm besorgte kritische Zeitschrift Allgemeine deutsche Bibliothek gebannt, darin der Tegler Poltergeist hernach noch oft genug Rumor gemacht habe.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 250.
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