X

[205] Der Arzt hatte am Morgen des nächsten Tages den ihm etwas beschwerlichen Auftrag seiner Base zu besorgen, und der Gräfin ihre Ankunft und ihren Besuch für denselben Vormittag zu melden; denn wie sehr er sich auch mit dieser Verwandten innerlich versöhnt hatte, so kostete es ihm doch Viel, seinen Hochmuth zu besiegen, und sie als Verwandte und zugleich als die ehemalige Dienerin der Gräfin zu bezeichnen. Diese war sichtlich erschreckt und erfreut durch die unerwartete Nachricht, und suchte, sobald sie nur Fassung gewann, den Arzt auf eine geschickte Art über alle beim Prediger geführten Gespräche auszufragen, aber ihre Unruhe wurde nicht gehoben, denn jenes Seele war besonders davon erfüllt, wie heldenmüthig er sich nach seiner Meinung dem Verräther, dem jungen Lorenz, gegenüber benommen hatte.[205]

Er hatte die Gräfin kaum verlassen, als diese Dübois rufen ließ, um ihm das Unerwartete mitzutheilen und ihn zu bitten, die ehemalige Dienerin zuerst zu empfangen, um ihr die nöthige Schonung zu empfehlen. Der alte Mann war bereit zu thun, wozu sein eigenes Herz ihn trieb, und er begab sich hinunter, um die Ankommende zu empfangen, ehe sie einen Diener des Hauses sprechen konnte, denn der Haushofmeister kannte aus früheren Zeiten ihre große Redseligkeit und konnte nicht wissen, ob die Veränderung ihres Standes sie zurückhaltender gemacht haben würde. Seine Geduld wurde auf keine lange Probe gestellt; denn kaum war eine Viertelstunde verflossen, so nahte sich die Erwartete im höchsten Putz mit großen Schritten. Die Tochter folgte der Mutter, denn es gelang ihrer Anstrengung nicht, sich in gleicher Linie mit derselben zu erhalten, und kaum hatten Beide die Schwellen des Hauses überschritten, als die Mutter, ihren alten Freund erblickend, ihren Shawl heftig zurück warf, so daß er zur Erde fiel, und mit einem lauten Ausrufe der Freude ihn zu umarmen eilte. Dübois erwiederte diese Zeichen der Freundschaft Anfangs mit Herzlichkeit; da aber die oft wiederholten Umarmungen ihn beinah zu ersticken drohten, und die schallenden Küsse ein spöttisches Lächeln auf den Gesichtern einiger hinzugetretenen Bedienten hervorriefen, so entzog er sich höflich den Armen, die ihn[206] umschlossen, und bat seine Freundin, erst bei ihm einzutreten, ehe sie ihren Besuch bei der Gräfin ablegte. Bereitwillig folgte die Base des Arztes dieser Einladung, von der Tochter begleitet, die den Shawl der Mutter vom Boden aufgehoben und ihn ihr ruhig wieder umgelegt hatte.

Der Haushofmeister bewirthete seine Gäste mit einem Frühstück, während dessen er der Wittwe des Professors alles abfragte, was er zu wissen begehrte, und ihr rathen konnte, so gelinde als möglich ihrer ehemaligen Herrschaft mitzutheilen, was diese wissen mußte. Unter Strömen von Thränen war die Unterredung geführt worden, und die geduldige Marie saß während ihrer langen Dauer einsam am Fenster eines andern Zimmers, wohin sie die Mutter, nachdem sie dieselbe mit Kuchen und Chokolade versorgt, verwiesen hatte, um ungestört mit ihrem alten Freunde zu sprechen.

Endlich war das Frühstück geendigt und das Nöthige verabredet; die Thränen wurden getrocknet, der Shawl in die gehörigen Falten gelegt, und der Haushofmeister bot seiner Freundin den Arm, führte sie mit höflicher Aufmerksamkeit die große Treppe hinauf und geleitete sie in die Zimmer ihrer ehemaligen Herrschaft.

Die Gräfin trat ihnen entgegen. Meine gute Freundin, rief sie, indem sie die ehemalige Dienerin erblickte, und wollte sie umarmen; diese aber ergriff mit Heftigkeit beide[207] Hände der ehemaligen Gebieterin, die sie abwechselnd mit Küssen bedeckte und mit Thränen überströmte. Sobald die Gräfin ihre Hände befreien konnte, umarmte sie die Wittwe des Professors und sagte: Wie freut es mich, meine Liebe, Sie wieder zu sehen und nach so vielen Jahren zu finden, daß die Zeit den Antheil, den Sie an meinem Schicksal nehmen, nicht geschwächt hat.

Mitten in ihrer Rührung wurde die Base des Arztes empfindlich und sagte: Millionen Thränen habe ich um Ihretwillen geweint und gewiß nicht verdient, daß Sie mich nun so fremd behandeln, und mich nicht mehr Du nennen und Leonore, wie in früheren Zeiten so viele Jahre hindurch.

Mein Herz ist darum nicht weniger warm, sagte die Gräfin, indem sie die Hände der erzürnten Frau drückte, aber dieß muß um Ihretwillen so bleiben; auch würde sich Ihr Neffe, der Arzt, gekränkt fühlen, wenn es anders wäre.

Nun ja, erwiederte besänftigt dessen Base, den Thoren kenne ich ja mit seinem Hochmuthe. Lassen Sie uns überhaupt jetzt nicht von solchen Kleinigkeiten sprechen, sagte die Gräfin mit bewegter Stimme, meine gute Leonore. Sie kennen mein Unglück; haben Sie mir gar nichts Tröstliches zu sagen?

Die Wittwe des Professors ward durch diese Frage auf ein Mal wieder in den tiefsten Schmerz versenkt. O Gott![208] rief sie aus, was haben Sie alles leiden müssen, und wie hat der Kummer Sie vor der Zeit alt gemacht; wie mager sind die schönen weißen Hände geworden, und wo ist die herrliche Farbe geblieben? Blühten Sie doch wie eine Rose, und es war ganz natürlich, daß der gute Herr Blainville so verliebt blieb, ob Sie gleich schon lange verheirathet waren.

Meine Liebe, sagte die Gräfin aus beklemmter Brust, schonen Sie mich mit Erinnerungen, durch die Sie mich tödten können.

Die Professorin weinte und sagte unter heftigem Schluchzen: Sie haben Recht, ach! Sie haben Recht, aber ich kann den Schmerz nicht bezwingen, wenn ich Sie ansehe.

Reden Sie nicht von mir, sagte die Gräfin mit großer Anstrengung, sprechen Sie von dem Schicksale des unglücklichen Kindes.

Ich weiß ja nichts von dem kleinen Herrn, klagte die Wittwe des Professors und sammelte sich endlich so weit, um, von Thränen und Klagen unterbrochen, ihrer ehemaligen Herrin erzählen zu können, wie sich ihr Schicksal gestaltet hätte, nachdem sie die Gräfin verloren. Diese, obgleich zerschmettert von dem Worte der Dienerin, durch das ihre letzte dunkle Hoffnung verloren zu gehen schien, bezwang dennoch ihr Gefühl und hörte mit ängstlicher Aufmerksamkeit[209] den Bericht, um doch vielleicht noch eine schwache Spur des Verlornen darin zu finden.

Ach! hob die ehemalige Dienerin ihre Wehklage an, wie war uns zu Muthe, mir und der Mamsell Adele, als wir damals in Paris unsern Einkauf gemacht hatten und nun ruhig nach Hause gegangen waren. Mein Gott, mein Gott! als wir die offenen Thüren erblickten, als wir ankamen, die geöffneten Schränke und die grausige Unordnung. Ihr schöner Hut lag auf dem Boden, und es hatte Jemand mit schmutzigen Füßen darauf getreten, der Wirth des Hauses stand im Wohnzimmer und schalt uns, so wie wir ankamen, schändliche Aristokraten; ich wollte ihm antworten, wie sich's gehörte, denn ich hatte französisch genug dazu in der Gottvergessenen Stadt gelernt, aber Mamsell Adele rief heftig: Wo ist Herr Blainville und seine Gemahlin? Herr Blainville, wiederholte plötzlich der Wirth, von dem weiß ich nichts, der Vaterlandsverräther, der verkappte Graf ist, wo er hingehört, im Gefängnisse. Mein Bruder, mein unglücklicher Bruder! schrie Mamsell Adele in Verzweiflung, und wurde bleich und starr wie eine Leiche. So groß mein Schmerz war, so ging mir doch ein Licht auf, und ich war recht böse, daß Sie mir die Sache nicht gehörig vertraut hatten, ich hätte nichts verrathen und hätte den gehörigen Respekt vor Mamsell Adele haben können, statt, daß ich sie[210] geärgert hatte, wo ich konnte, denn ich hielt sie für hochmüthig und von Ihnen begünstigt, und ich dachte, ich wollte sie dadurch aus dem Dienst treiben, denn sie kam mir unnöthig im Hause vor. Jetzt sah ich das alles anders ein durch dieß einzige Wort, das sie im Unglücke und im Schrecken ausgesprochen.

O mein Gott! seufzte die Gräfin und bedeckte ihre überströmenden Augen mit den Händen. Die rohe, aber gutmüthige Erzählerin sah, welche Schmerzen ihre Worte erregten, und zog mit sanfter Gewalt die Hände der ehemaligen Herrin von den weinenden Augen derselben zurück, um sie mit Küssen und mit warmen Thränen zu bedecken. Weiter, meine Liebe, sagte die Gräfin mit zitternder Stimme, um Gottes Willen fahren Sie fort.

Ja, weiter in der unglücklichen Geschichte, rief die Wittwe des Professors, Sie wissen nicht, wie mir das Herz blutet, wenn ich an all den Jammer und Trübsal denke. Ich wußte nicht, was ich mit Ihrer armen Schwägerin anfangen sollte, die bleich und starr da saß, ohne zu weinen, ohne zu reden, ja ohne ein Glied zu rühren. Ich war ganz allein mit ihr, der Hausherr hatte uns wieder verlassen, und ich wußte nicht, was ich anfangen sollte, denn ich hatte nicht den Muth, die Arme zu verlassen und einen Arzt zu rufen. Endlich brachte ich sie doch wieder etwas zur Besinnung, sie sprang[211] nun auf ein Mal auf, faßte heftig zitternd meinen Arm und sagte leise: Komm, wir müssen meinen Bruder aufsuchen. Ich war bereit und wir stürmten der Thüre zu, ohne zu wissen wohin. In der Thüre begegnete uns ein alter Herr, den das arme Fräulein Adele zu kennen schien. Mit gerungenen Händen fiel sie vor ihm auf die Knie und rief: Helfen Sie, retten Sie! Der gute Mann weinte selber und sagte: zuerst müssen Sie fort von hier und zwar sogleich, damit Sie nicht eben falls verhaftet werden, denn alsdann würde es noch schwieriger werden, etwas für Ihren Bruder zu thun. Ich fürchte, der Herr des Hauses ist schon ausgegangen, die Anzeige zu machen, denn ich traf ihn nicht zu Hause, deßhalb lassen Sie uns eilen. Als ich diese Worte hörte, kam mir schnell von Gott der gute Gedanke, daß Ihnen nicht damit geholfen wäre, wenn uns die unmenschlichen Jakobiner einsperrten, und ich sagte also dem guten alten Manne, der sich unserer annehmen wollte, daß man Mamsell Adele gar nicht fragen müsse, denn sie sei so außer sich, daß der Hausherr mit der Wache kommen würde, ehe sie nur begriffe, wovon die Rede sei. Der verständige Mann sah das ein, und wir faßten jeder die arme Weinende unter einem Arm und brachten sie mit Gewalt die Treppe hinunter in den Wagen des alten Herrn, und der Schurke, der Wirth, behielt nichts als das leere Nachsehen, wenn er mit seinen[212] Jakobinischen Wachen wird angekommen sein. Wie lange wir gefahren sind, weiß ich nicht, denn sowohl ich, als unser alter Begleiter, wir waren während des Weges nur bemüht, die arme Mamsell Adele ein wenig zu beruhigen, aber Gott weiß, es gelang uns schlecht. Endlich hielt der Wagen vor einem kleinen Hause in der Vorstadt; der alte Herr hieß mich ausstiegen und ging mit mir in dieß unscheinbare Haus, das, nachdem er drei Mal leise geklopft, geöffnet und hinter uns sogleich wieder verschlossen wurde. Eine alte Frau kam uns entgegen, und ich hörte wohl, wie mein Führer ihr auftrug, für mich auf's Beste zu sorgen, aber um Gottes Willen mich nicht ausgehen zu lassen, weil wir alle durch meine Unvorsichtigkeit unglücklich werden könnten. Als er mich verlassen wollte, fragte ich, was aus Fräulein Adele werden sollte. Er antwortete mir, wir dürften nicht zusammen bleiben, es wäre für uns beide sicherer, wenn Jede einen andern Zufluchtsort fände, er sei ein Freund ihres Hauses und sorge für unser aller Bestes mit großer eigener Gefahr.

Ich hatte lange genug unter den Heiden in Paris gelebt, ich konnte also wohl einsehen, daß wir behutsam sein müßten, und fügte mich in mein Schicksal. Als ich mit der guten Frau allein war, hatte ich Zeit genug, über unser Unglück nachzudenken, und ich brachte die ganze Nacht weinend und jammernd zu, denn nun, da die größte Angst vorbei[213] war, dachte ich auch an unsern kleinen Herrn. Endlich am Abende des andern Tages kam der Herr wieder, der mich hieher geführt hatte, und sagte mir, er würde mich des andern Abends um dieselbe Zeit abholen und zu einer deutschen Herrschaft bringen, die mich als Kammerjungfer mitnehmen und in Frankfurt am Main zurücklassen wolle, von wo ich meine Heimath leicht erreichen könne. Ich fragte nach Ihrem Schicksale. Er trocknete sich die Thränen und sagte, man müsse auf Gottes Beistand hoffen, er könne mir nichts darüber sagen. Als ich nach Fräulein Adele fragte, antwortete er etwas ungeduldig, er könne mir weiter keine Nachricht geben, als nur die Versicherung, daß sie außer Gefahr sei, und ich sollte froh sein, daß er auch mich in Sicherheit bringen wollte. Ich fragte ihn, ob ich nicht noch ein Mal nach unserer Wohnung zurück gehen könne, um meine Sachen abzuholen, die dort alle zurück geblieben waren. Er wurde hierauf recht grob und sagte, es sei ein Zeichen großer Dummheit, daß ich um der Lumpen Willen dahin zurück zu gehen dächte. Er besänftigte sich aber bald und befahl mir, ich sollte bis zum nächsten Abende zusammenrechnen, wie viel der ganze zurückgelassene Kram werth sei, er wolle ihn mir baar bezahlen, ich solle aber weder mich, noch ihn deßhalb unglücklich machen. Ich war damit zufrieden und fragte ihn nicht weiter nach unserm kleinen Herrn, denn ich dachte[214] mir schon, daß er doch nicht aufrichtig antworten würde. Kaum aber hatte er das Haus verlassen, so fing ich an die alte Frau, die es bewohnte, mit Bitten und Thränen so lange zu bestürmen, bis sie selbst zu weinen anfing und mir zu helfen versprach; denn da sie mich nicht recht verstand, so glaubte sie, der kleine Herr sei mein eigenes Kind, und ich ließ es geschehen, daß sie es glaubte, und gab gern zu, daß sie mich für eine leichtsinnige Dirne hielt, damit sie mir nur helfen möchte. In aller Frühe des nächsten Morgens drückte sie mir einen Hut tief in's Gesicht hinein, hing einen Schleier darüber, gab mir einen Mantel, und nachdem sie sich eben so angethan hatte, verließen wir das Haus, nahmen auf dem nächsten Platze einen Wagen und so ging es fort nach dem Dorfe. Gott, wie schlug mein Herz auf diesem Wege, theils aus Angst, daß man uns verhaften möchte, theils aus Verlangen nach dem lieben Kinde. Wir erreichten glücklich das Dorf, wir fanden das Haus, aber nur zu neuem Jammer. Die Pflegerin unsers kleinen Herrn lag im hitzigen Fieber, von dem Kinde war nichts zu sehen. Die Weiber, die die Kranke warteten, sagten mir, ein alter Herr habe am vorigen Tage das Kind abgeholt und es zu einer Dame in einen Wagen gehoben, die nach des alten Mannes Aussage die Mutter des Kindes gewesen sei. Ich dachte einen Augenblick, Sie selbst hätten Ihr Kind abgeholt,[215] aber ich besann mich bald, daß es nicht so sein könnte, denn Sie würden auch mich wieder zu sich genommen haben, wenn Sie frei gewesen wären. Es war nun nichts weiter zu thun, als den Rückweg mit Thränen anzutreten und den Abend zu erwarten. Als es dunkel geworden, kam der alte Herr richtig, wie er es versprochen. Ich hatte indeß meine Rechnung für Lohn und Kleider gemacht, wie er es verlangt hatte. Er bezahlte mir Alles und schenkte mir noch hundert Franken zur Reise. Da ich ihn in so gütiger Stimmung sah, so wagte ich es, ihm mein Leid mit unserem Kinde zu vertrauen. Er wurde sehr böse und schalt auch die alte Frau, daß wir gegen seinen Befehl das Haus verlassen hatten; als ihm diese aber, um sich zu entschuldigen, sagte, daß sie meinen Jammer und meine Thränen nicht mehr hätte mit ansehen können, weil ein Stein hätte durch meine Klagen bewegt werden müssen, da wurde er wieder sanftmüthig und sagte, da ich so große Treue für meine Herrschaft zeigte, so wolle er die Unbesonnenheit vergeben, und übrigens müsse ich zu meinem Troste glauben, daß Gott ein unschuldiges Kind nicht würde untergehen lassen, wenn ich es auch nicht mehr bei seiner Pflegerin gefunden habe. Das war alles, was ich mit Bitten und Flehen über den kleinen Herrn erfuhr, und ich mußte nun mit dem unbekannten Herrn fort, der mich zu meiner neuen Herrschaft brachte, die beinah kein[216] Wort mit mir sprach. Mit dem frühesten Morgen ging es aus Paris hinweg. Wir reisten Tag und Nacht, bis wir Gießen erreichten. Hier ließen sie mich zurück, und ich hatte nicht einmal erfahren, mit Wem ich die Reise gemacht hatte. Weil ich mir den Fuß beschädigt hatte, mußte ich in Gießen einige Zeit bleiben, und da fügte es Gott, daß ich an meinen alten Professor gerieth. Wie ich mit dem verheirathet war, vertraute ich ihm unser ganzes Schicksal an, denn er war eine treue Seele und ich dachte, er würde vielleicht etwas auskundschaften können über Ihr Schicksal oder über unsern kleinen Herrn. Er schrieb nun nach allen Weltgegenden hin und hatte überall seine gelehrten Freunde, die ihm allerlei Lappalien meldeten, was sie ihre wissenschaftlichen Forschungen nannten, aber das, was mir am Herzen lag, forschte keiner aus. Die Schweizer schrieben ihm, der alte Herr Blainville und Ihre Frau Mutter wären todt; von Ihnen wußte man nichts, und die Franzosen konnten von dem kleinen Herrn gar nichts ausspüren, und so mußte ich mich in Gottes Willen ergeben und dachte gar nicht mehr, daß ich Sie jemals wieder sehen könnte, und hier nun schenkt mir Gott die unvermuthete Freude. Und das bin ich doch eigentlich dem hiesigen Prediger schuldig, denn hätte er nicht in den Zeitungen bekannt machen lassen, daß ich mich hier einer Erbschaft wegen zu melden hätte, so wäre es mir wohl niemals[217] eingefallen, diese Reise zu unternehmen, und wenn mein alter Professor noch lebte, so würde er auch nun einsehen, daß er Unrecht hatte, darüber zu lachen, wenn ich mir aus den Zeitungen nichts vorlesen ließ, als solche Bekanntmachungen und Anzeigen, wo allerlei Sachen verkauft wurden; denn, sagen Sie selbst, was geht mich Bonaparte an, und was brauche ich noch über die Franzosen zu hören? Die habe ich hinlänglich kennen gelernt und den Krieg fühlt man genug, wenn er da ist, man braucht sich nicht um den zu bekümmern, der in der Ferne geführt wird. Solche Anzeigen aber haben ihren Nutzen, und man sollte nicht darüber lachen, wenn vernünftige Menschen sie lesen. Mir wird diese einfältige Neugierde, wie mein seliger Mann meine Leserei nannte, manchen schönen Thaler einbringen, denn ich erhalte nun dadurch die mir zukommende Erbschaft.

Die Gräfin hatte mit ängstlicher Aufmerksamkeit den Bericht ihrer ehemaligen Dienerin vernommen, und sie fand einen schwachen Trost darin. Sie wußte doch nun bestimmt, daß ihre Schwägerin sowohl, als das geliebte Kind in den schrecklichsten Augenblicken ihres eigenen Lebens nicht umgekommen waren. Sie konnten beide leben, und es konnte vielleicht dem Grafen gelingen, diese schwachen Spuren zu verfolgen und die Verlornen aufzufinden. Sie dankte daher der ehemaligen Dienerin für die von ihr bewiesene Treue[218] und bat sie, während ihres hiesigen Aufenthaltes auf dem Schlosse zu wohnen. Die Wittwe des Professors nahm dieß Anerbieten mit Dankbarkeit an und sagte: Es ist nicht Hochmuth von mir, aber erstlich bin ich froh, wieder in der Nähe meiner ehemaligen Herrschaft zu sein, und dann habe ich mir das Bauernleben so abgewöhnt, daß ich es nicht lange bei den guten Leuten, meinen Verwandten, würde aushalten können.

Die Gräfin bat nun, sie möchte ihre Zimmer gleich in Besitz nehmen und alle ihre Sachen nach dem Schlosse bringen lassen, damit bei der Mittagstafel sie sich schon ganz als Hausgenossin fände.

Ich bemerke, rief die Professorin, Sie verlangen, ich soll an Ihrer Tafel speisen, und als die Gräfin dieß bejahte, fuhr sie fort: Nimmermehr werde ich mich dazu entschließen, und wenn ich mir auch das Bauernleben abgewöhnt habe, so habe ich doch keinen dummen Hochmuth bekommen. Sie sind lange Jahre meine Herrschaft gewesen, das werde ich nicht vergessen. Ja, ich habe mich nicht einmal zu der Gesellschaft der andern Professorsfrauen gehalten, wie mein seliger Mann noch lebte, denn ich sah es recht gut, daß ich ihnen zu gering war; ich war ihnen nicht fein, nicht gelehrt genug, aber mit aller ihrer Gelehrsamkeit hatten es ihre Männer nicht so gut, wie mein alter lieber Mann.[219] Der konnte ohne Sorgen leben, brauchte sich um nichts zu kümmern und hatte doch Alles im Ueberfluß, und wenn die Herren Professoren bei uns speisten, so gestanden sie alle aufrichtig, bei uns sei der beste Tisch. So lebten wir still und ruhig; ich pflegte meinen Mann, und hielt mein Kind zur Kirche und Schule an, und sorgte dafür, daß meine Marie früh die Wirthschaft lernte und nicht tausend unnütze Thorheiten. Deßhalb setzten die andern Professorentöchter das arme Kind auch zurück, denn mir fiel es nicht ein, daß es nöthig sei, daß sie in allen Sprachen Liebesbriefe zu schreiben verstehen müsse; eben so wenig braucht sie mit einem Schawl oder mit einer Trommel zu springen, oder auf allen Instrumenten zu klimpern. Auch ist es kein Unglück, wenn sie nicht alle Spielereien zu machen versteht, die im Grunde kein Mensch braucht, denn ich habe gesehen, daß die vornehm erzogenen Mamsellen nachher vor lauter Gelehrsamkeit ihr Haus nicht regieren konnten und mit allen ihren feinen Arbeiten nicht verstanden, wenn es Noth that, ein Hemd für ihren Mann und ihre Kinder zuzuschneiden.

Sie mögen im Ganzen Recht haben, sagte die Gräfin, obwohl ich fürchte, Sie gehen zu weit, was Ihre Tochter anbetrifft; doch Sie sind mir ein so lieber Gast, daß ich wünsche, Sie möchten sich in meinem Hause einrichten, wie es Ihnen am angenehmsten ist.[220]

Wenn Sie mir das erlauben, sagte die Professorin, so werde ich bei meinem alten Freunde Dübois speisen, und meine kleine Marie mögen Sie an Ihren Tisch nehmen, damit sie Manieren lernt, denn da ich sie in der Zukunft mit dem Doktor zu verheirathen wünsche und der so viel auf feine Lebensart hält, so wäre es mir lieb, wenn sie darin nicht hinter ihren künftigen Mann zurückbliebe.

Die Gräfin lächelte, indem sie die Bitte ihrer ehemaligen Dienerin bewilligte, und Dübois, der herbei gerufen wurde, erhielt den Auftrag, die Zimmer im untern Stockwerk der neuen Bewohnerin anzuweisen; zugleich theilte ihm die Gräfin scherzend mit, daß die Frau Professorin seine Gesellschaft der ihrigen vorzöge und an seiner Tafel zu speisen wünsche. Mit großem Ernst erwiederte der Haushofmeister, daß er die Ehre, so ihm seine Freundin erweise, zu schätzen verstehe. Nun, nun, sagte die Wittwe des Professors, sprechen Sie nur nicht mit so großem Respekt, wissen Sie nicht mehr, wie oft sie mich ausgescholten haben, wie wir noch Kameraden waren.

Die Gräfin wünschte die Tochter der Professorin zu sehen, und Dübois eilte, die stille, geduldige Marie herauf zu führen, die während der langen Unterredung zwischen ihrer Mutter und der Gräfin ruhig am Fenster in Dübois Zimmer gesessen hatte.[221]

Als der Haushofmeister das Zimmer verlassen hatte, trat St. Julien ein, um ein Buch von der Gräfin abzuholen, welches sie ihm am vorigen Tage versprochen hatte. So wie die Professorin ihn erblickte, wurde sie bleich und schlug die Hände zusammen. Als der junge Mann die Gräfin anredete, schien seine Stimme einen ähnlichen Zauber, wie sein Anblick auf die ehemalige Dienerin zu üben, denn sie seufzte tief auf und wurde glühend roth. St. Julien, der die Bewegung der Fremden bemerkte, ohne zu ahnen, daß er sie veranlasse, glaubte, sie habe ein Gesuch bei der Gräfin, und verließ deßhalb bald das Zimmer, um durch seine Gegenwart nicht zu stören.

Wer ist dieser junge Mann? rief die Professorswittwe außer sich, die Hände der Gräfin ergreifend, als sie allein waren.

So fällt Ihnen die große Aehnlichkeit auch auf? fragte die Gräfin mit zitternder Stimme, indem Thränen über ihre Wangen flossen.

Mein Gott, mein Gott! rief die Professorin bebend, es ist ja Herr Blainville, wie er leibte und lebte, sogar das Zucken des Mundes, womit er das Lachen unterdrückte, wie er mich in meiner Alteration bemerkte.

Die Gräfin hatte kaum noch Zeit, ihre ehemalige Dienerin mit den Verhältnissen des jungen Mannes bekannt zu[222] machen und sie zu bitten, von allen Leiden, die sie mit einander erlebt hätten, nichts dem Prediger anzuvertrauen, weil es für sie kränkend sein würde, wenn diese Schmerzen ein Gegenstand allgemeiner Gespräche werden sollten, und die Wittwe des Professors hatte kaum feierlich versprochen zu schweigen, als die Tochter derselben blöde und zitternd eintrat, und sich furchtsam der Gräfin näherte, um ihre Hand zu küssen, wie es ihr früher die Mutter befohlen hatte.

Die Gräfin fühlte Mitleid mit dem armen Kinde, das, offenbar durch eine übel angebrachte Strenge der Mutter unterdrückt, kaum zu athmen wagte. Sie sprach gütig mit dem eingeschüchterten jungen Mädchen, konnte aber doch nichts als einzelne Sylben von ihr als Antwort gewinnen. Sie machte hierauf der Mutter den Vorschlag, ihre Tochter ganz bei Emilie wohnen zu lassen, weil junge Mädchen besser zu einander paßten, als zu bejahrten Frauen. Die Professorin fühlte sich geschmeichelt und gab ihre Einwilligung, worauf die Gräfin Emilie zu sich bitten ließ, um ihr ihre neue Freundin vorzustellen. Diese betrachtete mit Theilnahme das zitternde Kind, und die Wittwe des Professors sagte, nachdem sie Emilie mit einem scharfen Blick betrachtet hatte, zur Tochter: So kannst Du denn gleich hier bleiben; ich werde allein zu meinem Vetter, dem Schulzen, zurück gehen und unsere Sachen herschaffen lassen, damit wir[223] noch heute in Ordnung kommen. Die Worte hatte sie mit Härte und Trockenheit an die Tochter gerichtet. Hierauf trat sie zu Emilie, faßte ihre Hand und sagte, mit einer Thräne im Auge: Ich lasse gern mein Kind bei Ihnen, Sie sehen gut und milde aus, und werden eine Waise nicht verspotten, wenn sie auch die feinen Manieren nicht hat, die ich ihr nicht habe geben können und der selige Professor auch nicht. Der gute Mann verstand nichts von Kindererziehung, obgleich er dicke Bücher darüber schrieb.

Emilie drückte die Hand der rohen, aber guten Frau und sagte: wenn Ihre Tochter mir Vertrauen schenken will, so werde ich sie als meine liebe Freundin betrachten.

Lieber Gott, erwiederte die Professorin, was hat so ein Kind zu vertrauen? Das wäre ja ein Unglück, wenn die schon ihre Geheimnisse hätte.

Die Gräfin konnte das Lächeln über dieses Mißverständniß nicht unterdrücken und sagte: Lassen Sie Ihre Tochter ohne alle Sorge bei uns, meine liebe Freundin, und eilen Sie, sich Ihrem Wunsche gemäß einzurichten, damit ich die Freude habe, Sie bei mir recht bald einheimisch zu sehen.

Die Professorin ging und es ließ sich bemerken, daß die blöde Marie nach der Entfernung der Mutter tief aufathmete und sich sichtlich erleichtert fühlte. Sie ließ sich nun[224] auch zum Sprechen bewegen, und obgleich sie in allen Kenntnissen selbst für ihr Alter zurück zu sein schien, so ließ sich doch eine natürliche Munterkeit des Geistes, ja selbst eine Anlage zur Schalkhaftigkeit nicht verkennen, und man bemerkte deutlich, indem sie über ihre häuslichen Einrichtungen sprach, daß sie mit der von der Mutter erhaltenen Erziehung nicht so zufrieden war, wie diese es zu verdienen glaubte, sondern es regte sich in dem jungen Mädchen eine lebhafte Sehnsucht nach allen ihr versagten Kenntnissen, und sie hüpfte fröhlig an Emiliens Hand hinweg, indem sie ihr Glück pries, sich zum ersten Male in ihrem Leben ohne die Gegenwart der Mutter einer jungen Freundin gegenüber zu befinden.

Die Wittwe des Professors besorgte mit gewohnter Thätigkeit ihre Geschäfte und bezog schon vor der Mittagstafel die von Dübois auf dem Schlosse für sie eingerichteten Zimmer. Der Haushofmeister hatte für seine Freundin auf's Beste gesorgt, und sie fand Alles bequem und sauber eingerichtet, auch ein zu ihrer Bedienung bestimmtes Mädchen. Er war ihr auch beim Auspacken und Ordnen ihrer Kleider behülflich und führte sie dann nach dem Zimmer, wo er für sich und seine Gäste die Tafel hatte bereiten lassen, und wo er ihr seinen jungen Freund Gustav vorstellte. In Eintracht setzten sich diese drei zu Tische, und heitere, ungezwungene[225] Gespräche würzten das Mahl. Dübois bediente mit ächt französischer Höflichkeit seine Freundin, für die er ein ungeheucheltes Wohlwollen empfand, der junge Gustav fand sich durch das Beispiel des Haushofmeisters zu gleicher Aufmerksamkeit bewogen, und Beider Bestrebungen wurden von der Wittwe des Professors dankbar anerkannt. Da aber Dübois sie immer Madame anredete, so folgte sein junger Freund auch hierin seinem Beispiele, und dieß verdüsterte, nachdem es einige Male geschehen war, sichtlich die Stirn der Frau Professorin. Mit auffallendem Verdruß wendete sie sich zu dem jungen Menschen und sagte mit ziemlicher Heftigkeit: Mein lieber junger Herr, wenn mich Herr Dübois Madame nennt, so hat das nichts auf sich, wir sind alte Freunde, auch wissen die Franzosen nicht, was sich schickt; sie kennen keinen Unterschied und nennen Alles gradeweg Madame, ein Fischerweib und ihre Königin oder Kaiserin, aber ein Deutscher muß Lebensart lernen, und daher können Sie mich immer nach meinem Titel Frau Professorin nennen, denn selbst der Neid muß es meinem seligen Manne lassen, daß er ein gelehrter Professor war.

Der junge Mann schwieg mit Bestürzung, und Dübois sagte lächelnd: Vergeben Sie mir meinen Fehler, wertheste Freundin, wodurch unser Freund auch zum Irrthum verleitet wurde. Ich werde mir die französische Unhöflichkeit[226] abgewöhnen und den Ihnen zukommenden Titel nicht mehr vergessen.

Gott bewahre, rief seine Freundin, zwischen uns bleibt es beim Alten, aber die Jugend muß anständig erzogen werden, meinen Sie das nicht auch? Freilich, freilich, sagte Dübois lächelnd, und nicht wahr, mein Sohn, fuhr er, zu Gustav gewendet, fort, Du wirst die erhaltene Lehre nicht wieder vergessen? Der Jüngling neigte sich beistimmend, und die Heiterkeit kehrte zu der kleinen Gesellschaft zurück, die ohne weitere verdrießliche Störung ihre Mahlzeit beendigte. –

Quelle:
Sophie Bernhardi: Evremont. Theil 2, Breslau 1836, S. 205-227.
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