XI

[227] Die schüchterne Marie hatte im obern Stockwerke im Speisesaale an der Tafel Platz genommen und hielt sich ängstlich an der Seite ihrer Beschützerin Emilie. Sie konnte ihre Blödigkeit nicht überwinden, und wagte weder zu essen noch ein Wort zu sprechen, so gütig sie auch von allen Seiten aufgemuntert wurde. Die Gräfin bat am Ende, Jedermann möge sie ungestört lassen, weil diese Blödigkeit nur durch die Zeit zu überwinden sei, wo sie sich dann von selbst verlieren würde. Der Arzt fühlte sich gekränkt durch das ungeschickte Betragen seiner Verwandtin und vermuthlichen künftigen Braut; doch tröstete er sich mit dem Gedanken,[227] daß sie eigentlich noch ein Kind sei, dessen Fähigkeiten unter seiner Leitung ausgebildet werden könnten.

Der Obrist Thalheim und seine Tochter, so wie der Prediger nahmen Theil an dem Mittagsmahle, welches durch heitere, freundschaftliche Gespräche zu Mariens Qual verlängert wurde, die erst dann wieder frei athmete, als man endlich die Tafel aufhob.

Emilie und Therese beschlossen nach der Tafel einen Spaziergang in den Garten zu machen und forderten ihre neue Freundin auf, sie zu begleiten. Herzlich froh, aus dem Saale zu entkommen, schloß sie sich gern an, und Emilie fragte, als sie in den dunkeln Baumgängen auf und ab gingen, weßwegen sie denn unter lauter wohlwollenden Freunden so ängstlich gewesen sei. Mein Herz war aus großer Ehrerbietung so beklommen, antwortete das unschuldige Kind. Der Graf meint es gewiß gut mit Jedermann, aber er hat so vornehme Augen, daß mir bange wurde, so oft er mich ansah; vor der Frau Gräfin fürchte ich mich schon weniger, denn sie ist eine Frau, aber auch der junge Herr Graf sieht so vornehm ernsthaft aus und dann der alte Herr Obrist so majestätisch. Wie er hat gewiß der alte König von Preußen ausgesehen, von dem er so viel spricht. Glauben Sie mir, ich kam mir recht unverschämt vor, daß ich mich unterstand, mit allen den Herren zu Tische[228] zu sitzen, und ich weiß nicht, weßhalb sie alle den Herrn St. Julien so zu lieben scheinen, denn der hat doch gewiß ein schlechtes Herz.

Wie kommen Sie darauf? fragte Emilie überrascht.

Bemerkten Sie denn nicht, erwiederte Marie, wie er immerfort meinen Herrn Vetter, den Doktor, zum Besten hatte, und doch sagt er selbst, daß er ihm das Leben gerettet hat.

Aber können Sie denn läugnen, fragte Therese, daß der Doktor etwas sonderbar in seinem Betragen ist?

Ach! das verstehen Sie nicht, antwortete die Kleine empfindlich, das kommt von der Gelehrsamkeit. Ich habe viele gelehrte Herren gesehen, die noch viel sonderbarer sich betrugen, und mein seliger Vater selbst, der ein großer Mann war, wie alle Andern sagten, sah doch auch seltsam genug aus.

Das müssen Sie nur Herrn St. Julien deutlich machen, sagte Emilie ein wenig spöttisch; wenn er seinen Fehler einsieht, wird er ihn gewiß verbessern.

Gott bewahre mich davor, mit dem Menschen zu sprechen, rief die Kleine erschrocken. Er würde ja noch weit mehr Ursache finden, über mich zu spotten, als über meinen armen Vetter.

Sie sind ja sehr gegen ihn eingenommen, bemerkte Emilie.[229] Und Sie kennen ihn so wenig, fügte Therese hinzu, Sie wissen nicht, wie gut er ist, fragen Sie nur Ihren Vetter selbst, ob er ihn nicht herzlich liebt.

Das würde wenig beweisen, sagte die Kleine mit altkluger Miene. Meine Mutter hat es tausend Mal gesagt, je größer die Gelehrsamkeit der Herren ist, die sie aus den Büchern haben, je einfältiger sind sie in der Welt, worin sie leben, und deßhalb wird es mein Vetter auch gar nicht bemerken, wenn ihn Herr St. Julien verspottet. Das sehe ich besser ein, wie er, ob ich gleich noch ein Kind bin, wie meine Mutter sagt.

Emilie und Therese lächelten über den Eifer ihrer jungen Gefährtin, mit welchem sie den Arzt vertheidigte, und waren sehr zufrieden, als die Töchter des Predigers zum Besuch kamen, deren Alter mehr dazu geeignet war, daß sich die noch sehr junge Marie ihnen anschließen konnte. Sie verlor auch in deren Gesellschaft bald die große Schüchternheit, und in jugendlicher Lust überließ sie sich mit ihnen der Freude, und die jungen Mädchen liefen um die Wette, versteckten sich in den Hecken und tobten als glückliche Kinder umher, während die älteren Freundinnen viele ernsthafte und hochwichtige Gegenstände mit einander besprachen. Jede hatte der Andern vertraut, wie drückend die Einsamkeit für sie sein würde, wenn nun die Freunde schieden, an deren[230] Umgang sie sich so gewöhnt hätten, und Jede fühlte recht wohl, welcher Kummer dann das Herz der Andern erfüllen würde.

Der Graf hatte sich mit dem Obristen in sein Kabinet zurückgezogen, um ihm auseinander zu setzen, was er für seinen Vetter zu thun gesonnen sei, um diesem dadurch den Weg zu bahnen, sein Glück von Therese und ihrem würdigen Vater zu erbitten; denn obgleich die tiefe Leidenschaft des jungen Grafen so wenig, wie die aufrichtige Neigung der schönen Therese den beobachtenden Freunden ein Geheimniß sein konnte, so fand es der Graf doch schicklich, dem Obristen erst seinen Plan vorzulegen, wie das häusliche Glück seines Verwandten gesichert werden sollte, ehe dieser förmlich um die Hand der Geliebten anhielte.

Der Obrist fand neue Ursache, die Großmuth seines Freundes zu bewundern, und willigte im Voraus in das Glück seines Kindes.

Der junge Graf und St. Julien waren zu Dübois hinunter gegangen, um ihren Kapellmeister aufzusuchen, wie St. Julien den jungen Gustav nannte. Sie fanden die Wittwe des Professors bei dem Haushofmeister; Beide saßen am Kaffeetische, aber man sah, daß die Unterhaltung nicht heiter gewesen war, denn Beide hatten viel geweint. So wie aber St. Julien eintrat, entfuhr ein Ausruf der Verwunderung der ihre Thränen trocknenden Frau, und sie betrachtete[231] mit auffallender Aufmerksamkeit den jungen Mann, der denn auch seinerseits seine Verwunderung hierüber nicht bergen konnte.

Beide eingetretenen Freunde hatten seit einiger Zeit eine so innige Verbindung geschlossen, daß ihnen jede Förmlichkeit lästig wurde, und sie nannten sich daher gewöhnlich bei ihrem Taufnamen; deßhalb sagte auch jetzt der junge Graf, nachdem Dübois seinen Pflegesohn gerufen hatte, wie er den jungen Gustav nannte: Laß uns nun gehen, Adolph, um unsere Musik gehörig einzuüben.

Heißen Sie Adolph? rief die Wittwe des Professors, indem sie mit Heftigkeit aufsprang. Ja, erwiederte St. Julien, und ich denke, dieß ist ein gewöhnlicher Name, den ich führen darf, wie jeder Andere, ich begreife nicht, was darin seltsam oder befremdend sein könnte. Die Wittwe des Professors hatte ihn während dieser Rede starr angesehen, und schlug nun mit sichtlichem Erstaunen ihre Hände zusammen und ihre Augen flossen in Thränen über. St. Julien kam auf den Verdacht, daß sie an Geistesverwirrung litte, und sah Dübois befremdet an. Dieser sammelte sich selbst mit Anstrengung und sagte mit erzwungenem Lächeln: Meine werthe Freundin und ich, wir haben so viele gute und kummervolle Stunden mit einander verlebt, und es knüpfen sich für uns Beide theure Erinnerungen an den Namen Adolph,[232] die auch mich zuweilen in Ihrer Gegenwart bewältigt haben, deßhalb werden Sie die Bewegung der Frau Professorin verzeihen.

Ich will nicht in Ihre Geheimnisse eindringen, sagte St. Julien, den Dübois sichtliche Bewegung ernsthaft machte. Sie haben mich nie mit Fragen belästigt, und es ist nur billig, daß ich Ihre Bescheidenheit nachahme. Er reichte dem alten Manne freundschaftlich die Hand, verbeugte sich gegen die Wittwe des Professors und entfernte sich mit seinen beiden Freunden.

Als die Andern allein waren, sagte der Haushofmeister: Meine beste Freundin, wir müssen behutsamer das Geheimniß der Gräfin zu bewahren suchen. Die wehmüthige Erinnerung an die Vergangenheit hat heute eine zu mächtige Herrschaft über uns geübt, und wir sind in unserer Betrübniß unvorsichtig gewesen.

Das mag sein, erwiederte die Professorin, aber ich lasse es mir nicht nehmen, der Herr St. Julien sieht dem seligen Herrn Blainville ähnlich, wie ein Tropfen Wasser dem andern, und Gott weiß, wie das zusammenhängt. Unsern kleinen Herrn habe ich selbst gewartet und habe tausend Mal das kleine braune Maal unter dem linken Auge betrachtet, das hat nun der Herr St. Julien auch, und das ist doch wunderbar genug.[233]

Aber liebe Freundin, sagte Dübois, ich habe Ihnen alle Verhältnisse des Herrn St. Julien auseinander gesetzt. Seine Mutter lebt und wird in Kurzem hier sein, um den Sohn abzuholen.

Das kann sein, sagte die Wittwe des Professors, aber ich habe es öfter gehört, daß, wenn man ein Kind brauchte und Gott keins gewährte, man sich ein fremdes verschafft hat.

Meine theure Freundin, welchen Gedanken erregen Sie in mir, rief Dübois in freudiger Bestürzung.

Ich werde hier bleiben, sagte die Professorin trotzig, bis die Frau Mutter kommt. Ich werde sehen, wie das zusammenhängt, denn so ähnlich sieht ein Mensch dem andern nicht durch Zufall.

Sie zeigen mir eine Hoffnung, sagte Dübois, indem er die Hände seiner Freundin zitternd faßte, die mein altes Herz nicht mehr zu hegen wagte; aber um Gottes Willen, lassen Sie uns der Gräfin nichts davon sagen; ich glaube, sie würde sterben, wenn wir in ihr eine Vermuthung erregten, die sich nur zu wahrscheinlich in kurzer Zeit als nichtig erweisen wird.

Glauben Sie nur sicher, erwiederte die Wittwe des Professors, daß ich schweigen kann, wenn ich will und wenn es mir nöthig scheint. Ich rede nur, wo ich es für gut halte, und meinen Schreck habe ich nun auch überstanden. Ich[234] werde jetzt auch mit dem Herrn St. Julien ganz ruhig reden können und werde meine Zeit abwarten, wenn ich es für gut halte, hervorzutreten. Aber sagen Sie mir doch, hat denn die große Aehnlichkeit die Gräfin auf gar keine Vermuthung geführt?

Ich glaube wohl, erwiederte Dübois, daß sie beim ersten Anblicke des jungen Mannes eine schwache Hoffnung hatte, aber da ja seine Mutter lebt, so mußte sie bald das Nichtige derselben erkennen.

So sind die vornehmen Leute, grollte seine Freundin. Daß man ein Kind stehlen kann, ist ihr gewiß noch gar nicht eingefallen. Nun ich betrachte es als eine Fügung Gottes, daß ich hieher habe kommen müssen, und ich werde mir die Frau Mutter des Herrn St. Juliens etwas genauer betrachten, ehe der hinweg geht, den ich für unsern kleinen Herrn halte.

Der Haushofmeister fing selbst an nach so bestimmten Aussprüchen seiner Freundin Hoffnungen zu nähren und ermahnte nur die lebhafte Frau zur Behutsamkeit und Vorsicht, und Beide beschlossen, weder dem Grafen noch seiner Gemahlin das Geringste von ihren Vermuthungen vor der Ankunft der Mutter des jungen Mannes mitzutheilen, und dann ihr Betragen nach den Umständen einzurichten.

Während dieser verschiedenen Unterredungen war der[235] Prediger mit dem Arzte in dessen Zimmer, wo Beide, während sie eifrig Tabak rauchten, sich darin vereinigten, das Betragen des alten Lorenz und seines Sohnes zu tadeln, der Prediger aber dennoch dem Arzte rieth, sich klüger und mit mehr Mäßigung als bisher gegen Beide zu benehmen. Der Doktor Lindbrecht wollte außer sich gerathen, daß ein Geistlicher ihn, wie er es nannte, zur Falschheit ermahnen wollte, da er mit seiner Feuerseele keinen Schurken sehen könne, ohne ihm seine Verachtung zu zeigen, und keinen Verläumder, ohne ihn mit männlicher Kühnheit zu widerlegen. Der Pfarrer bewies mehr Geduld als gewöhnlich gegen den Arzt, um ihm überzeugend zu beweisen, daß dieses thörichte Angreifen des jungen Lorenz nicht allein für ihn selbst unangenehme Folgen haben würde, sondern auch leicht dem Grafen nachtheilig werden könne, so lange die Franzosen noch ihre Besatzung im Lande hätten und noch immer gewissermaßen die Herren spielten. Sie hörten ja selbst, schloß er, daß der elende Mensch, der junge Lorenz, sich wie mit einer ehrenvollen Sache damit brüstete, daß er im Dienste eines französischen Generals sei. Bedenken Sie, was daraus alles entstehen kann, wenn Sie in so offenbarer Feindschaft mit ihm leben, daß Sie ihn angreifen, wo Sie ihn treffen.

Der Arzt sah endlich die Nothwendigkeit ein, die Glut seiner Seele zu beherrschen, wie er sagte, und er hatte bald[236] Gelegenheit, eine Probe seiner Mäßigung und Klugheit abzulegen.

Als der Geistliche seinen widerstrebenden Freund endlich mit Mühe auf die Bahn der Klugheit geleitet hatte, begaben sich Beide nach dem Gesellschaftssaale, wo sie den Grafen und den Obristen schon fanden, noch in erste Gespräche vertieft, die den Obristen, so schien es, lebhaft angeregt hatten, denn er betrachtete mit Rührung sein schönes Kind, als Emilie mit ihrer Freundin Therese fast zu gleicher Zeit den Saal betrat, begleitet von Marie und den Töchtern des Predigers, die sämmtlich etwas erhitzt nach ihren lebhaften Spielen eintraten.

Da die jungen Männer sich ebenfalls mit der Gesellschaft vereinigten und kurz darauf auch die Gräfin erschien, so konnte die Musik beginnen, worauf sich heute St. Julien besonders freute, da er ein zärtliches Duett mit Emilie vorzutragen hatte, welches auch glänzend gelang, weil die eigene Empfindung sich den Tönen vertraute und Beide ihr unschuldiges Geheimniß, welches sie sich selbst noch nicht gestanden hatten, in fremde Worte gehüllt, schwebend auf himmlischen Tönen, öffentlich bekannten.

Es gibt wohl wenige Menschen, auf die Musik gar keinen Eindruck macht; auch war nicht Einer in der Gesellschaft, der sie nicht auf seine Weise empfand, aber doch war[237] Niemand so davon ergriffen, als die Verwandte des Arztes. Die Wangen des jungen Mädchens glühten und die großen blauen Augen strebten vergeblich die Thränen zurück zu halten, die zu ihrer Angst und Qual wie Thautropfen auf Rosen glänzten.

Emilie näherte sich ihr nach beendigtem Gesange mitleidig, denn alle Schüchternheit, die sie im Garten bei lebhaften Spielen verloren hatte, war zurückgekehrt in der ernsthaften vornehmen Gesellschaft. Macht Musik einen so traurigen Eindruck auf Sie, fragte Emilie das junge Mädchen leise, daß Sie Ihre Thränen nicht zurückhalten können?

O! flüsterte Marie lebhaft und leise, ich habe niemals andern Gesang gehört, als in der Kirche und zuweilen von Studenten auf der Straße, weil die Mutter mich nirgends hingehen ließ. In der Kirche habe ich auch so mitgesungen, wie alle Andern, aber lieber Gott, was ist das für ein Unterschied! Wie Sie hier sangen, war mir zu Muthe, als ob der Himmel geöffnet wäre und die Engel von oben herunter sängen. Ja gewiß, ich habe es schon heute bemerkt, hier sind alle Herrlichkeiten vereinigt in diesem Schlosse und Garten, und die Menschen darin leben, wie die Seligen im Paradiese; durch diese Mauern dringt keine Noth, und was Jammer und Schmerzen bedeuten, wissen Sie nicht.

Emilie lächelte still. Sie dachte an die jammernden Gebete,[238] die hier zum Himmel aufgestiegen waren, an die in diesen Sälen verhallten Seufzer, an die zahllosen Thränen, die beinah alle Bewohner schon vergossen hatten, und entfernte sich von Marie, um nicht durch deren kindliches Gerede sich selbst zur Wehmuth stimmen zu lassen.

Die Stimmung der Gesellschaft veränderte sich, als ein Bote, den der Graf nach der nächsten Stadt geschickt hatte, zurückkehrte und unter mehreren Briefen auch ein Schreiben an den Grafen mitbrachte, worin ihm aufgetragen wurde, den französischen Kapitain St. Julien ungesäumt vor den Kommandanten der Festung *** zu stellen, die Bescheinigung, daß solches geschehen sei, der Behörde einzuliefern und zugleich anzugeben, weßhalb er den besagten St. Julien bei sich behalten und auf welche Autorität, statt ihn den Behörden einzuliefern.

Dieses Schreiben verscheuchte die Heiterkeit, die noch eben die Gesellschaft belebt hatte, denn es mahnte ernsthaft an die nahe Trennung, und rief außerdem manches Ernste und Kummervolle lebendig hervor, was sich Jeder gern zu verhüllen bestrebt hatte. Die Männer vereinigten sich, um zu berathen, was nun geschehen müsse, und indem Alles überlegt wurde, erkannte der Graf von Neuem, wie vielen Dank er dem Prediger schuldig sei, der damals schon, als St. Julien leblos in das Haus des Grafen gebracht wurde, mit Besonnenheit[239] und Genauigkeit dafür gesorgt hatte, daß man gehörig antworten und sein Betragen rechtfertigen konnte. Es wurde nach ernsthafter Berathung beschlossen, daß gleich des anderen Tages St. Julien nach der Festung *** abreisen solle, begleitet von dem Grafen und dem Arzte, von dem Ersten, damit die für die preußische Behörde erforderliche Bescheinigung nicht verweigert würde, und von dem Zweiten, damit erforderlichen Falls ein Zeugniß abgelegt werden könne, durch welches der junge Mann gerechtfertigt würde, so daß sein Ausbleiben von seinem Regimente nicht zu seinem Nachtheil für eine willkührliche Handlung ausgegeben werden könnte. Sobald Sie die Bescheinigung vom Kommandanten erhalten haben, sagte der Prediger, dann senden wir mit dieser die Eingabe zugleich ein, die wir machten, um anzuzeigen, wie ein französischer Offizier verwundet im Walde gefunden worden sei, nebst dem Zeugnisse der Aerzte über seinen gefährlichen Zustand und dem Bescheide der Behörde, daß besagter Offizier so lange unter Ihrer Obhut bleiben könne, bis weiter über ihn verfügt würde, und so sind alle Unannehmlichkeiten vermieden. Der Graf sah dieß wohl ein, und sein Blick trübte sich, nicht aus Besorgniß vor Unannehmlichkeiten, wie der Prediger zu glauben schien, sondern er verdüsterte sich bei dem Gedanken an die baldige unvermeidliche Trennung. Er reichte St. Julien die Hand, die dieser[240] zärtlich drückte, indem er schweigend die großen dunkeln Augen abwendete, die überzuströmen drohten.

Gustav näherte sich dem jungen Grafen, der sich still und sinnend an eine Fenstervertiefung lehnte, und dessen umwölkte Stirn zeigte, daß noch andere Gedanken sein Gemüth bewegten, und nicht allein die nahe Trennung. Emilie war blaß geworden und hatte mit der Gräfin den Saal verlassen. Der Arzt war, nachdem er vernommen hatte, daß sein Zeugniß bei dem französischen Generale vielleicht nöthig sein würde, im Gefühle seiner Wichtigkeit einige Mal mit hastigen Schritten im Saale auf und abgegangen, und zog sich nun in sein Zimmer zurück, einen weitläuftigen Krankenbericht aufzusetzen, den er dem Kommandanten der Festung *** vorzulegen gedachte, um ihn zu belehren, wie gründlich und vollkommen nach den Regeln der Kunst St. Juliens Wunden geheilt worden wären.

So war die Heiterkeit und Freude aus dem Kreise der Freunde entflohen und kehrte auch nicht für diesen Abend zurück, als man sich von Neuem vereinigte. Jeder fühlte das Bedürfniß, sich ungestört seinen Gedanken zu überlassen, und man trennte sich deßhalb früher als gewöhnlich.

Der Graf und St. Julien waren am andern Morgen in Begleitung des Arztes nach der Festung *** abgereist, und der junge Graf, der sie zu Pferde eine Strecke begleitet[241] hatte, war zurückgekehrt, und wandelte einsam und traurig in den dunkeln Baumgängen des Gartens. Sein Schützling und Freund, der junge Gustav, hatte sich zu ihm gesellt, und suchte ängstlich und schweigend aus den trüben Blicken seines Beschützers dessen Kummer zu errathen. Endlich brach der Graf Robert das Schweigen, indem er sagte: Bald wird nun hier alles auseinander gehen, was sich so schön zusammen gefunden hat, und auch von Dir, mein guter Junge, muß ich mich nun bald trennen.

Sie haben es selbst gewollt, erwiederte der Jüngling schüchtern, ich wäre gern bei Ihnen geblieben.

Das wäre eine Thorheit gewesen, versetzte der junge Graf. Dein eigenes Bestes fordert die Trennung, Du mußt Deine Studien vollenden. Aber vergiß nur über Deinen Studien nicht, daß Du ein Vaterland hast, denke daran, daß Dein König Deiner vielleicht in der Zukunft bedarf, und daß es die erste und edelste Pflicht aller Männer jedes Standes ist, ihrem Vaterlande ihren Arm zu leihen, wenn ihn dasselbe zu seinem Schutze bedürfen sollte; kurz, gedenke aller unserer Gespräche, die wir führten, wenn wir unser Vaterland beweinten, aber gedenke ihrer in Deinem verschwiegenen Innern und lasse Dich nicht verleiten, Knaben zu vertrauen, worüber sich nur Männer berathen sollen. Lasse Dich nicht dadurch täuschen, daß Du vielleicht denkst, ich habe[242] ja doch auch manches Ernste mit Dir besprochen, ohne Deine Jugend als Hinderniß zu betrachten. Dich hat ein hartes Schicksal erzogen und Dich frühe gereift; Deine Seele ist männlich geworden, obwohl Du noch ein Jüngling bist.

Ich werde gewiß alle Ihre Lehren in treuer Brust bewahren, erwiederte der Jüngling, und gewiß nicht der letzte sein, der, wenn es gilt, dem Vaterlande seine Dienste anbietet. Ich habe den Krieg in der Nähe gesehen, ich habe alle Leiden erfahren, die er herbei führen kann, und ich bin eben darum meiner um so gewisser, wenn es einmal dazu kommt; denn mich kann nichts Unerwartetes erschrecken und entmuthigen, und kein neuer grausenhafter Anblick kann meine Seele verwirren, und dennoch, wenn ich hier in diesen Baumgängen friedlich mit Herrn St. Julien auf und abgehe, so treibt mich oft der Gedanke auf ein Mal von ihm, daß er zu unsern Feinden gehört, und heute hat es mich recht mit Kummer erfüllt, daß er nun zu seinen Fahnen zurückkehrt.

Die Ehre gebietet es, antwortete der Graf finster, er kann nicht anders. Aber, sagte der junge Mensch ängstlich, indem er den Arm des Grafen heftig drückte, ohne es zu wissen, wenn uns nun dieser gute, freundliche St. Julien, der uns beide liebt, der mich selbst die Waffen brauchen lehrt, ein Mal feindlich gegenüber steht, ist es nicht wie ein[243] Brudermord, wenn wir unser Schwerdt auf seine Brust richten?

Gott wird solch Zusammentreffen verhüten, sagte der Graf abgewendet. Wenn es aber doch geschähe, fragte der Jüngling dringend, was wäre in solchem schrecklichen Falle unsere Pflicht?

Uns abzuwenden und einen Brudermord zu vermeiden, sagte der Graf, wenn es irgend möglich ist, ohne unsere Sache zu verrathen.

Und wenn wir aus der Ferne mit unserm Geschütz ihn niederschmettern und das Unglück erfahren, wenn wir als Sieger das Schlachtfeld behaupten? fragte der junge Mensch mit bewegter Stimme.

Dann beweinen wir einen gefallenen Freund, sagte der Graf mit hervorbrechendem Schmerz. Was quälst Du mich mit diesen Vorstellungen? Das ist es ja eben, was meine Seele ängstigt; ich habe diesen Menschen wie einen Bruder lieben gelernt. Ich sehe es ja, welche Bande ihn an dieß Haus fesseln werden, und dennoch kann er uns nicht wahrhaft angehören und das Schicksal fügt vielleicht einmal das Gräßlichste. Doch, fuhr er nach einigem Besinnen fort, diese Schreckbilder drohen noch aus so weiter Ferne, daß es thöricht ist, sich diesen Sorgen jetzt schon hinzugeben.

Als die Reise des Grafen und St. Juliens den Abend[244] vorher beschlossen wurde, hatte die Gräfin den Obristen gebeten, mit seiner Tochter auf Schloß Hohenthal bis zur Rückkehr der Herren zu verweilen, und dieser hatte gern ihren Wunsch erfüllt, und Therese verließ am andern Morgen Emiliens Zimmer, wo sie die Nacht zugebracht, indem ihre Freundin sich zur Gräfin begab, und wollte ungestört im Garten sich ihren Träumen und Hoffnungen überlassen, denn der alte Obrist liebte sein einziges Kind zu sehr, als daß er ihr seine Unterredung mit dem Grafen hätte verschweigen können. Sie wandelte sinnend, ein milder Ernst ruhte auf der schönen gesenkten Stirn und ein halb wehmüthiges Lächeln umschwebte die wie Purpurrosen glühenden Lippen. Vertieft in Gedanken, hatte sie nicht auf ihren Weg geachtet und keinen Gegenstand bemerkt, so daß plötzlich der Graf Robert und sein junger Freund vor ihr standen. Eine glühende Röthe bedeckte beim Anblick des Grafen das edle, ausdrucksvolle Gesicht, und der Zauber der Schönheit, die ihm nie so reizend erschienen war, fesselte die Zunge des liebenden Mannes. Der Jüngling Gustav zog sich nach den ersten Begrüßungen zurück, und Therese war allein mit dem Freunde unter dem blauen Himmel, der herbstlich mild sich über ihnen wölbte. Der Graf fand endlich Worte, die lang gehegte innige Zärtlichkeit seines Herzens zu enthüllen, und Theresens Seele war zu einfach, das Gefühl in ihrem Busen zu rein und edel,[245] als daß sie es dem Freunde hätte verbergen mögen; aber dennoch versagten ihr die Lippen, als sie nach Worten suchte. Die schönen braunen Augen füllten sich mit Thränen und blickten mit so tiefer, rührender Zärtlichkeit in die flehenden des geliebten Mannes, daß er die holde Antwort verstand und das liebliche Geschöpf, von seliger Freude trunken, in seine Arme schloß. Er drückte einen Kuß auf den rosigen, lebenswarmen, unentweihten Mund, und indem ihn die Schauer des Entzückens durchbebten, erschrak die unschuldige Jungfrau vor dem neuen, unbekannten Gefühl und entwand sich sanft den umschlingenden Armen.

Der Graf hatte die schweigende Antwort verstanden, und führte die Geliebte zum greisen Vater und bat hier um die Bestätigung seines Glücks. Der Obrist erhob die Hände dankend zum Himmel und flehte mit lautem, freudigem Gebet um Segen für seine geliebten Kinder.

Es waren die Minuten des reinsten Entzückens entschwunden, in denen der Mensch, in höheren Empfindungen lebend, sich selbst und die Gegenwart vergißt. Die Erde trat wieder in ihre Rechte ein, und indem die irdischen Verhältnisse wieder mit Klarheit hervortraten, wurden die Freunde an die Pflichten gegen diejenigen gemahnt, deren Großmuth ihr Glück erst möglich machte. Der Obrist führte seine Kinder selbst zur Gräfin, die er mit Emilien im Saale antraf, und[246] machte ihr die beschlossene Verbindung bekannt. Er hatte dieß mit Ruhe und Würde thun wollen, aber ihn bewältigte die Rührung und die Thränen flossen über die vom Alter gefurchten Wangen. Ihnen und Ihrem edeln Gemahl, schloß er, danke ich die himmlische Ruhe meiner letzten Tage und das Glück meines Kindes. Er wollte nach diesen Worten die Hand der Gräfin küssen, sie aber entzog sie ihm, um ihn gerührt und ehrerbietig zu umarmen. Sie sind ja unser aller Vater durch Ihr Gefühl, sagte sie, und ich bin Ihnen Dank schuldig. Ich habe meinen Vater so früh verloren, daß mein verwaistes Herz die ehrerbietige Neigung einer Tochter niemals empfand, bis ich sie, indem ich Ihr Wohlwollen erkannte, fühlen lernte.

Emilie neigte sich glückwünschend gegen den jungen Grafen und drückte mit inniger Liebe ihre Freundin an die Brust, und es durchzitterte ihren Busen ein so wehmüthiges Gefühl, indem sie die junge, glückliche Braut in ihren Armen hielt, daß sie den Saal verließ, sobald es, ohne auffallend zu sein, geschehen konnte, um in der Einsamkeit ein Gefühl zu überwinden, das sie um so mehr ängstigte, weil es ihr wie eine Anwandlung von Neid erschien.

Als sie allein war, schien es ihr, als ob ein Schleier von ihrem inneren Auge hinweggehoben sei. Sie erkannte nun mit Klarheit, was ihre dunkle Sehnsucht schon lange angedeutet[247] hatte. Das Leben ohne St. Julien schien ihr trübe und öde, und mit unaussprechlicher Trauer mußte sie sich eingestehen, daß die nächste Zukunft ihr das Gestirn entrücken würde, das, ihr unbewußt, ihr die Bahn des Lebens bezeichnet hatte. Früh gewöhnt indeß, die Schmerzen der Seele zu besiegen, kehrte sie nach einiger Zeit zur Gesellschaft zurück, und ihre Stirn erschien so heiter, daß Niemand als die Gräfin den Kummer ahnte, den ihre junge Brust verschloß.

Quelle:
Sophie Bernhardi: Evremont. Theil 2, Breslau 1836, S. 227-248.
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