Die Reise ohne Fahrplan

[317] In diese rätselhafte Welt

Sind wir alle als Rätsel gestellt;

Bilden Charaden.

Wer sucht den Sinn, wer findet Verstand

In diesem wimmelnden Allerhand?

Wer kann uns erraten?


Wir selber? Kaum. Wir tauschen nichts als Zeichen,

Andeutungen geheimnisvoller Art;

Ziehn uns Signale auf und stellen Weichen,[317]

Daß keiner stören mag des andern Fahrt,

Die ach auf sträflich unsoliden Speichen

Uns an ein Loch führt, keinem noch erspart:

An den bekannten Tunneleingang, der,

Wenn wir es könnten, längst vermauert wär.


Vielleicht studiert ein Gott das wirre Wesen,

Wie ein Professor dies und das studiert:

Bakterien, unters Mikroskop gelesen;

Zahlenkolumnen, mächtig aufmarschiert;

Vokabeln eines Dichters; welche Spesen,

Im Haushalt der Natur die Kraft summiert.

Wer weiß, was einen Gott dran interessiert, –

Bis er, gelangweilt, mit dem Sturmesbesen

Das rätselhafte Zeug beiseite wischt:

Daß Laus wie Elefant zugleich verschwinden,

Die ganze Weltgeschichte Kehricht ist,

Napoleon nicht und Goethe mehr zu finden

Im großen schwarzen Weltentintengischt,

Durch das die Zeit sich ruhig weiter frißt.


Doch kanns auch sein: Es kennt die Hieroglyphen

Der Irgendwer, der diese Rätsel schrieb,

Die nebenbei auch uns ins Leben riefen.

Wer weiß, vielleicht sind wir ihm wirklich lieb,

Und, was uns weh tut, jeder Schicksalshieb,

Will uns, prost Mahlzeit, will uns bloß vertiefen.

Es kann ja sein. Was kann nicht sein auf Erden?

Wir können in der Tat noch alle Engel werden.


Weiß Gott: Gott weiß es! Unser ist allein

Die Pflicht, ihm ein gefüger Stoff zu sein,[318]

Auf daß uns selbst die wunderliche Erde

Kein Nadelkissen oder Kantenstein,

Sondern ein Garten voller Früchte werde.

Und geht es dann ins Tunnelloch hinein,

Soll wenigstens die Lebewohlgebärde

Den weiter Rätselnden kein schlechter Anblick sein.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 317-319.
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