Ein Papagei vom Lügen

[313] (Aus der Vorrede zum Papageienbuche)


Der Christ, der Muselman, der Jude und der Heide:

Sie beugen sich dem Geist der Lüge, wie die Weide

Dem Himmelswind sich beugt; es lügt das Kind, der Mann,

Der Bänker, Bettler lügt; der Höfling, der Tyrann;

Der Held; der Journalist; der Forscher; der Soldat;

Es lügt das Parlament, sowie der Potentat;

Auf seiner Kanzel lügt (und wie!) der Theolog;

Der Sauhirt lügt dafür an seinem Schweinetrog;

Und gar das Weib: o Gott! –: es lügt selbst, wenn es lacht

(Und wenn es weint, erst recht); wenn sichs die Haare macht;

Wenns kocht, wenns näht, wenns spinnt; wenns haßt, wenns liebt; wenns ruht;

Es lügt, wenns schweigt, und wenns sich schwatzend gütlich tut;

Und kurz und krumm: Ihr Volk, zweibeinig ungefiedert,

Seid all dem Lügengott vervettert und verbiedert.


Nur Dichter reden wahr, – denn allen ihren Lügen

Vorsenden sie das Wort: Glaubt ja nichts: wir betrügen.

Auf diese Art allein bringt man euch – Wahrheit bei.

Gottlob, daß ich kein Mensch, nein, bloß ein Papagei ...

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 313.
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