Lebenszwiegesang

[297] Über Hügel, sanft gebogen,

Drauf der Sonne Lachen lag,

Bin als Knabe ich gezogen,

Froh gezogen,

Singend in den hellen Tag.


Singe, singe, singe die Sonne an!

Siehe, siehe, wieviel sie kann.


Berge nahm ich mir zum Ziele,

Als ich Jüngling worden war,

Und ich fand auf ihnen viele,

Wunderviele

Lieder, wie die Höhen klar.
[297]

Stürme, stürme, stürme den Höhen zu!

Oben, oben bist ruhig du.


Doch ein See war, da ich ruhte,

Ruhte als ein junger Mann.

Dort nahm ich der Liebe gute,

O ja, gute

Gaben staunend dankbar an.


Trinke, trinke, trinke den Becher leer!

Balde, balde hast ihn nicht mehr.


Und ich zog mit meinem Glase

In die tiefste Einsamkeit.

Fern dem Staube und der Straße,

Fern der Straße

Trank ich Glut der Sommerzeit.


Liebe, liebe, liebe! Sauge das Sein!

Morgen, morgen bist du allein.


Und ich hab mein Glas verloren,

Und ich kroch im Kreis herum,

Ward verdrossen mit den Toren,

Tristen Toren,

Und so ward ich alt und stumm.


Schaue, schaue, schaue den Weg zurück!

Hinten, hinten glimmert das Glück.


Wieder Hügel, wieder Berge,

Wieder See und Einsamkeit.

Särge, Särge, leere Särge!

Leere Särge ...[298]

Greis, dein Weg ist nicht mehr weit.

Schreite, schreite, schreite dem Dunkel zu!

Unten, unten dämmert die Ruh.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 297-299.
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