Lyrikerasten

[302] Sahst du, o Freund, die holden Knaben,

Die an der Kranzler-Ecke stehn,

Aus Seide rote Schlipse haben

Und lächelnd auf und nieder gehn?


Sie spitzen die gefärbten Lippen

Und äugeln sonderbar lasziv,

Und, kommst du ihnen nah, so tippen

Sie dich wohl an und legen schief


Das Köpfchen mit gebrannten Haaren,

Und ihre Blicke himmeln dich

Sehnsüchtig an. Kurz, ihr Gebaren

Ist immerhin absonderlich.


Abscheulich, meinst du? Laß das Zanken!

Es ist nicht schön; ich geb es zu;

Wir wollen unserm Schöpfer danken,

Daß wir nicht so sind, ich und du;


Doch nicht uns besser dünken, meinen,

Es müßten alle sein wie wir.

Hat nun die Liebe mehr als Einen

Ausweg – jenun: so gönn ihn ihr.


Selbst das muß man mit Gleichmut tragen,

Daß derlei Knaben (es ist bös)

Auf ihre Art die Leier schlagen,

So scheußlich süß, so syrupös,


Und daß es Mode wird, zu schminken

Die Lippen selbst der Poesie.[303]

Auch diese Mode wird versinken,

Absurditäten dauern nie.


Das Zeug schmeckt bald auch denen fade,

Die jetzt dran schlecken: Zuckerkant,

Lakritzensaft und Limonade

Wird auf die Dauer degoutant.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 302-304.
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