Neujahrspredigt

[250] Laßt uns, Freunde, ins neue Jahr

Eingehn wie in ein schönes, gesichertes Haus,

In dem die Liebe und der Friede wohnt

Und Schönheit überall heimisch ist.


Und laßt uns, Freunde, heiter gelassenen Sinns,

Mit keinem Haß belastet, ohne Neid,

Heil, liebe Freunde, im starken Herzen, laßt uns

In dieses neue Haus einziehn, und lachend.


Wir sind wohl keiner wundenlos, unversehrt,

Und jeder spürte, daß Niederträchtigkeit

Sehnenkräftige Bogen und giftige Pfeile hat,

Und daß der Dummheit Kartaunen nicht bloß brüllen,

Sondern auch vieles zerstören können, das

Mit Mühe und Kunst errichtet ward, – und, ach,

Des Schlimmsten wurden wir uns wohl auch bewußt,[250]

Daß Schwachheit unser Teil ist und irgendwo

Jeder, wie fest er gefügt sich dünke,

Locker und undicht ist im Baue.


Das aber, Freunde, fechte uns nicht an!

Wir wollen tapfer sein und, gilts Gefecht,

Mit Lachen in den Feind gehn, da wir ja

Als Edle kämpfen und dem Troß voran

Als Wissende: Es ist die Kraft in uns,

Allein zu stehn, gemeiner Art entrückt.

Wenn aber Dumpfheit alles niederschlägt

Und Kampf nicht lohnt und Widerwillen uns

Erfassen will, so wollen wir, Freunde, nicht

Mit Trübsal abziehn, sondern heiter

Das Schwert der Scheide schenken und mit Gesang

Den Schritt wegwenden in die Einsamkeit.


Dies, liebe Freunde, ist nach meinem Sinn

Vielleicht das Beste, das das Jahr bescheren mag:

Verborgenheit und Ruhe in uns selbst.


Wohl dem, der dies erfährt, doch selig der

(Wie selig, weiß ich, der es nun erfuhr),

Der nicht allein in dieses schöne Haus

Gelassener Beschaulichkeit zu gehen braucht.

In Einsamkeit vereint, das ist mein Spruch,

Und dies mein Wunsch, daß jeder, der es wert,

Voll aus, bis auf den Grund ausfühlen möge, welch ein Glück

Dies Wort umschließt: In Einsamkeit vereint.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 250-251.
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