Tulpen-Predigt

[257] Fenster auf! Es hat der Frühling

Endlich wieder seine Zeit.[257]

Alle Blumen müssen blühen,

Alle Vögel müssen singen,

Alle Mädchen müssen lieben,

Alle Herzen werden weit.


Mädchen mit den süßen Augen,

Komm, setz dich auf meinen Schoß!

Deine Hände muß ich küssen,

Deine Augen muß ich küssen,

Deine Lippen muß ich küssen,

Denn die Freude ist zu groß.


Sieh doch, Kind, die Tulpen haben

Ihre Kelche aufgemacht:

Rote, gelbe und gescheckte:

Tiefe Kelche voller Gluten,

Nichts als Schönheit, nichts als Liebe,

Eine ungeheure Pracht.


Kann denn irgendeiner traurig

Unter diesen Flammen sein?

Sieh: das kam aus schwarzer Erde!

Denke: solche Flammen schlafen

Winters unter unsern Füßen!

Nur die Liebe schläft nie ein.


Glaube, Mädchen, an die Erde,

Weil sie voller Liebe ist,

Sind wir doch aus ihr geboren,

Wie die Blumen aus dem Beete.

Schlechtes Kind, das seiner Mutter

Wunderreichen Schoß vergißt.
[258]

Laß die Blinden ihre Augen

In das Himmlische verdrehn.

Du bewußtes Kind der Erde,

Reich wie sie an Saft und Kräften,

Wohlgetane, Starke, Schöne,

Du sollst in die Blumen sehn.


Alles, was das reiche Leben

Dir bestimmt hat, Mädchen, ruht

Auch in diesen Glutenkelchen,

Und es meints die Mutter Erde

Mit den liebetreuen Kindern

Immer, Mädchen, immer gut.


Liebe ist das Wort der Worte,

Liebe ist des Lebens Wort;

Weißt du das in deinem Herzen,

Weißt du das in deinen Sinnen,

Dann kann nichts dich überwinden,

Deine Mutter hilft dir fort.


Lacht mein Mädchen? Lache, lache,

Liebes Mädchen, lach mich aus!

Weiser ist dein klares Lachen

Als mein Predigen und Dichten,

Schöner ist dein liebes Lachen

Als ein ganzer Tulpenstrauß.


Einen Kuß! Dann in den Garten,

In die Flammen gelb und rot!

Dankbar treue Erdenkinder[259]

Wollen wir den Tag genießen:

Liebe unser einzger Glaube,

Schönheit unser täglich Brot.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 257-260.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
Ausgewählte Gedichte

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon