Weihnachtslied

[92] (Für Fritz von Uhde.)


Maria lag in großer Not,

Mit Lumpen angethan,

In einem Stall zu Bethlehem

Und sah die Stunde nahn,

Da sie ein Kindlein haben sollt.

Der Himmel stand in lauter Gold;

Da hub ein Singen an:


»Süße Maria, sei getrost;

Das um dich ist kein Stall.

Blick um dich, allerholdste Frau,

Und sieh die Gäste all,

Die von weither gekommen sind,

Dich zu begrüßen und dein Kind

Mit Flöt- und Geigenschall.«


Und wie Marie ihr Haupt erhob,

Oh Wunder, was sie sah:

Es knieten auf der schlechten Streu

Drei goldne Könige da,

Und, wie wenns ihr Gefolge wär,

Ein Heer von Engeln stand umher

Und sang Hallelujah.
[93]

Es war ein Licht und war ein Glanz,

Wie sie es nie gesehn,

Und vor den Thürn und Fenstern war

Ein Auf- und Niedergehn,

Als ging die ganze Welt vorbei;

Da hört sie einen leisen Schrei:

Da war das Glück geschehn.


Maria strahlte wie ein Stern

Und hob das Kind empor;

Das war so hold und engelschön,

Wie nie ein Kind zuvor.

Die Wände sanken, und die Welt,

Die weite Welt war rings erhellt,

Und alles sang im Chor:


»O seht die Blume, die da blüht,

Die Blume weiß und rot!

Der Kelch ist von der Lilie,

Ein Herz darinnen loht.

Nun ist die ganze Erde licht,

Wir fürchten Schmerz und Trauern nicht

Und fürchten nicht den Tod.


Die Blüte leuchtet uns den Tag,

Und es versank die Nacht,

Und aus der Blüte wird die Frucht,

Die Alle fröhlich macht;[94]

Die Frucht, die Allen Nahrung giebt,

Der Mensch, der alle Menschen liebt:

Die Liebe ist erwacht.«


Der Chor verklang. Es sank der Stall

In braune Dunkelheit.

Maria gab dem Kind die Brust.

Still ward es weit und breit.

Da ward Marien im Herzen bang,

Sie küßt ihr liebes Kindlein lang,

Ihr that ihr Kindlein leid.


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 92-95.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Irrgarten der Liebe
Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Das Leiden eines Knaben

Das Leiden eines Knaben

Julian, ein schöner Knabe ohne Geist, wird nach dem Tod seiner Mutter von seinem Vater in eine Jesuitenschule geschickt, wo er den Demütigungen des Pater Le Tellier hilflos ausgeliefert ist und schließlich an den Folgen unmäßiger Körperstrafen zugrunde geht.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon