100. Weißes Fräulein in Marbach.

[73] Mündlich.


Im Hause vis-à-vis von Schillers Geburtshaus in Marbach geht ein schneeweißes »Fräle« um. Einem Hutmacher, der früher da wohnte, war dies gar nichts Ungewöhnliches mehr. Das weiße »Fräle« kam zwischen den Lichtern gerne. Mal lief weiß Fräle der Frau des Hauses nur zwei bis drei Schritte voraus, gemächlich, langsam, hatte einen langen Schlepprock. Die Frau mußte sich gewaltig in Acht nehmen, daß sie nicht drauf trat: es wäre ihr zum wenigsten übel bekommen. Mal ging's ein paar Treppen hinauf in die Fachkammer und verschwand dort um's Eck hinum, der Schleier und Schlepprock bogen sich artig herum: »Fräle« aber verschwand seit damals und sah Niemand mehr was von ihm. Sein Gesichtchen hat man niemalen gesehen; seine Gestalt schlank, von mittlerer Größe.

Mal schickte die Frau ihre Söhnerin in die Bühne, um einen Sack zu holen. Da brannte der Kornhaufen lichterloh. Söhnerin sprang voll Angst davon und sagte der Schwiegermutter: »der Kornhauf brennt, brennt, brennt!« Schwiegermutter wußte wol, was das war. Hätte Söhnerin den Sack darauf geworfen, so hätte sie einen großen Schatz gehabt. Als man gleich hinaufging, war nirgends was: es war zu spät.

Dieses Haus soll einst ein Nonnenkloster gewesen sein59.

59

Rochholz A.S. I. 167. Schatz als Kohlenhaufen: Vernaleken, Mythen und Bräuche S. 55. Nr. 4. B. Baader, 2. Abthlg. Nr. 85.

Quelle:
Anton Birlinger/ M. R. Buck: Sagen, Märchen und Aberglauben. Freiburg im Breisgau 1861, S. 73-74.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Sagen, Märchen, Volksaberglauben
Sagen, Märchen, Volksaberglauben