I.

[432] Und wieder schwamm er durchs Meer von London, von einem Lichtmeer umflossen. Krastinik schritt langsam an der Kaserne der Coldstream-Garde vorüber, wo am Gitter eine neugierige Volksmenge wie gewöhnlich dem abendlichen Zapfenstreich lauschte. Die Pfeifen und Clarinetten der paradirenden Rothröcke spielten den alten Jakobitenmarsch: Charlie is my darling, my darling the young Cavalier. Unwillkürlich fiel er in den Taktschritt ein. Eine stolze Freudigkeit strömte durch alle Pulse seines Wesens, ehe er sich dessen bewußt wurde. Und er dachte:

Das ist der Marsch des Jahrhunderts! Wir alle sind eingereiht und sollten mitmarschiren. O über die Thoren, die sich wollüstig im Lager der Liebe dehnen oder stillbeschaulich ihr Gärtchen begießen, statt mit klingendem Spiel ins Feld rücken![432]

Wie schien alles in ihm so von Grund aus umgewandelt! Glich er doch früher ganz jenen hochmüthigen Aristokraten von »historischem Adel«, die wie die Grandseigneurs des Ancien Regime Freiheit und Gleichheit unnützlich im Munde führen und doch jeden nicht »Geborenen« nimmermehr als vollbürtigen Gentleman anerkennen. Wenn er früher seine Verachtung des militairischen Berufes ausgesprochen, so war dies nur eine »liberale« Pose und im Herzen schwelgte er doch im Soldätle-Spiel als dem letzten Ueberrest der feudalen Ritterzeit.

Und jetzt – ihm war, als schreite unsichtbar der Geist seines großen Todten neben ihm her und eine Stimme – er wußte nicht woher – sprach in ihm zum andern mal:

Nein, das ist nicht der Marsch des Jahrhunderts der Marsch des Intellekts. Diese scharlachrothen Söldner sind die symbolischen Satelliten des »Scharlachnen Weibes«. Vor diesen gemästeten Maschinen stellte man zwei Götzen auf – die nannte man Ehre und Gehorsam, zwei lichte Namen für ein dunkles Nichts.

Aber Du, Carlyle, letzter Seher Englands, mit den hochmüthigen Junkernüstern und -Kinnbacken, der Du den Zaren als Muster empfahlst, weil er mit der Knute seine Myriaden zudrille – Du verworrener Widerspruchsgeist, der sich als unfehlbare Wahrheit proklamirte – Du lügst dennoch! Und Dein grober Berserkerhumor und Deine cynischen Wortkolosse sind auch nur Bastarde jener Humanitätsphrasen des aufgeklärten Despotismus – und ihr stammt allesammt vom Lügenvater.[433]

Nein, die Stunde naht, wo auch in diese zurechtgeprügelten Uniform-Automaten der heilige Geist ein neues Leben hauchen wird, und die Puppen werden ihre Götzen selber zerschmeißen. Wie schon jetzt die Iren in der Armee mit der Sache ihrer unterdrückten Heimath fraternisiren, so werden sie dann alle ihr Rüstzeug ohne Schwertstreich den Söhnen der Freiheit überliefern, wenn diese Staatskarossen erst umgestülpt werden zu Barrikaden.

Der Graf blieb stehn, wie gelähmt. Er erschrak vor sich selber, vor seinem Elan. War es derselbe, der einst den französischen Adel der Nationalversammlung in jener berühmten Augustnacht begeisterte, seine eigenen Feudalrechte mit einem Federstrich zum Schuttgerümpel der Vergangenheit zu werfen? Wie und waren nicht auch dies nur ideologische Verzückungen, Phrasen einer Schein-Wahrheit? Solche unreifen Raubthier-Instinkte mochte ein Schmoller nähren, diese literarische Verkörperung des vierten Standes und seiner größenwahnsinnigen Gelüste. Würde aber Leonhart, der eminent positive Denker, also gedacht haben? Nein. Am Morgen hatte Krastinik zufällig auf Trafalgar Square ein Meeting besucht, lauter gediegene Radikale, die da im Chorus die Nationalhymne brüllten: »Briten sollen nimmer Sklaven sein.« Aber sie rochen meilenweit nach Rum, der ja freilich nach Burke den Pfad zum Ruhme bildet! Und die Bestechungs-Schillinge klimperten in der Tasche.

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Weiter, weiter. Immer noch ringsum die Mitternachtsbörse, über welche die heilige Hermandad ihren[434] schützenden Mutterarm breitet. Britinnen rechts, Französinnen links, Spanierinnen an der einen Ecke, Deutsche an der andern – – o Du einzig wahre geregelte Schwesterschaft der Nationen, kosmopolitische Weltrepublik! O Neumondfest in Babylon, wo man die Blüthe der Jugend dem Astarte-Cultus opferte, wo alle Provinzen ihre mannbaren Jungfrauen in die Metropole sandten, um jene Marken einzuhandeln, die Rawlinson und Layard entdeckten – wir sind heut sittlicher, wir!

Plötzlich ergriff ihn ein ungeheuerer Schrecken. Ihm war, als ob der Boden unter ihm wanke, als ob er ein Sieden und Summen höre, wie wenn Millionen kleiner schwarzer Höllengeister unter der Erde nach oben krabbelten. Und ihm däuchte, daß ein gespenstiger Tritt hinter ihm herschlürfe. Der Schatten längs der grauen Eisenbahnmauer von Victoria Station – – stand dort nicht der unheimliche Gast neben ihm, der Geist des großen Todten? Tönte nicht ein galliges metallisch gellendes Lachen – oder war's der Pfiff der Lokomotive, die grade über den Brückendamm wegbrauste?

Da knirschte er einen höllischen Fluch zwischen den Zähnen und schüttelte grimmig seine Faust wider den Mond, der über den Baumwipfeln des nächsten Squares emporkletterte. Und fiel betäubt an die Mauer. Seine Schläfe schlug schwer an die harten Steine.

Woran mahnte ihn das Gespenst seiner verwirrten Sinne? An seine schmähliche Schwäche, seine erbärmliche Schuld? Wollte die Leichenhand aus dem Grab[435] ihn züchtigen, weil er dem Todten noch immer nicht zurückgegeben, was sein?

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Krastinik langte noch eben rechtzeitig an, um seinem väterlichen Freunde die Augen zuzudrücken. In dem tiefen aufrichtigen Schmerz, den er mit der Wittwe theilte, hatte er in den ersten Tagen vergessen, was hinter ihm lag. Vergessen, sich selbst vergessen. Jetzt, da er aus dieser wohlthätigen Erstarrung erwacht, quälte ihn mit doppelter Gewalt das alte Leid. Das Leid? Nein, das Schuldgefühl.

Durfte er sich's selbst bekennen, aber mußte er's nicht, – daß in all dem Wirrwar seiner Gefühle erst schüchtern, dann immer dreister die Versuchung ihr Haupt erhob: Nun ist der todt und für immer dahin, der uns alle beschattete mit seiner bleichen Stirn, neben dem als Dichter sich zu spreizen nur dem blinden Größenwahn noch möglich war? Ja, er ist todt – und sein Werk, das meinen Namen berühmt gemacht, ist nun mein, mein. Der Zeuge gegen mich, der aufstehen könnte, mir die erborgten Pfauenfedern abzureißen, ist stumm für ewig.

So fraß die teuflische Lockung sich in seine Seele ein, langsam und stetig wie der Keim eines Verbrechens. Wie wäre bei normalem Zustand ein so unehrenhafter Gedanke ihm je genaht! Aber der Ruhm, – wer ihn kostete, den stumpft er ab für alle anderen Gefühle. Der Größenwahn muß sich sättigen um jeden, ja um jeden Preis.[436]

Er rang verzweifelt mit dem bösen Vorsatz und doch vermochte er nicht, ihn zu bemeistern. Und die Furcht, die Schande! Wie würde man ihn lächerlich machen! Wurde er nicht unmöglich in der Litteratur? In den litterarischen Kreisen Berlins, an denen er mit allen Fasern hing? Das Gift der litterarischen Gesellschaftsstreberei schien ihm längst in alle Poren gedrungen und vergebens suchte er nach einem Gegengift.

Und zuguterletzt – konnte er nun nicht, nachdem er durch jenes Meisterwerk einen obersten Platz errungen, durch eigene Werke sich weiter behaupten? Konnte ihn nicht der edle Ehrgeiz, sich jenes Werkes und des dadurch errungenen Namens würdig zu machen, über sich selbst hinausheben?

Was nützte es denn dem Todten, wenn man der Wahrheit die Ehre gab und seinen ohnehin schon sicheren Nachruhm noch vermehrte? Der große Dichter bedurfte desselben nicht und der Todte bedarf über haupt nichts mehr. Nur der Lebende hat Recht.

So mühte er sich ab, mit allerlei Sophismen sich über sein Vorhaben, über seine feige Schwäche hinwegzutäuschen. Mit jedem Tage wuchs die Schwierigkeit des Eingeständnisses. Würde man nicht fragen, warum er nicht sofort das Nothwendige gethan? Würde man nicht seine plötzliche Abreise dann erst recht mißdeuten? Würde nicht ein immer das Böse voraussetzender Verleumder wie z.B. Schmoller sich dann gar feierlich als Bluträcher des »todten Freundes« aufwerfen, indem er am Ende gar den unerklärlichen Selbstmord Leonharts[437] mit dem litterarischen »Raub« zusammen brachte, der an ihm begangen? Und ob denn überhaupt nicht Jemand in der »Meeresbraut« die unverkennbare Vaterschaft Leonharts herausspürte und demgemäß Vermuthungen losließ?

Die Phantasie spiegelt tausend Fährnisse vor, die hinterher nicht einmal kommen können. Wer etwas auf dem Herzen hat, glaubt, daß Jeder es ahne. Wie die Motte zur Kerze, fliegt ein überzartes Gewissen selbst immer der Sache näher und verplaudert sich selbst Denn der Mensch kann selten ein Geheimniß bewahren und bei sich behalten, alles muß heraus. Daher die heilsame Institution der Beichte – daher die wolthätige Macht der katholischen Kirche, welche dem Drang des Mittheilens entspricht, den man sonst verbeißen müßte.

Bei diesem Gedanken an die katholische Kirche durchzuckte es den Einsamen. Wie hatte es ihn stets gepackt, wenn Leonhart das Leben eines Mönchs als wünschenswerthesten Seelenzustand pries!

Ach ja, ja. Wenn ihm nichts mehr übrig blieb, wenn das Leben ihm ganz zuwider, so konnte er sich ja flüchten in die klösterliche Stille, wo aller Hader schweigt und jede Versuchung endet. »Memento mori!« zu murmeln wie der Trappist, dem nur dies eine Wort die ewig versiegelten Lippen erschließt – das mag nur Weltlinge erschrecken, die noch genarrt von den eiteln Gaben des Lebens.

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Krastinik war, bald nachdem er wieder zu sich selbst[438] gekommen, ins deutsche »Athenäum« geeilt, um dort Berliner Zeitungen zu lesen. Mit fieberhafter Aufregung durchstöberte er alte und neue Blätter. Und nicht umsonst für das Einzige, wonach er fahndete. Zehrten doch die Feuilletons aller Blätter noch immer in üppigen Notizen von dem seltsamen Selbstmord des jungen Dichters. Sogar zu Leitartikeler schwangen sich verschiedene Organe auf, um kräftig an diesem Fall das traurige Loos des deutschen Dichters zu erläutern. Obschon sie selbst im Leben ihn gänzlich todtgeschwiegen hatten, schleuderten solche edlen Leitartikeler jetzo Invectiven gegen die versumpfte Presse. Denn das schien, bald nachdem der Selbstmord Leonharts als breite Notiz überall aufgetischt und verrückte Motivirungen aufgetaucht, nunmehr endgültig festgestellt: daß der junge Dichter sich aus Verzweiflung über seine völlige Erfolglosigkeit und den Mangel jeglicher Anerkennung das Leben genommen habe. Wäre daran noch ein Zweifel gewesen, so wurde er ja bald gehoben durch ein posthumes Ereigniß.

Was mußte Krastinik vernehmen! Sofort nach Leonharts Ende, fiel sein Verleger über seine litterarische Hinterlassenschaft her, indem er einen Vertrag auf ein neues Werk des Verstorbenen producirte, auf welches er bereits eine Vorschußsumme gegeben. Dies neue Werk fand sich vor, überraschenderweise fast ganz vollendet. Ohne Besinnen setzte der rührige Verleger zwei Schnellpressen in Bewegung und publizirte mitten in dem Skandal binnen drei Tagen das Buch. Und welch ein Buch! Das schnellebige Berlin hätte vielleicht auch diese Affaire[439] in acht Tagen vergessen wie jede andere, aber diese Publikation verewigte den Skandal. »Der Schwur des Hannibal«, dramatische Dichtung. – Sobald er die erste Anzeige gelesen, stürzte Krastinik zu Trübner und kaufte das Buch. Gleichsam als Motto trug es an der Stirn die wildtrotzigen Verse:


Ich glaubte nie die Mär, daß am Altar,

Heimkehrend aus der Römerkriege Lager,

Den Sohn er Rache schwören ließ – fürwahr,

Nicht ähnlich dem verschlossenen Karthager!


Der junge Hannibal sah fort und fort

Das Ringen seiner hohen Geistesahnen.

Er ballte nur die Faust und sprach kein Wort:

Man brauchte ihn zur Rache nicht zu mahnen.


Er sah, wie alles nur gelenkt vom Schein,

Wie jeder Wicht der Größe Keim verpfuschte,

Wie jedes stillen Werthes Melodei'n

Der Kameraderie-Tamtam vertuschte.


»Noch ahnet Ihr mich nicht, Ihr glatten Katzen,

Aufsteht ein Rächer aus Hamilkars Geist.

Den Löwen merkt man erst an seinen Tatzen,

Wenn der Gereizte Euch in Stücke reißt.«


»Ihr mögt mir Netze stellen, Gruben, Schlingen –

Einst pack' ich Euch, und wen erst packt der Leu –

Ja, unerbittlich will ich sie vollbringen

Die Rachepflicht, dem Schwure bleib ich treu.«
[440]

»Du Stadt der Krämer und der seichten Possen,

Ich schwör's bei der Semiten Gott, dem Bal:

Einst kommt er wie der Blitz herabgeschossen

Und reinigt Dich – der Schwur des Hannibal.«


Das Buch fiel wie eine Bombe mitten in das Leben der Zeit hinein. Es sprengte gleichsam, vom Dach bis zum Erdgeschoß durchschlagend, alle Quadern und Mauern des Wahns auseinander.

Als Form war die dramatische gewählt, die einzige, welche Leonharts innerstem Wesen gemäß. Die Entwickelung der Tragik aus den Tiefen des menschlichen Willens, zwischen Bewußtem und Unbewußtem schwankend, in ununterbrochen schnurgerader Linie psychologischer Folgerichtigkeit, in dramatische Gestaltung umgegossen – dies war sein Ziel. Die geschlossene Composition des gewöhnlichen Bühnendramas konnte ihm daher nicht genügen, da seine umfassende Anschauung über den zwerghaften Rahmen der landläufigen Kunstgesetze hinauswuchs.

Aber überall nahm der philosophische Gedanke bei ihm warmen Erdkörper an.

Die Dichtung fußte auf rein realistischem Untergrund, stellte sich jedoch selbst allegorisch dar. Der Held war ein moderner Faust. Wie Jener als Magister an der Wissenschaft verzweifelt, so dieser an seinem elenden Beruf der berufsmäßigen Federfuchserei. Absichtlich hatte der Dichter seinen Helden in alle und jede Erbärmlichkeit des modernen Litteratenlebens eingetaucht, ihm auch das Kleinlichste nicht erspart. Und was das Unerhörteste[441] dabei, der Held trug Leonharts Züge unverkennbar, nur mit tausend willkührlichen Zusätzen.

Die Anschauungen der modernen Naturwissenschaft lagen überall zu Grunde, waren aber nie aufdringlich breitgetreten. Nirgends fand sich die poetische, Licenz der Zufall-Anwendung, nirgend drückte sich der Dichter bei den schwersten Theilen der psychologischen Entwickelung mit ängstlichem Salto Mortale vorbei, wie die anderen Sonntagsreiter. Der Kampf mit den Naturtrieben trat überall in seiner plumpen nackten Roheit und Poesielosigkeit entgegen.

Ueberall entpuppte sich die hinter dem Werke stehende Persönlichkeit als begnadete Schernatur, die zu größten Dingen bestimmt.

Inmitten der kaleidoskopisch schillernden Mosaikgemälde und Feerie-Wandeldekorationen und nachgepfiffenen Epigonentriller der andern Litteraturfabrikate fühlt man ja wie, die Jungfrau, welche ihrer Mutter über die Bälle klagt: »Ach, es ist doch immer dasselbe!« Der gewisse »Eine« war ihr eben noch nicht im Ballsaal begegnet. Aber hier bei Leonhart neben höchster männlicher Reife und fast schon angegreister Lebenserfahrung eine gewisse unverbrauchte Jugendlichkeit, wie die des tölpelhaften jungen Siegfried, der auszieht, um Krimhild und die Welt zu erobern. Ueberall hatte man hier den ganzen Mann als kompakte Thaterscheinung vor Augen in der tiefinnerlichen Untheilbarkeit seiner elementaren Persönlichkeit, deren Naturgewalt natürlich die diplomatisch kleinlichen Geistesschmarotzer der modernen[442] Hypercultur nicht zu fassen vermochten. Wie man in der Dienst-Correspondenz eines Cromwell oder Friedrich (»Aimez donc les détails!« rieth der Letztere) die ungeheure Arbeitskraft anstaunt, welche jeden Knopf und Stiefel ihrer Schwadronen im Auge behielt, – so erkannte man hier die sittliche Charakterstärke, die innere Wahrhaftigkeit, kurz die Klaue des Löwen breit und wuchtig im kleinsten Worte abgeprägt.

Man sah seine weltbeherrschende Phantasie die Erde umkreisen von Pol zu Pol. Aus den bläulichen Ringeln seiner Kaffeekanne flatterten ihm braune Rosse auf, Beduinen in braunem Burnus. Sieh da, die weißen Mäntel, wie Strauße in gedrängter Herde ihre Schwingen blähen! Der rothe Wüstensand klatscht zum Sattel empor! Schaumflocken bedecken Bug und Nacken der Rosse, so daß sie getigerten Schecken gleichen oder fürstlichen Turnierrossen mit einem Brustlatz von Hermelin! Und auf ihrer Spur schnauft das Hyänenrudel, in wilden Sätzen die Fährte mit den Pfoten durchtastend – denn wo die Wüstensöhne jagen, da fällt ein Opfer zum Schmaus der Hyänen und Geier, die krächzend den Trauerchor um die Gefallenen hüpfen!

Aus dem Lande der Sonne schweifte des Dichters Geist zum Norden, aus der Wüste zum Meer.

Die bläulich zackigen Eisberge der Eskimos, die den Thran in Humpen schlürfen, umschiffte er wie ein Viking. Wie der Pfeil vom Fischbeinbogen, schwirrte sein Schiff dahin durch die tiefaufrauschenden Wellen, ängstlich ächzte, sein Segel vor der kreischenden Brandung, über welcher[443] der zackige Blitzstrahl den Donner heroldete. Und zum Klang gebrochner Helme sang die Seeschlacht wild und wilder, und der Tag sah ihn vorderst fechten. Doch in mondheller Nacht entquollen seiner Harfe die Thränen sehnender Leder.

Wohl drangen die Schreie aus des Dichters eigenem Herzen, man vernahm mit Schauder diese gewaltige Stimme, – wie der faustische Held, am Meere entlangwandelnd, aus Muscheln die ferne Klage des fliegenden Holländers vernimmt, der im Maëlstrom wirbelnd dem tauben Himmel droht, bis er fadentief versinkt zu Seegras und Korallen.


Der Brandung Bucht, die hohle,

Einsam der Wind umpfeift.

Träg von der Bergessohle

Der Nebel sich niederschweift.


Die Wassergeister schweben

Höhnend zu mir empor:

Zu Schaum zerann Dein Leben,

Du bist und bleibst ein Thor.


Es schwimmt das falsche Mondenlicht

Lockend auf kühlem Grunde.

Der Dampfer durch die Wogen bricht,

Sein Licht erhellt die Runde.


Und durch mein Herz, das dunkel kreist,

Mit grellen Feuerstrahlen

Das Schicksal seine Furche reißt.

Leuchte mir, Gott der Qualen!
[444]

Ihr Heuchler, Schurken, Memmen, Gecken, Narren,

Du weltliches Gesindel um mich her,

Magst ein Jahrhundert auf die Stunde harren,

Die heut durchwettert meiner Seele Meer!


Ich höre Dich, mein Gott, im Wogenrauschen:

»Laß Menschen Menschen sein! Ich bin Dir gut.

Auf meine Donnerstimme sollst Du lauschen

Und vorwärts branden, Meer, in heiliger Wuth!


Schwemm sie hinweg, die Deinen Pfad Dir sperren!

Du bangst, weil fahler Neid die Messer wetzt?

Furchtlos voran! Ich mach' Dich doch zum Herren

Und trete nieder, was sich widersetzt!


Was half Dir Deine königliche Güte,

Mit Dreistigkeit von jedem Wicht belohnt?

Laß nur Verachtung reifen im Gemüthe,

Den Haß, der keine Nichtigkeit verschont!


Wo Du vertrautest, wurdest Du verrathen,

Und wo Du Edles wähntest, war's ein Traum.

Für ihre schamlos schnöden Missethaten

Verschlinge sie in Deiner Brandung Schaum!


Schmied' allen Haß in einen Blitz zusammen

Und brülle nieder sie mit Deinem Fluch!

Brenn' sie zu Spreu in Deines Hohnes Flammen!«

Sieh her, Jehova, kennst Du dieses Buch?


Wäre dies Buch, das in den Annalen der Litteratur seines Gleichen suchte, bei Lebzeiten Leonharts erschienen, so hätte es seinen Untergang beschleunigt oder direkt herbeigeführt.[445] Thörichte Schwätzer hätten sich an das muthmaßlich Persönliche geheftet, ja vor allem liebevoll nach den angeblichen Modellen der Figuren geforscht und ein Bouquet von allerlei Persönlichkeiten zusammengestellt, um etwaige Beleidigungsklagen zu formuliren. Man muß den Leuten stets ihr Vergnügen gönnen. Niemand hätte die Großartigkeit des Typischen in all diesen scheinbar photographirten Einzelheiten erkannt, Niemand begriffen, daß ein so hoch über den Dingen und Menschen stehender Geist das Recht in sich selber trägt, seine eigene Welt nach seinem künstlerischen Willen zu gestalten. In der trostlosen Armseligkeit jener nüchternen Prosa, die nur mit den Rechenpfennigen der Alltagsmoral handelt, wäre Niemandem auch nur in den Sinn gekommen, die tiefe erhabene Gerechtigkeit dieser Heldenseele zu verstehen. Wer hätte gewürdigt, daß man es hier mit einer Dichtung zu thun habe, welche gänzlich außerhalb aller gewöhnlichen Alltagsbegriffe von Menschen und Dingen stand! Dies war der Realismus einer Wahrheit, hoch über der handgreiflichen Wahrheit der beweisbaren Realität. Allein, mit dem adlermäßigen Sonnenflug dieses byronischen Geistes verband sich hier eine ätzende Satire, deren Bosheit den wahnsinnigen Gallenergüssen Swifts ähnelte. Die juvenalische Ader Leonharts blutete sich aus, bis sein Geist an einer Art Auszehrung von Menschenverachtung, wie an einem Blutverlust jeder Lebenslust, zu versiegen schien.

Welch ein namenlos unglückliches Leben öffnete sich in[446] diesen Blättern, die von Herzblut zu triefen und sich wie klaffende Wunden zu öffnen schienen! Unseliger Mensch! Ihm war das Leben ein graues ödes Meer, über dem nur das Wetterleuchten seines Grimms emporzuckte. Ueberall unterbrach ein grelles Auflachen das methodische Hämmern dieser zermalmenden zerhackenden Maschine eines rastlosen Denkens. Die »saeva indignatio«, welche Swifts Herz nach dessen Ausspruch zerfleischte, schmeckte man auch hier. Schonungslos auch gegen sich selbst, zerpflückte der Dichter unerbittlich seine eigenen Gefühle. Ein unerbittlicher Wahrheitsdrang, ein verzweifeltes Drauflosstürmen gegen jede conventionelle Lüge, raste sich hier berserkerhaft aus.

Rücksichtslos waren die Gesetze des animialischen Lebens betont, die Naturgeschichte des Menschenviehs. Es regnete Ohrfeigen und Nasenstüber. Indem er die bübischen Begierden der Sinnesmenschen entblößte, ekelte sich dieser Faust-Mephisto und hatte doch auch »seine Freude dran«.

Das Ganze bildete einen einzigen Aphorismus, ein riesenhaftes Monodrama, einen von innerer Handlung unablässig bewegten Monolog. Diesem tragischen Humoristen zerflatterte das Stoffliche oft zwischen den Fingern und löste sich in psychologische Tüftelei auf. Die geringfügigsten Ereignisse spann der Reflexionspoet mit keckem Sichgehenlassen zu wichtigen Abhandlungen und schlachtete das Unmerkliche als Stoff unendlicher Betrachtungen aus. So ging seine Laune ihren eigenen störrigen Maulesel-Trab, immer drauflos durch Blumen, Gemüsegärten,[447] Disteln und Nesseln. Sie war nicht wählerisch. Duften die Rosen, so schlürft sie das Arom ein, und duftet der Mist, so findet sie darin einen eigenartigen Haut-Goût.

Die Leichtigkeit in Führung der psychologischen Entwickelung, die sichere feste Hand in Urbarmachung des unbegrenzten gedanklichen Gebiets wurde unterstützt durch den genialen Blick für Rassenmerkmale, die fruchtbare kosmopolitische Bildung des Denkers. Ueberall erhoben sich reine Formgedanken in lichtem plastischem Marmor – statt schönheitsfroher Harmonie vernahm man freilich mystische Orgelklänge einer verschnörkelten Symbolik.

Doch schmolz sich das kalt Abstrakte überall vor dieser belebenden Schöpferwärme in reale Gestalten um, welche sich nur indirekt, indem sich das Begriffliche verdichtete, zu plastischen Allegorieen herausmeißelten. Diese bis zur höchsten Potenz gesteigerte Phantasiekraft setzte sich zu der Bewegung der Weltkörper in Schwingung und möchte das All reflektiv umspannen, ohne daß sie je Gefahr lief, sich im Allgefühl zu verlieren. Diese titanische Individualität sammelte die durch zahllose Kanäle sich hinwindende Reflexion zu klarem Strom und durchflutete das Naturganze des Weltorganismus selbst wie eine besondere Weltseele, immanent der inneren Untheilbarkeit der Dinge.

Hier wagte sich wieder einmal ein Viking-Skalde hinaus in die offene See, als Wrack umhergeschlendert und in brüllendem Orkan wie in warmem Sonnenschein von der unheimlichen Flut gewiegt, welche in immer gleicher fühlloser Schönheit uns alle von dannen spült.[448] Wie die alten Seekönige kreuzte er von Küste zu Küste, wie Odin aus Sagas goldenem Methhorn berauscht. Auf seiner Hochzeitsreise mit der wilden Walküre Wahrheit verbrannte er denn sich selbst und sein Drachenschiff im Feuerwerk cynischer Selbstvernichtung.

– – Wäre dies außerordentliche Geistesprodukt aus der Feder eines Lebenden geflossen, so hätte man die nervig-drastische Methode Leonharts, die minutiöse Ausmalung psychologischer Wandlungen durch Zusammenscharrung ganzer Dokumentbibliotheken, um die Illusion absoluter Lebenswahrheit zu erwecken, als langweilige Weitschweifigkeit benörgelt. Eine unreife Baby-Aesthetik hätte die erotischen Scenen des Buches, welche die tiefste philosophische Absicht bargen, als brutalen Cynismus denunzirt. Ja, die unreifen Janitscharen der bespeichelten Modehelden hätten gar all dies Erdichtete für »Bekenntnisse einer schönen Seele« oder direkte Rousseausche Confessions genommen und demgemäß erläutert. Die Salon-Tätteler, die akademischen Säuseler, die Formalisten hätten mit Erfolg diese freche Verletzung alles gentlemanliken Dekorums gegeißelt. Muß doch die Welt jede Wahrheit in der Kunst hassen, besonders die Frau, welche ja die Welt bedeutet! Und da waltet wohl nur ein mechanisches Gesetz ob, ohne welches die conventionelle Gesellschaftsordnung nicht denkbar wäre. Allein, aus ganz demselben Gesetz folgerte nun das Gegentheil, da es sich um einen Todten handelte, der unter so betrübenden Umständen die Consequenzen der Wahrheit gezogen und sich vom Leben verabschiedet hatte.[449]

Die Kulturmenschheit ahnt nämlich bewußt und unbewußt, daß der geliebte Materialismus d.h. der flotte thierische Kampf ums Dasein ohne die Fiction des »Idealismus« gar nicht möglich wäre. Denn der auf die Naturwissenschaft gestützte Materialismus führt unnachsichtlich zu Consequenzen des Socialismus. Um daher dem Bild von Saïs einen Schleier vorzuhängen, pflegt man ab und zu den sogenannten Idealismus, das Interesse an idealen Kulturerzeugnissen. Man gähnt pflichtschuldig das Postament der Geistesheroen alt und versteckt seine stumpfsinnige Gleichgültigkeit unter dem Tamtam neuer Götzendiener, die vom Abfall früherer Geistesthaten leben und ein großes Geräusch machen, gleich den Ammen Jupiters, um die Stimme ihres Gottes zu übertönen. Man läßt zwar das lebendige Ideale als Aschenbrödel verhungern, aber man muß ab und zu über abstrakten Idealismus faseln, um das Gleichgewicht herzustellen.

So wollte denn das Gejammere über das »unglückliche Genie«, »den edeln Dichter« kein Ende, nehmen. Die »Berliner Tagesstimme« nannte ihn, nachdem sie sich von Schritt zu Schritt mehr für ihren todtgeschwiegenen Liebling erwärmt, bereits nur noch schlechtweg den »erhabenen Jüngling«. Sie wußte mit dröhnendem Pathos unser Zeitalter der Reaction dafür verantwortlich zu machen, daß eine so hochherzige Natur aus purem Lebensekel sich aus dem Leben »fort jraulte«. Jaja, das Herz dieses erhabenen Jünglings brach, denn es schlug der Freiheit sowie der Menschheit. (Die Aktien-Dividende der[450] »Berliner Tagesstimme« war dies Jahr besondere fett gerathen.)

Hingegen wußte das »Deutschnationale Blatt« ganz genau, daß der Antisemit Leonhart nur durch das infame Judenthum, dessen Presse sich besonders an ihm versündigte, zur Verzweiflung getrieben wurde.

Das »Bunte Allerlei« wimmerte wie ein kleines Krokodil und brachte u.A. die boshafte Notiz:

»Wie wir hören, soll der gräßliche Sittenschilderer K. Schm. untröstlich sein. Der Selbstmord seines Freundes L – t wirst all seine Dispositionen um. Denn er hatte denselben bereits als Helden seines neuen Romans ›festgenagelt‹ und als Typus des Größenwahns unsterblich lächerlich gemacht. Leider ist ihm nun der böse Mensch zuvorgekommen. Solche Todten persiflirt man ungern.«

Jedenfalls zeigte sich die Deutsche Presse eifrig bemüht, den Fall Leonhart als typisch für die deutsche Verkennung und das deutsche Schriftstellerelend möglichst breitzutreten. Ein Aufruf des allgemeinen Schriftstellerverbandes und des litterarischen Schutzbureaus erschien, worin jeder dieser Concurrenten den andern für die deutsche Misère in verblümter Weise verantwortlich machte und dann zu dem Fall Leonhart überleitete. Sämmtliche sechzehntausend Schriftsteller und Schriftstellerinnen des Kürschnerschen Lexicons sollten einen Obolus entrichten für einen interessanten Grabstein, welchen man dem »verewigten Collegen« errichten wollte. An den Grafen Oscar[451] von Scheckwitz, Excellenz, und andere millionenreiche Didaktiker richtete man eine Adresse: »Ew. Excellenz! Hochgeborener Herr Graf, hochmögender Herr Kammerherr! Mit jener Ehrerbietung, welche Alldeutschland Ihrem glorwürdigen Schaffen zollt« u.s.w. Er möge, um die entsetzliche deutsche Dichterverachtung im Volk der Dichter und Denker zu brandmarken, das Portrait Leonharts nach einer Zeichnung von Stauffer-Vern anfertigen lassen und seiner berühmten Gallerie einverleiben. Graf Scheckwitz, Excellenz, edelherzig wie immer, zog sich jedoch noch glänzender aus der Affaire. Er versprach nämlich statt dessen die Tantièmen seines neuen griechischen Dramas mit Chören »Gott Hymenäos«, falls dasselbe sofort von seinem Standesgenossen Graf Hochberg aufgeführt werde, als Preis auszusetzen für die beste Denkschrift über »Friedrich Leonhart, den deutschen Chatterton.« Es giebt noch gute Menschen.

Regnete es doch nur so »Erinnerungen an den verewigten Dichter«!

Frank Säuerbach in München veröffentlichte einen Essay in der »Allgemeinen Zeitung«, worin er mit braminenhafter Spitzfindigkeit den Leichnam Leonharts secirte und an demselben pathologische Studien verübte. Der Keim zum Selbstmord habe von jeher in Leonhart gelegen, ebenso wie etwa Satyriasis in dem sogenannten Pantheismus jüngstdeutscher Lyriker. Er brachte als Beweismittel zwei Gedichte bei, die der Unglückliche vor Jahren veröffentlicht habe:


[452] Du, des Tages blind Geschöpf, jammerst, daß Dein Herz verblutet,

Daß Dein ganzes Sein sich fühlt vom Verwesen angemuthet?

Ja, die Hoffnung bald entwich,

Nur den Tod zu suchen frommt, nur der Tod macht Dich unsterblich.

Nur des Denkers Ideal bleibt von Zeit zu Zeit vererblich,

Dein Gedanke unveräußerlich.


Als Volker vorgefiedelt, sprang auf des Tisches Brett

Herr Hagen, jäh zertrümmernd die Krüge beim Bankett.

»Nun trinken wir die Minne und zahlen des Königs Wein:

Der junge Vogt der Hennen – der soll der Allererste, sein!«


Wer will zum Tanz mir fiedeln? Ich möchte schon sogleich

Zertrümmern meines Herzens Gefäß mit festem Streich.

»Nun trinken wir die Minne und zahlen des Schöpfers Wein:

Das Blut des Dichterherzens – das muß das allerbeste sein.«


Diese traurige Lebensverschmähung, dieser bachantische Trieb zur Selbstvernichtung wie zu einem Festgelag, sei nun durch die berechtigte Verzweiflung des Dichters über die stumpfe Aera, in welche ihn das Schicksal verbannte, gesteigert worden. Sogar der Componist Francis Henry Annesley meldete sich einem litterarischen Magazin mit einem Artikel »Meine Beziehungen zu Friedrich Leonhart«. Denn obschon er für alle Zeiten jeglicher Schmier-Bethätigung entsagt und sich ganz der edeln Musika gewidmet habe, besäße für ihn die Feder noch immer genug Anziehungskraft, um zwei edeln Todten den Zoll der[453] Dankbarkeit zu bringen. Dies seien der Maler Rother und der Dichter Leonhart, beide auf rätselhafte Weise verunglückt, wahrscheinlich durch Selbstmord. »Ja, sie wanderten nicht von einer Kaltwasserheilanstalt in die andere, wie so mancher andere Schmerzenreich,« – (gestand der junge Musiker mit achtungswerther Selbstironie) – »ewig entsagend und immer wieder da, von den Todten auferstanden. Sie machten Ernst mit ihrer Verneinung des Lebens, mit dem letzten Facit unter der Summe ihrer Schmerzen.« Und jetzt folgten eine Menge enthusiastischer Lobeserhebungen über die »hehren Verblichenen,« welche »die einzigen absolut selbstlosen, neid- und parteilosen Menschen« gewesen seien, die ihm je begegnet. Er idealisirte sie jetzt ebenso ins Maßlose, wie er sie früher bemäkelt und ausgebeutet hatte. Allein, mochte man darüber denken wie man wollte, etwas Rührendes lag trotz eines Anflugs der alten Schauspielerei in dieser offenherzigen Reue, mit welcher sich der sonst so geckenhafte und seines eigenen Edelsinns bewußte Jüngling selber des knabenhaften Undanks bezüchtigte. Er habe zur Entschuldigung anzuführen, daß er durch die Gesellschaft heuchlerischer Banditen à la Edelmann und Haubitz mit dem Gift eines allgemeinen Mißtrauens inficirt sei, weil er alle andern Menschen nur als elende Selbstlinge kennen lernte. Dies nur habe ihn nicht voll würdigen lassen, was Rother stets für ihn gethan. Seither sei er älter und männlicher geworden, und wisse jetzt, was in dieser kalten gemeinen Welt ein warmes Freundesherz bedeute. Jetzt sei er sich seiner Nichtigkeit und[454] Zwergheit bewußt – seiner moralischen Inferiorität einem Rother, seiner geistigen einem Leonhart gegenüber. Von dem lächerlichen Größenwahn, der ihn dämonisch verzehrt habe, sei er curirt. Den »Schwur des Hannibal« in der Hand, am Grabe dieser großen Seelen, welche der Weltroheit nicht zu widerstehen vermochten, habe er sich zugeschworen, jedem eiteln Ehrgeiz zu entsagen. Wo solche Menschen untergehen mußten, da lohne es sich grade, den Beifall der gemeinen Herde zu erschwindeln und um den feilen Odem des Pöbels zu buhlen. –

So hatte der Tod mit seinem ernsten Seherblick eine schon erblindete Seele erhellt. Der edle Grundstoff und der ideale Instinkt einer schon verschlammten krankhaften Wesensart wurde emporgerüttelt, so wie ein jäher Schreck das Wechselfieber vertreibt. –

Max Henkelkrug veröffentlichte in Separat-Abzug bei Schabelitz (Zürich) eine hochtrabende Rhapsodie in Bänkelsängerformat:


Ein sociales Nachtstück.

Der Dichter der ist todt.

Verscharrt ist sein Gebein,

An seinem Grab ein Rabe droht,

Kreischt »Mord« ins Land hinein.

Der Afterdichter rührte stolz

Die Saiten vorm horchenden Volke.

Da plötzlich sprang der Harfe Holz

Und die Saite barst in Stücke.

Von des Regenbogens Brücke

Erklang es aus der Wolke:
[455]

»Der Wicht, der mich erschlug,

Hier seine Strafe fand.

Des Meisters Harfe nie ertrug

Des Ungeweihten Hand.

Wer hat zum Skalden Dich bestimmt,

Geboren und auserkoren?

Odin, der Skaldengott ergrimmt,

Geschworen ist Dein Verderben.

Denn Thoren sollen nicht erben

Den Ruhm, den Weise verloren.«


Die Auferstehung der Todten ist eine schöne Sache. Jetzt war jeder Philister, der sich auf seinen Wollsäcken wälzt, freudig bereit, sein Licht auf den Scheffel zu stellen und seinen Idealismus in wohlschmeckenden Festessen zu Ehren eines halb verhungerten Dichters leuchten zu lassen. Wenn man nur durch Heiligsprechung der Todten den Lebenden ihre Rechte verkümmern kann, dann sind wir allemal diejenigen, welche. Freilich kostet es ja auch weniger, je einen Penny für ein Grabmonument beizusteuern, als ein Pfund zu einer Subscription auf ein zu schaffendes Werk. Statuen dienen zur Verschönerung der öffentlichen Plätze, und zur Drucklegung patriotischer Prospekte, besonders zur Ordensempfehlung des Gemeinderaths. Wenn heut ein Geist herniederstiege, er würde dazu nur rufen: Unsinn, Du siegst und ich muß untergehen.

Doch fehlte es natürlich auch nicht an dissentirenden Stimmen. Denn Haß und Neid überleben selbst den Tod. So schrieb Peter v. Schnapphahnitzkoi in der »Kreuz- und Schwertzeitung«:[456]

»Als wir den hochtrabenden Titel lasen und von dem Inhalt des Buches hörten, befiel uns abergläubische Furcht. Wie, der Kampf mit dem Drachen? Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp? Der Knapp' wagt es und Herr Leonhart taucht in den Schlund – der lernäischen Hyder an der Spree. Zu solcher Schandthat sollte man sich erst aufschwingen, sobald man die Blöße des Gegners entdeckt hat. Aengstlich von Natur, stoßen auch wir nur in solchem Falle zu. Aber ach, solche Kraftleistung kann uns nicht in diesem Falle erschlaffen, denn der verewigte Dichter bietet ja dem Messer der Kritik selbst überall die Kehle dar. Er nestelt sich, wie eine kleine Brigg der ›Wasser-Geusen‹ an eine schwerfällige spanische Gallione; wie ein Torpedoboot an ein Linienschiff alter Holzconstruction, an die bestehende Gesellschaftsordnung an und wundert sich, wenn ihn diese in den Grund bohrt. Er schmeißt seiner spröden Feindin, der bösen Welt, faustdicke Grobheiten ins Gesicht und wundert sich, wenn sie diesem Liebeswinke widersteht. Mein Gott, was kann da sein! Leonhart war ein kecker verschlagener Husar, der sich in Vorpostenschaarmützeln herumhieb, so daß gewiß irgend ein Feldherr, der oben auf dem Berg seine Batterieen ordnet, an ihm seine helle Freude gehabt hätte. Nur muß der mehrfach dekorirte Rittmeister nicht urbi et orbi verkünden, er habe schon selbstständig commandirt und Schlachten gewonnen; dann wird er wegen Vergehens gegen die Disciplin gemaßregelt. Was hat denn der vielbeklagte Jüngling eigentlich geleistet! Romane konnte er nicht schreiben, der Faden seiner Handlung spann[457] sich niemals ungezwungen ab, die äußeren Griffe des Erzählhandwerks beherrschte er kaum, und alles verlief sich ins Gefühlsverworrene. Die glückliche Hand eines alterfahrenen Technikers blieb ihm versagt, er scheiterte an der Klippe der Manierirtheit und Uebertreibung. Wenn er versuchte, geistreiche Silhouetten aus der Berliner Gesellschaft herauszuschneiden, so häufte er nur eine Fülle intimer Details mit reportermäßigem Behagen auf. Statt ohne Umschweif vorzugehn, das Ding an sich zu packen und knapp beim Namen zu nennen, verlor er sich in Schönrednerei, weil ihm für die praktisch-nüchterne Wahrhaftigkeit und ›poesielos‹ trockene Gesundheit des Berolinischen Alltagslebens das feinfühlige Tastorgan fehlte.

Und nun diese unwahre Schmerzfexerei, dies Reklamegeschrei, diese überreizte Fruchtbarkeit! Bekanntlich leidet unsre Zeit an drei großen Krankheiten: Atheismus, Morphiumsucht und Größenwahn. Wir wissen nicht, ob Leonhart an Morphiumsucht krankte. Seinen Atheismus vermuthen wir. Gewiß aber sind wir seines Größenwahns. Bei dieser widerlichen Selbstberäucherung, wo der Dichter gleichsam vor seinem verschönerten Ebenbild anbetend auf den Knieen rutscht, fällt wohl Jedem das gesunde Sprüchwort ein: ›Eigenlob stinkt, Andrer Lob klingt.‹ –

Krastinik lachte bitter auf.

Klingt – ja leider klingt es manchmal wie Zwanzigmarkstücke. Und da scheint denn doch das Eigenlob beträchtlich weniger zu stinken. Ist heut nicht[458] jedes Lob verdächtig? Die wirklich Schlauen fügen in Lobhndeleien stets gehörigen Tadel ein, denn die Möglichkeit einer selbstlosen Begeisterung scheint ausgeschlossen. Fängt bei den ›Kollegen‹, die Wahrheitserkenntniß doch sicher erst an, wenn die persönliche Existenz des Autors erloschen ist. Was aber soll uns dann noch eine Kritik, die eben nur auf persönlichen Verhältnissen fußt? Besser wahres Eigenlob, als erlogenes Andrerlob! Es kommt hier einfach auf den Satz heraus: Quod licet Jovi, non licet bovi. Psychologisch betrachtet, verräth die Unvorsichtigkeit des Selbstlobes nur, daß die Eleusinischen Mysterien der Streberei dem muthigen Verletzer fremder Eitelkeit unbekannt blieben. Krastinik dachte aus der Fülle seiner Erfahrung an all jene Geschmeidigen, die der Kenner auf den ersten Blick durchschaut, heißen sie nun ›Cohn‹ oder ›Baron‹, die geschickt das plumpe Selbstlob vermeiden, sich überall durchwindend ohne anzustoßen und doch vordrängend. Und wird nicht das verrufene Selbstlob vollends eine verzeihliche Nothwendigkeit, falls man gegen ›die Schmach, die Unwerth schweigendem Verdienst erweist‹ gar keine andere Waffe mehr hat? Hier hört das Selbstlob auf, rein persönliche Eitelkeit auszustrahlen, und verliert seinen ursprünglichen Charakter, indem es einfach zur Vertheidigungsrede sich umformt.

Krastinik las weiter. Der kleine Lumpensammler kritikasterte nun so fort, indem er emsig auf die Untugend der Unbescheidenheit losklopfte und einen Injurien-Platzregen vom Olymp des Jupiter Pluvius Stupidus herabgoß.[459] Krastinik verzog keine Miene. Denn wer einmal im inneren Ring der litterarischen Geschäfte thronte, constatirt ja nur mit ruhig geschäftsmäßigem Tone, warum dies und das geschrieben sei. Einen ungetrübten Blick für Ideales pflegen nur Fernstehende bewahren zu können. Zum guten Ton einer wahrhaft vornehmen Kritik gehört es hingegen unbedingt, die Absichten des Autors möglichst zu verdrehen und geistiger Urkundenfälschung zu fröhnen.

Man erstarrt als Uneingeweihter zur Salzsäule über die angeblichen Motivirungen, welche dieser skandalisirende Mephisto über die idealsten Dinge zum Besten giebt. Dies Büchlein riecht zum Himmel, daß Zeus sich die Nase zuhält. Es athmet einen Rinnstein-Odeur von roher Bosheit. Unter dem würdigen Schlachtgebrüll eines edeln Zornes drängelte der verstorbene Litteraturpapst nicht übel mit dem Ellenbogen, um einen Platz in erster Reihe zu ergattern. Er schwenkte als Zwingvogt seinen Hut auf eine hohe Stange hinauf, und wer sich nicht aus dem Staube machte, wurde gefaßt, ›weil man dem Hut nit Reverenz erwiesen‹. Er schmiß sogar seinen Geßlerhut tief ins Lager der Widersacher, um ihn dort wieder herauszuhauen. Das Schlachtgetümmel mit Tschingderatata wollte kein Ende nehmen. Nun hat es ein Ende genommen, freilich ein Ende mit Schrecken. Mag der Geist des seligen Dichters noch so wuchtig mit dem Tölke'schen Knüppel drohen: Wer dies Buch nicht lobt, fühlt sich von ihm getroffen – mag ihm als Motto seines Strebens der alte Vers vorgeschwebt haben: Was kann Genie? das stirbt, eh man's begriffen, verkannt,[460] verlästert, ausgepfiffen, – wir können nur achselzuckend dies hohle Machwerk einer kindischen Selbstanbetung bei Seite werfen. Trefflich urtheilt unser schneidiger Waffengänger Rafael Haubitz: ›Es fehlte eben Leonhart an einer ausgeprägten Physiognomie.‹ De mortius nil nisi bene. Fesselte nicht diese Erwägung unsre Feder, wir möchten dieselbe wohl viel schärfer gespitzt haben. – Zum Schluß nur noch eine ruhige Frage, welche den ganzen Dunst des lächerlichen Todtentanzes einer schwindelhaften Dichtergrab-Bewunderung zerbläst: was hat Leonhart unter all seinen zahlreichen Schreibereien, speciell seinen Dramen, denn je geschaffen, was an Größe der Conception und Schönheit der Ausführung auch nur entfernt sich messen kann mit dem wundervollen Drama Graf Xaver Krastiniks, unseres neuerstandenen großen Dichters? Schlägt ›Die Meeresbraut‹ nicht alle verfehlten Versuche jenes Stürmers und Drängers um zwanzig Pferdelängen? Nicht umsonst erlebte ›Die Meeresbraut‹ jetzt schon die dreißigste Aufführung binnen so kurzer Frist, unerhört im ›Deutschen Theater‹. Dorthin gehe man, um zu schauen, was wahre Dichtkunst bedeutet! Leonhart war höchstens ein Vorläufer des genialen Grafen Xaver von Krastinik.«

Krastinik ballte das Zeitungsblatt mit der Faust zusammen und warf es zerknüllt zu Boden. O öffentliche Meinung des bedruckten Zeitungspapiers, du bist geduldig. Vorläufer, ja wohl! Wagte nicht auch Webster in der Vorrede seiner »Vittoria Corombona« vier Jahre vor[461] Shakespeares Tode den größten Genius aller Zeiten in einem Athem zu nennen mit dem Akademiker Ben Jonson und den adligen Theatralikern Beaumont-Fletcher, ja sogar mit Eintagsfliegen wie Chapman, Dekker und Haywood, die heut kaum der Literarhistoriker beachtet! »Schließlich, doch ohne ihn durch diese letzte Nennung beleidigen zu wollen« nennt der gute Mann als seinen Vorläufer auch noch den gottähnlichen Ewigkeitsmenschen. Eine Posse von tiefbedeutsamer Mahnung. Jaja, Gegengewicht muß sein; gegen drohendes Uebergewicht imaginäre Werthe ausspielen – vive l'Egalité!

Und hier bei diesem Fall, wo durch die überwältigende zerschmetternde Ironie des Zufalls einmal die plumpe Gehässigkeit der Beschränktheit offenbar werden konnte, wo die Aufdeckung der Wahrheit – – Krastinik schauderte in sich zusammen. Er preßte die Hände vors Gesicht, wie um die Welt nicht zu sehn oder vielmehr sich vor ihr zu verstecken.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Wahrhaft hochherzig und von dem sittlichen Pathos der Wahrheit durchdröhnt, klang der Nekrolog, welchen Hans Holbach seinem Freunde in der »Berliner Tagesstimme« zu widmen wagte. Mochte im Leben diese Freundschaft nur eine äußerliche Schauspielerei gewesen sein, mochte der tiefe Zwiespalt beider Naturen sie einander innerlich entfremdet haben, – der Tod gleicht alle Gegensätze aus. Jetzt balancirte Holbach nicht mehr, dem Vortheil der Weltberechnung gehorchend – der Tod veredelt.[462] Und so tönte die Stimme seiner eigentlichen chevaleresken Natur, seines warmen und gütigen Herzens, aus den Worten:

»Unter dein vielen Erbärmlichen des Weltgetriebes giebt es ein Erbärmlichstes: den Schriftsteller neid. Diesem zumeist fiel Leonhart zum Opfer, während er neidlos alles Tüchtige anerkannte. Nachdem sie sein Genie von allen Seiten benörgelt (hier erwarben sich viele Moralprediger ein besonderes Verdienst, ihm, dem wirklich Moralischen gegenüber), begannen seine Collegen auch seinen Charakter in den Staub zu ziehen, indem sie seine Handlungen entstellten, seine Motive unlauter verdrehten, seine Ausschreitungen übertrieben. Nun lehrt zwar ein Blick aus die ungeheure Produktivität des jungen Dichters, daß er lediglich seinen idealen Zielen gelebt haben könne und daher alle Sagen über sein sonstiges Verhalten ins Reich der Mythe gehören. Wären aber seine Fehler so offenkundig wie die Erhabenheit seiner Dichtungen – wer wäre berufen, darüber zu richten? Doch gegen diese Art giftspritzender Hinterlist bleibt der Edelste und der Stärkste ohnmächtig. Forschen wir aber nach den Gründen dieser Niedertracht, so finden wir überall den gleichen: den Neid der Impotenz gegen das Genie, den Größenwahn der Kleinen gegenüber der wahren Größe. Verzeiht doch die kleinliche Selbstsucht der Mittelmäßigkeit nie die berechtigte Selbstsucht des Berufenen, weil ihre jämmerliche Eitelkeit sich verletzt fühlt! Dabei bedenke man, daß dieser Ewigkeitsmensch keineswegs etwa wie Byron den weltlichen Rang eines Lords trug, was[463] doch nun einmal auf die Welt ganz anders wirkt, als der Rang eines großen Dichters! Man male sich Byrons Leben aus, wenn er zufällig als ein armer deutscher Poet geboren wäre – welch ein Abgrund stummen Leidens öffnet sich da der Phantasie! Und ein solches Leben ewiger seelischer Tortur in verzweifeltem Kampf gegen die Uebermacht des Weltmaterialismus, von widrigen Verhältnissen eingeschnürt, hat Friedrich Leonhart durchkostet.

Zweifellos war Leonhart kein makelloser Heiliger. Doch war sein Herz großmüthig und edel. Seine Verachtung alles Niedrigen und Kleinen entsprang seinem innersten Wesen, in dem nichts gemein und knechtisch. Quälte ihn vermeinte Unbill, die ihn zu thun zwang was er lange bereute, – viele wissen, daß sich ihm auf schwachem Grunde feste Dankbarkeit erbaute. Der Zug verzweifelter Angriffswuth aus tiefer seelischer Verbitterung, der ihn kennzeichnete, ging nicht aus äußerlichen und selbstischen Motiven hervor. Er kämpfte immerzu, heut mit der ganzen Welt, morgen aber auch mit sich selber. Denn der eigentliche Kern einer solchen Heldennatur basirt auf Tugendliebe und Pflichtgefühl, trotz einzelner Schlacken und Flecken. Wäre er mit jenen äußeren Vorzügen geboren worden, die in der Welt allein Erfolg verbürgen, mit Gesundheit, Schönheit, Rang und Vermögen so hätte das reiche Wohlwollen seines Gemüthes sich zu, vollkommener Idealität entfaltet. So aber, eine stete Zielscheibe für die Gehässigkeit neidischer Dummheit, wurden die häßlicheren Seiten seines Charakters von Jugend an genährt Jeder Eindruck warf sich auf ihn[464] mit so intensiver Gewalt, daß zugleich alle Geistesstärke und alle Charakterschwäche hervorgelockt wurden. Die Fehler Leonharts stammten weder aus Entartung des Herzens – denn die Natur hatte nicht den Widerspruch begangen, so außerordentliches Talent mit einem unvollkommenen moralischen Sinn zu verbinden – noch aus Gefühlen, unempfänglich für Bewunderung der Tugend. Niemand hatte ein wärmeres Herz für Sympathie, eine offenere Hand für Unterstützung des Unglücks. Kein Geist war besser geformt für enthusiastische Verehrung edler Thaten, vorausgesetzt, daß er überzeugt war, man habe wirklich selbstlos gehandelt. Vorstellungen eines Freundes, dessen guter Absicht er sicher, hatten oft bei ihm großes Gewicht; freilich durften Wenige eine so schwierige Aufgabe sich herausnehmen. Mahnung ertrug er mit Ungeduld, Tadel verhärtete ihn in seiner Verirrung, – so daß er oft dem feurigen Streitroß glich, das sich wüthend in die Lanzen stürzt. In den schmerzlichen Krisen seines litterarischen Lebens bewies er diese Reizbarkeit in solchem Grade, daß er fast dem edlen Opfer des Stiergefechtes glich, das mehr die Neckereien der Hetzerhorde, als die Stiche des kühneren Matadors zum Rasen bringen.

Aber der Allgerechte, welcher menschliche Schuld nach ihrem wahren Werthe in seiner Schale wägt, wird jeden dieser vergifteten Nadelstiche wie einen Geistesmord verdammen. Schwerer wiegt jede Stunde, die man dem Dichter raubte und die einen Verlust für die Menschheit bedeutet, als das gesammte werthlose Leben seiner Hetzer und ihrer fadenscheinigen Moral.«[465]

Das waren goldene Worte, echt und warm aus schlagendem Herzen geboren. Ja, der Tod ist heilig, er ist ruhig und still. Den Todten zieht man nicht mehr freundlich die Würmer aus der Nase oder tastet an ihnen herum, um die Naht zu finden, aus der man irgend einen Vortheil herausschlitzen kann. So pflegen wir Umgang mit den Lebenden, die Todten aber verbitten sich das. Der Tod ist heilig.

Doktor Gotthold Ephraim Wurb schrieb im »Bunten-Allerlei« über die Oeuvres posthumes dieses neuernannten Litteraturkönigs:


»Sein hinterlassenes erhabenes Meisterwerk zeigt uns, welch unvergleichlich große elementare Dichterkraft in Friedrich Leonhart uns frühzeitig dahingerafft wurde. Mit Stolz weisen wir daran hin, daß wir es waren, die zuerst dieses Urgenie entdeckten, wie so oft schon die Redaktion des ›Bunten Allerlei‹ von sich rühmen durfte. Lange blieb es ja unter Eingeweihten kein Geheimniß mehr, daß in Leonhart der eigentliche Centraldichter unsrer Zeit schlummerte. In ihm wäre uns der lang Ersehnte beschie den gewesen. Und nun ein so schreckliches Ende – weihen wir ihm eine stille Thräne! Vielleicht wäre er der deutsche Shakespeare geworden; so blieb er nur ein zerrütteter Shakespeare. Der schreckliche ›Fluch‹, den man unter seinen Papieren fand, trifft uns natürlich nicht. Wir haben unsre Pflicht erfüllt. Mögen die Elenden, die sich getroffen fühlen, es auf sich beziehen! Das ist das ewig alte Los des Genies in Deutschland. Erst wenn es im Grabe ruht, erkennt man neidlos seine Größe. Was könnte dieser große Mann unserm Volke geworden sein, wenn man ihn an die richtige Stelle gesetzt hätte! So – mußte er verkümmern, verbluten an tausend Nadelstichen. O wie ein edler Zorn uns bei diesem Gedanken durchtobt! Wir[466] werden demnächst Briefe des Verstorbenen publiziren, dem wir einst nahe standen.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 3, Leipzig 1888, S. 432-467.
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