II.

[467] Krastinik lag halb zurückgelehnt auf einer Bank im Regentspark. Ein traumhaftes Erinnerungsweh bewältigte ihn. Vor wenigen Minuten fuhr eine offene Karosse an ihm vorüber, in welcher Alice Egremont, jetzt Lady Mowbray, in nachlässiger Eleganz auf den Polstern sich wiegte. Unwillkürlich zuckte er empor. Ihr Auge glitt über ihn hin, sekundenlang blieb es hängen. Er grüßte, sie dankte flüchtig. Er bemerkte, daß sie erröthete. Aber wie bleich sie war! Sollte das Gerücht begründet sein, daß sie eine unglückliche Ehe führe, daß ihr Gatte, der nur ihr Vermögen freite, sie roh behandele? – –

Regungslos saß er noch immer wie angewurzelt. Wie lange er so gesessen, er wußte es nicht. Seine gestorbene Liebe, sein gestorbener Freund, seine gestorbene Muse, die er weiter und weiter von sich entschwinden fühlte – alles floß ihm in ein gespenstiges Bild zusammen.

Wo flüsterte hier nicht Erinnerung! Er hörte ihre Stimme überall, im Zwitschern der Vögel, im Rauschen der Bäume, im Klang der fernen Vesperglocken. In jedem dieser Laubgänge wehten einstgeliebte Locken –[467] wessen, er wußte es selber nicht. Bewahrte die Urne der Erinnerung noch ihren Nektar, dies London noch eine Spur von dem, was sein Herz hier verließ? Hier werden einst Andre wandeln, wo er mit Dorrington plaudernd sich erging. Sie kamen hierher, Andre werden kommen. Den Traum früherer Menschenseelen werden sie fortsetzen und doch nicht vollenden. Denn diesem Traum frommt kein Erwachen. Nichts vollendet sich ja auf Erden, nichts. Alles beginnt, um nimmermehr zu enden. Wir alle erwachen, die Schlechten wie die Guten, die Großen wie die Kleinen, aber dies Erwachen heißt der Tod. Ja, der Tod weckt uns, wie ein Morgengruß. Und Leben heißt sich verschwenden an Schatten, an Schatten.

Wie die alten Aegypter ihre Mumien, balsamirt die Erinnerung ihren Gram für ewig ein.

Ob man den Spiegel in Scherben wirft, jede Scherbe spiegelt doch das alte Bild. Spiegle Dich nur kokett in der schmeichelnden Fluth! Schritt für Schritt lockt es Dich tiefer, bis der Fuß ausgleitet und die Woge über Dich hingeht. So ist die Erinnerung – man spiegelt sich darin und badet und ertrinkt.

Und wenn dies alles nun wahr, wahr wie Leben und Tod, – da sollte man es der Mühe werth erachten, die Befriedigung der Eitelkeit allen Geboten der Ehre voranzusetzen? Nein, nimmermehr.

– Krastinik fuhr zu Lady Dorrington und verabschiedete sich bei ihr. Zu Hause schrieb er zwei Briefe. Einen nach Haus. Von Berlin her war ihm ein Brief seines älteren Bruders nachgesandt. Die Brüder correspondirten[468] sonst wenig, da ihre Lebensanschauungen zu verschieden. Diesmal aber erhielt er einen langen Brief des Majoratsherrn. Er befinde sich momentan auf den Stammgütern in Siebenbürgen und erwarte den Adel der Umgegend zu einer Bärenjagd. Auch sein Freund Graf A – y, der Führer der klerikalen Opposition, werde sich einfinden. Da würde man sich wohl mit Schmerz davon unterhalten müssen, auf welche traurige Bahnen ein Krastinik gerathen sei. Erstlich solle Xaver ja in Berlin sich ganz germanisirt haben und abscheuliche Preußomanie pflegen. Den Kreisen der Oesterreichischen Botschaft halte er sich ganz fern, wie man höre. Unverzeihlich von einem Krastinik. Aber noch schlimmer, man sehe, ihn stets in Gesellschaft plebejischen Gesindels, herabgekommener Litteraten. Er scheine sich allen Ernstes als »Schriftsteller« von Beruf zu fühlen. Jetzt nun gar, – mit Indignation habe er als Haupt der Familie davon Kenntniß genommen, daß Xaver Krastinik mit einem sogenannten Bühnenstück Furore mache. Vermuthlich sei er vom Publikum auch herausgebrüllt worden und, dem Hervorruf gehorsam, vor den Vorhang getreten? Ob er denn nicht selber fühle, wie wenig das für einen Krastinik schicklich sei? In andern Ländern möge das ja angehn. Ein Graf Tolstoy und verschiedene Fürsten schrieben ja auch. Aber grade, in Deutschland, wo man mit Recht die Schriftsteller als Menschen auffasse, die ihren Beruf verfehlten! Als erhabener Dilettant Werke zu redigiren, wie Sr. k.k. Hoheit Kronprinz Rudolf, sei ja gewiß ein vornehmer Sport. Aber die Art und Weise,[469] wie Xaver diesen Sport treibe, sei skandalös. Ganz als bürgerliches Metier. Ob er vielleicht mit Cohn und Itzig schon Brüderschaft getrunken habe? Man behaupte sogar, er verkehre bei Leuten, die wegen Preßbeleidigung des Fürsten Bismarck gesessen hätten. Aber das halte sein brüderliches Herz wenigstens für Verleumdung. – Kurz und gut, was solle denn aus ihm werden? Seine militairische Carrière habe er aufgegeben, doch hoffentlich sehe er ein, daß er sie wieder ergreifen müsse, um sich vor seinen Standesgenossen zu rehabilitiren. Er bitte ihn flehentlich, seinen elenden Papierruhm im Stiche zu lassen und heimzukehren.

Am Schluß schimmerte noch durch, daß der Majoratsherr die finanzielle Lage eines jüngeren Sohnes wohl berücksichtige und ihm daher, falls er sich wieder anständig benehme, gewisse Revennen in Aussicht stelle.

»Ein Almosen!« knirschte Xaver. »Jeder Löwe hat seine Laus! Zu Kreuze kriechen – das fehlte noch!«

Er schrieb trocken zurück, daß ihn etwaige Briefe in Scheveningen finden würden, da er morgen mit dem nächsten Dampfer via Amsterdam zum Continent zurückreise. Im Uebrigen danke er für die brüderlichen Rathschläge. –

Der andere Brief des Grafen ging nach Berlin, an die Redaction der »Berliner Tagesstimme«. Es kostete ihn schwere Ueberwindung, die Feder anzusetzen. Dreimal zerriß er das Schriftstück. Schweißtropfen perlten auf seiner breiten Stirn.

Dann aber sprang er plötzlich auf. Sein Auge[470] blitzte, seine Brust hob sich. Ihm war, als stände er auf einer Bresche, als würfe er sich ritterlich einem fallenden Feldherrn als Deckung vor, um statt seiner den Streich zu empfangen. Der Geist all Derer von Krastinik erwachte in ihm. Seine Ahnen standen ihm unsichtbar zur Seite. Sei ein Mann, sei ein Ritter, Noblesse oblige!

Und er schrieb, ohne Besinnen und Absetzen in einem Zuge.


Nein, der point d'honneur ist keine Falstaffiade und das Gewissen keine Erfindung der Religion. Sobald es spricht, laut und vernehmlich, kann man nicht widerstehen. Wer von ihm gerufen wird, muß der Mann seines Schicksals sein, wie das Gewissen gebeut.

Jeder hat seine Versuchungen des heiligen Antonius und könnte von seinem Standpunkt aus Bekenntnisse des heiligen Augustin schreiben. Aber Auserwählte haben ihr Gethsemane, wo der Kelch der Bitterkeiten zum Ueberfließen voll an ihren Lippen hängt. Sie müssen ihn leeren bis zur Hefe, ehe die Kraft der Weltüberwindung ihr neues Testament offenbaren kann. Erst in der Wüste der weltverlassenen Einsamkeit vernahm Johannes die Stimme der Wahrheit und erst auf dem Patmos des Exils enthüllte sich die Apokalypse des Weltgerichts. So scheint denn das Martyrium auch die allererste Bedingung, die sich vergrößert mit dem Wachsthum des Geistes. Von dem kleinen Martyrium der[471] unglücklichen Liebe, das den jungen Geist läutert und vertieft, bis auf zu dem Martyrium des großen Weltwehs, wie es allen Aposteln der Menschheit die Höllenpforte der Erkenntniß öffnet, ist das Leiden die Mutter jeder Größe.

So lange das Gefühl der Welt- und Gottverlassenheit, die Empfindung des Unglücks dem Menschen fremd bleibt, so lange ist er sich weder seiner Seelenkraft noch Gottes bewußt. Seinen Scheideweg des Herkules, wo der eine Pfad zum Glück und der andere zur Tugend führt, findet Jeder. Aber nur bevorzugte Naturen wissen alle Strudel der Vergangenheit zu glätten. Ein Shakespeare verbirgt seinen Hamletschmerz unter dem Prosperomantel der Phantasie. Aber man braucht diesen Mantel nicht zu besitzen, denn das Talent zur Einsamkeit ist angeboren. Fittich, Stab und Skorpion – Giftkröte, die den Karfunkel der Wahrheit im Haupte trägt – Einsamkeit! In deinen Schoß bettet sich müde, wer sich willenlos fortgerissen fühlt von den immer reißenderen Stromschnellen, die dem Niagara entgegenstürmen.

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 3, Leipzig 1888, S. 467-472.
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