III.

[185] Bei Egremonts war Diner, an das sich später ein kleiner Rout anschloß. Krastinik begrüßte unter den Geladenen seinen Bekannten von jenem herzoglichen Schreckensball, Sir. Thomas de Mowbray. Nach Tisch beim Thee trieb man hohe Politik.

»Glauben Sie an den Krieg zwischen Frankreich und Deutschland?« fragte Mr. Egremont, indem er Krastinik eine Shilling-Havanna huldvoll überreichte.

»Zweifellos. Die beiden großen Maschinen heizen sich innerlich so lange, bis sie plötzlich mit voller Dampfkraft aufeinanderprallen. Die daran zweifeln, gleichen dem Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt, um sich dem Feind zu verbergen.«

»Ich hoffe,« Sir Thomas de Mowbray reckte sich, »daß diese Preußen nicht wieder die armen Franzosen so unvorbereitet überfallen werden. Wodurch haben sie gesiegt? Nur durch ihre kolossale Uebermacht und ihr überlegenes Gewehr, wie ich noch kürzlich in der Broschüre eines französischen Artilleriecapitäns las.«

»Erlauben Sie,« sagte Krastinik ruhig. »Auch ich[185] habe jenes thörichte Machwerk verdaut. Wenn der Verfasser wirklich den großen Krieg mitgemacht hat, so mag es um die militärische und sonstige Bildung des französischen Offiziercorps übel bestellt sein. Wenn er, von seinem eigenen Unsinn betäubt, bona fide seine lügenhasten Albernheiten ausstreut, so muß die Masse des französischen Volkes doch derlei Ungeheuerlichkeiten erst recht für baare Münze nehmen.«

»Ah, ich wußte nicht, Sir,« wunderte sich der englische Kamerad, »daß Sie ein Bewunderer der Preußen seien. Sie nennen es lügenhafte Albernheiten, –«

»Wenn der Herr Artilleriecapitän am Fieberdelirium der Spionenriecherei leidet, wenn er von überlegenem Gewehr fabelt – obschon doch selbst jeder Boulevardier wissen müßte, wie sehr grade das Chassepot dem Zündnadelgewehr überlegen war –, wenn er von der unvollkommenen kriegerischen Natur der Deutschen redet und erzählt, daß diese jedesmal die Flucht ergriffen, sobald man sich Mann an Mann mit ihnen kreuzte! Warum? Nun, ›weil wir tapfrer sind als sie,‹ wie dieser Bramarbas prahlt. Die Deutschen können nur wünschen, daß man die Rathschläge solcher Broschüren befolgt: Das Losstürmen auf die kaltklütigen Nordländer, um sie mit dem Bajonett zu werfen, und besonders die Massen-Bajonettattacken bei Nacht werden gewiß zu empfehlen sein. So mag man den Heeren Moltkes nur mit Lachen entgegentreten, wie die unverdrossenen Chauvinisten lehren! Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten. – Meine Auffassung setzt Sie in Erstaunen?«[186]

»Allerdings, ein wenig.« erwiderte der Brite kalt.

»Man überschätzt Deutschlands Macht gewiß,« fiel Miß Maud Egremont ein, die sich soeben zu den Herren setzte, um an dem Gespräch theilzunehmen. »Ich bin überzeugt, wenn französische Truppen erst mal den Rhein überschreiten, fällt der Bundesstaat auseinander.«

Krastinik schüttelte den Kopf. »Täuschen wir uns nicht! Ein Ausländer hat meist gar keinen Einblick in die wahren inneren Verhältnisse eines Staates. Weil man im Deutschen Reichstag sich zankt, glauben die Fremden sozusagen an Keime zum Bürgerkrieg. Bedenken Sie, daß Napoleon III. allen Ernstes 1870 auf die Neutralität der Süddeutschen rechnete. – Kurz, ich fürchte, die Chauvinisten der Patriotenliga, die Boulangers und Deroulédes, machen sich um ihr Vaterland nicht wohlverdient durch ihr windiges Gerede über ihre Besieger, wodurch sie eigentlich nur sich selbst herabsetzen, da diese miserablen Soldaten doch Frankreich Stück für Stück zerbrachen, obschon es den äußersten Widerstand bis zu gänzlicher Erschöpfung ihnen entgegensetzte. Er entschuldigt höchstens, daß man in aller Einfalt das unpatriotische Verbrechen begeht, falsche Vorstellungen und luftige Hoffnungen vorzuspiegeln. Nach solchen Reden und Brochüren muß das revanchelustige Volk ja glauben, daß man heut mit mehr Recht, denn je, von einer Militär- Promenade ›A Berlin‹ reden könne. Wir wollen den Maulhelden nicht wünschen, daß sie die deutschen Bajonette in der Nähe schmecken lernen. Das Lachen würde ihnen dann wohl vergehn.«[187]

»Nun, eins können Sie doch nicht leugnen,« wandte Mr. Egremont ein, »daß die Deutschen stets über eine große Uebermacht verfügten.«

»Hm, ich weiß nicht. Wie steht es mit dieser angeblichen Uebermacht? In der zweiten Hälfte des Feldzugs war sie durchweg (zweifach, dreifach, manchmal vier- und fünffach) auf Seiten der Franzosen. Bei Weißenburg, Wörth, Spicheren, Gravelotte wurde die deutsche Ueberlegenheit an Truppen nicht nur aufgewogen durch unerhört starke Stellungen des Feindes, sondern an allen einzelnen Entscheidungspunkten war die Uebermacht ganz auf französischer Seite. Bei Vionville standen die Franzosen an den meisten Punkten mit sechsfacher Uebermacht entgegen, so daß ein deutsches Regiment gegen zwei Divisionen, eine Brigade gegen ein und einhalb Armeecorps kämpfte; ja, am Abend, als alle Verstärkungen eingetroffen, war Bazaine immer noch ums Doppelte überlegen. Und nun Sedan! Darüber herrschen vielfach falsche Begriffe. Mac Mahons Armee betrug gegen 130000 Mann, was aus Addition des Schlachtverlustes, der Kapitulirenden und der über Belgien und Mezières Entkommenen sich leicht ergiebt. Von deutschen Corps kämpften in der Schlacht selbst höchstens 150000 Mann. Da nun die Franzosen im Innenkreis in dicken Massen standen, so haben sie zweifellos in der Schlacht selbst überall Uebermacht gehabt gegen die dünnen Linien der Deutschen auf der Peripherie. So zerrinnt das Märchen von der deutschen Uebermacht ins leere Nichts.«

»Also war es die deutsche Führung, Count de[188] Rasteinik.« Egremont gab mit großer Wichtigkeit das entscheidende Votum des freien Briten ab: »Moltke ist der erste Feldherr Europas.«

»Hm.« Krastinick schüttelte leicht, den Kopf. »Ob die Generale den Löwenantheil des Sieges beanspruchen dürfen, weiß ich noch nicht einmal. So vortrefflich die Kaiserlich Napoleonische Armee sich schlug, so war wohl auch das Material der Deutschen in jeder Einzeltruppe ein besseres. Nicht auf dem System Moltkes, wovon die Franzosen so viel Unklares träumen, nicht auf der Führung des Großen Generalstabes, die ja ebenso gut Schnitzer machte wie die französische Oberleitung, sondern auf der kriegerischen Natur der Deutschen beruht der Erfolg Deutschlands.« Er verbreitete sich noch weitläufig über die Autoritätsmichelei, die immer nur »oben« das Verdienst sucht, und über die völlige Unfähigkeit der französischen Führung und Intendantur, trotz welcher aber das kaiserliche Heer, wegen Geschicklichkeit und Bravour der Truppen selbst, einen furchtbaren Widerstand leisten konnte. Das Alles war den Hörern ganz neu und erregte ungläubiges Staunen, was im Laufe des folgenden Gesprächs sich zu einer gewissen Mißbilligung steigerte. Wer etwas Neues sagt, gilt stets für paradox; wer liebgewordene Vorurtheile über den Haufen wirst, für arrogant.

»Well,« sagte Mowbray, »Bazaine nennt sich ja noch in seiner bekannten Rechtfertigungsschrift den ›Besieger Preußens in den zwei schwersten Schlachten des Jahrhunderts‹.«

»Ja, er wagt sich damit zu brüsten,« erwiderte der[189] Oesterreicher trocken, »obschon er damit höchstens das niedrige Niveau seines Begriffsvermögens zeigt.«

»Hört, hört? Ein französischer Marschall..«

»Abgesehen von der taktischen Unbestreitbarkeit der deutschen Siege,« fuhr Jener unverdrossen fort, »wurden Vionville und Gravelotte ja zu schweren strategischen Niederlagen..«

»Hört, hört? Sie widersprechen sich da doch, Sir,« fiel ihm Maud spitz ins Wort und schien sich dieses Hiebes zu freuen. »Sie verkleinern die preußische Strategie und sagen nun doch selber..«

»Pardon, Miß. Nicht die geniale Voraussicht des preußischen Hauptquartiers erzielte diese Erfolge, welches z.B. bei Gravelotte die Entscheidung ganz an falscher Stelle, statt bei St. Privat auf dem entgegen gesetzten Flügel suchte. Bazaines Auffassung seiner Lage am 16. August war von seinem Standpunkt aus ganz richtig. Er wollte ja eigentlich gar nicht nach Verdun abmarschiren, wie deutscherseits immer behauptet, sondern vor allem sich an Metz lehnen. Der angebliche Plan des deutschen Obercommandos, die 200000 Mann starke Bazainesche Armee in das für uneinnehmbar gehaltene Metz hineinzudrängen, ist ihm erst nachträglich als von Anfang an bestehend untergeschoben. Der Plan schien auch so unerhört kühn, daß er kaum Erfolg versprach. Am 16. August, dem eigentlichen Entscheidungstag des Feldzugs, ohne den das spätere Sedan unmöglich war, operirte man beiderseits so planlos wie irgend möglich und der[190] ganze Ruhm gebührt den unübertrefflichen altpreußischen Truppen.«

»Und Sedan?« fragte Egremont.

»Glauben Sie denn etwa, ein Sedan wäre möglich gewesen ohne die zwingende Gewalt schicksalsschwerer Umstände? Die deutsche Oberleitung, die auf Paris vorrücken wollte, tappte ganz im Dunkeln und der gewagte Plan Mac Mahons, an der Nordgrenze durchzuschlüpfen, war beinahe geglückt – als man im letzten Augenblick die Falle merkte und nun in unerhörten Gewaltmärschen an die Maas eilte, die man nur deutschen Truppen zumuthen durfte. Uebrigens wird auch hier Moltkes spezielles Verdienst etwas überschätzt. Der Befehl an die dritte Armee zu der großen Rechtsschwenkung kam schon zu spät – hätte nicht der Generalstabschef dieser Armee, der alte Blumenthal, auf eigene Initiative hin schon vorher die Rechtsschwenkung ausgeführt. Diese Thatsache, ist freilich nur sehr Wenigen bekannt. Trotzalledem aber fruchtete das Alles nichts, falls nicht Mac Mahon so schandbar langsam marschirt wäre. Aber auch daß er an der Maas ereilt wurde, ehe noch ein Theil seiner Truppen auf das jenseitige Ufer gelangt war, hätte ausgeglichen werden können, falls nicht Faillys Corps sich bei Beaumont in so unerhörter Weise überfallen ließ. Und selbst dies hätte noch verwunden werden können, wenn Mac Mahon nicht unbegreiflicherweise unter den Wällen von Sedan hätte abkochen lassen und sich achtundvierzig Stunden dort zur Ruhe gesetzt hätte. Ja, und selbst dann noch war, wenn auch nicht eine schreckliche[191] Niederlage, so doch die Kapitulation vollständig zu vermeiden, wenn man nur am Morgen oder Vormittag mit aller Macht auf Mezières abrückte. Unter solchen Umständen zu siegen, ist keine Kunst. In der Schlacht von Sedan selber aber hat wieder nur die wundervolle Sicherheit und Energie der deutschen Truppen selbst so glänzende Resultate ermöglicht. – Was geschah aber nach Sedan? Vinoy, der unrettbar verloren war, entkam mit seinem ganzen Heer und in dem nun völlig waffenlosen entblößten Frankreich marschirte Moltke so vorsichtig mathematisch, daß man Paris richtig nicht mehr überrumpelte, wie man so leicht konnte. Und am Tag von Châtillon beim Eintreffen vor Paris, wo man notorisch die Stadt hätte nehmen können, fehlte es ganz an selbstständiger Initiative. Selbst Blücher handelte 1815 beim Vormarsch auf Paris nach Waterloo viel genialer und darum richtiger. Und wie anders würde ein Napoleon handeln! Nein, Mac Mahon und Bazaine waren nichts wie leidliche Routiniers der Taktik, sogenannte Bataillegenerale – aber die preußische Führung riecht andrerseits immer wieder nach der Studirlampe. Statt Napoleons Kriegskunst haben wir heut eine Kriegswissenschaft, ein Schachspiel mit höherer Mathematik!«

Eine Pause trat ein. Die Einen schienen das Gehörte verdauen zu wollen, die Andern schienen, schon ungeduldig. Mowbray gähnte laut.

»Wie der aber arrogant über Alles aburtheilt!« flüsterte eine Freundin Miß Mauds dieser zu, welche zu der Gruppe getreten war und sich über Mauds Stuhl[192] lehnte – ungeduldig, daß dieser fesche Ausländer die Herrn durch gelehrte Gespräche so lange von dem Thee der Damen fernhalte. Gar kein ladies-man!

»Hört, hört!« verlautbarte sich Egremont gedehnt »Uebrigens, wenn Sie Bonaparten heranziehn, würden nicht 100000 Mann, von ihm selber geführt, heut von jedem beliebigen General mit 50000 heutigen Gewehren geschlagen werden?«

»Ich glaube, Sie irren, Mr. Egremont.« Krastinik befand sich in der unglücklichen Lage, stets widersprechen zu müssen. »Sie sind nicht Militär und grade Laien fassen den Krieg zu mathematisch-mechanisch auf, würdigen nie das hauptsächlich entscheidende psychologische Moment der Taktik. Eben weil sie dazu geneigt sind, überschätzen sie die nur partielle Wirkung des Fernfeuers.«

»Wie das?« fragte Maud.

»Nun, erstlich ist die Wirkung des Massen-Schnellfeuers auf weite Entfernung verhältnißmäßig gering. Erfahrungen durch Verlustziffern des siebziger Krieges lehren, daß von 1000 Geschossen bei Massenfeuer auf Stürmende selbst auf ganz deckungsloser Fläche mit rasanter Flugbahn erst eins trifft. Das große Sicheln beginnt erst auf 400 Meter Entfernung und steigert sich progressiv. Nun verführt aber das Fernschießen, zumal jetzt beim Magazin-Gewehr, dazu, ununterbrochen draufloszupaffen, so daß beim fünfzigsten Schuß (– bis zu 150 Schuß kann man hintereinander verknallen –) ein blindes zielloses Knattern eintritt. Das überhitzte Gewehr droht zu springen. Indem er fälschlich ein massenhaftes Treffen[193] seines massenhaften Kugelverbrauchs voraussetzt, macht ein unentwegtes Vordringen des Feindes den Vertheidiger stutzig. Seine Nerven werden von dem Rollen seines eignen Feuers erschüttert, die Hand am Laufe fliegt, der Arm zittert, er verliert jede Selbstbeherrschung und verschießt seine Munition: in dieser Verfassung trifft ihn ein entschlossener kühner Sturmlauf, der den umfassenden Bleimantel nicht scheut. Der Angreifer hingegen empfängt durch seinen Sturmlauf einen nervösen Elan. Er schieße nun erst, sobald er auf 400 bis 100 Meter herangekommen, im Vorgehen kaltblütig und ruhig. Noch hat er keinen Schuß gethan; seine Nerven sind noch nicht vom augenflimmernden Knall-Wahnsinn (diesem selbstüberschätzenden Größenwahn des modernen Hinterlader-Fußvolks!) ergriffen; er pustet treffsicher und klaren Blicks in runden Salven sein Nah-Feuer dem Feind ins Gesicht und bringt ihm in einem Zehntel der Zeit stärkere Verluste bei, als er während des ganzen Sturmlaufs erlitten. – Unter diesen Umständen bei gesunder taktischer Formation scheint also immer noch eine gutgeschulte Truppe einer minder tüchtigen überlegen, falls nur die Führung den Unterschied der Waffe ausgleicht.«

Nur Wenige waren dieser lichtvollen Auseinandersetzung gespannt gefolgt. »Der schwatzt, als ob er ein Feldherrngenie wäre!« näselte Mowbray Miß Maud ins Ohr. »Ja, das läßt sich Alles hören,« brummte Herr Egremont. »Ob aber in der Praxis..«

»Nun, Sie müssen's ja am Besten wissen, Sir Thomas,« wandte sich der Oesterreicher an diesen, nicht[194] ganz ohne boshafte Nebenabsicht. »Wie leicht sprengten doch im Sudan die Mahdisten, bloß mit Schwert und Schild bewaffnet, die Magazingewehr-Vierecke der besten englischen Truppen!«

Ein unruhiges Räuspern ließ sich vernehmen. Der Ausländer war doch auch gar zu taktlos! Vom Sudan-feldzug zu reden – gradezu shoking, Mangel an respectability!

»Mein Herr, die britischen Vierecke wurden keineswegsgesprengt,« erwiderte Mowbray schroff, indem er seinen Giraffenhals majestätisch reckte. »Englische Vierecke pflegen überhaupt nicht gesprengt zu werden.« Krastinik zuckte verstohlen die Achseln. Doch ein beifälliges Gemurmel belehrte ihn darüber, daß man nicht ungestraft dem Größenwahn nationaler Ueberhebung auf die Zehen tritt. Mowbray schien einen Augenblick zu zögern, ob er noch etwas hinzufügen solle, platzte aber, ohne lange an dem Brocken »glory« zu würgen, dann plötzlich los: »Uebrigens, Herr Graf, was Sie da vom Fernfeuer u.s.w. äußerten, trifft natürlich auf britische Truppen nicht zu. Nerven-Erschütterung ist bei uns Insel-Leuten nicht zu befürchten; die haben Nerven von Stahl.«

Krastinik hatte sich zwar baß gewundert, an allen mit Reklameprospekten beklebten Mauern, ja sogar in Anstalten für öffentliche Nothdurft, Mittel gegen »nervous debility« empfohlen zu sehen. Doch er biß sich auf die Lippen und schwieg, bis der alte Egremont mit Würde das unumstößliche Dogma hinwarf: »Well, Sir, das werden Sie ja nicht bestreiten: Der englische Soldat ist[195] der beste der Welt. Sogar der deutsche Kronprinz hat auf einer Revne in Aldershot dies geäußert. Es stand in allen Blättern.«

»Dann muß es freilich wahr sein,« versetzte Krastinik ernsthaft, obschon er gern etwas von »Compliment aus Höflichkeit« hätte einfließen lassen. Dagegen bemerkte er mit ruhiger Ironie: »Ja freilich. Auch Napoleon soll so etwas auf St. Helena einigen Engländern gesagt haben. Die englische Infanterie sei die beste in Europa. Nur fügte er hinzu: ›Gott sei Dank, giebt's nicht viel davon.‹«

Auch diese Einschränkung, deren Stachel man wohl fühlte, kam der britischen »Glory« (dieser widerlichen Bastardschwester der französischen Gloire) augenscheinlich ungelegen. Denn Mowbray fiel hastig ein: »Doch haben diese Wenigen ganz Europa geschlagen.«

Krastinik hätte sich gern erkundigt: wo, und würde in Sachen Waterloo dem britischen Kameraden die »Waterloo-Lectures« des Colonel Chesney an der Woolwicher Kriegsschule empfohlen haben. Doch behielt er wohlweislich sein Wissen für sich.

Egremont ritt jetzt wieder sein pomphaftes Steckenpferd. Nachdem die »Britische Aristokratie« durch das Toryministerium Salisbury wieder die Leitung der auswärtigen Geschäfte übernommen, werde Großbritannien aufs Neue die entscheidende Rolle in Europa und speziell in dem kommenden Weltkrieg spielen. Krastinik hütete sich wohl anzudeuten, daß man auf dem Continent über die »Krämerpolitik« ganz anders denke, und meinte auch, daß England in Asien seine Suprematie behaupten werde.[196] Ueberhaupt überschätze man Rußlands Macht bei weitem, das wegen gänzlicher Verrottung der Verwaltung so spät mobilisiren könne, daß an einen erfolgreichen Offensivkrieg desselben gar nicht zu denken sei. Dagegen sei man, wenigstens im großen Publikum, geneigt, Frankreichs in der That furchtbare Macht jetzt zu unterschätzen. Ebenso sei Oesterreich bei all seinen unteren Schäden die drittgrößte und -beste Militairmacht geblieben und könne zur Noth allein mit Rußland fertig werden. Das Gespräch lenkte sich jetzt auf den Nihilismus und von da auf ähnliche Erscheinungen: Die Irischen Dynamitverschwörer, die Deutsche Socialdemokratie, den Anarchismus. Nachdem man hin- und hergeredet und auch die Millionen umfassende socialistische Liga. »United Workmen«, welche der englischen Gesellschaft Gefahr drohe, besprochen, sagte Krastinik plötzlich: »Ja, wir werden wohl Alle noch dranglauben müssen.«

»Wie meinen Sie das?« Der zur Ruhe gesetzte Bücher-Millionär blies die Backen auf und steckte unwillkürlich die Hände in die Hosentaschen.

»Ich meine, daß wir Alle noch ins Gras beißen werden und daß die sociale Revolution ein unabwendbar drohendes Gewitter ist.«

Miß Alice, die auch hinzugetreten war, stieß einen allerliebsten kleinen Schrei aus. Mowbray, der britische Leu, ermuthigte sie jedoch mit einem feurigen Blick: »Fürchten Sie nichts, Miß. Noch wird es nicht an Männern fehlen, welche die Gesellschaft zu schützen wissen. Gott sei Dank giebt es noch Armeeen und Offiziere zur Rettung der Staatsgewalt.«[197]

Krastinik sah nicht den kokett zärtlichen Dankbarkeitsblick der reizenden jungen Dame, sondern fuhr düster und etwas unwirsch drein: »Bravo! So sprach man auch vor der Französischen Revolution! Das sicherste Kennzeichen für die positive Gefahr scheint es mir aber, daß man überall in der Guten Gesellschaft von der socialen Revolution wie von einer Wahrscheinlichkeit schwatzt – grade so wie damals die Grandseigneurs thaten. Welche schöne Revolution werdet Ihr haben! Kinder, ich beneide Euch! rief der Patriarch Voltaire als gefeierter Jubelgreis der liberalen Jeunesse dorée zu, die sich als schwärmende Schöngeister eine Revolution wie eine galante Oper dachten. Ach, er brauchte sie nicht zu beneiden! Sie wurden ja Alle geköpft. Je mehr sie von Freiheit und Brüderlichkeit schwatzten, desto eher. Was half's dem Herzog von Orleans, daß er sich ›Bürger Philipp Egalité‹ nannte? Die Egalité verlangte darum doch seinen Kopf – eben weil er Herzog gewesen war. Das kommt Alles viel schrecklicher wie man denkt.« Er sah vor sich nieder. Die Gesellschaft fühlte sich in der Verdauung gestört und ein reicher Brauer legte mit schmerzhafter Miene seine Hand auf die weiße Weste seiner Magenhöhle.

»Sie machen Einem Angst und Bange,« sagte Miß Maud mit ihrer scharfen Stimme. »Aber wie wäre das Alles denn möglich? Wer will denn in Europa Revolution außer den unteren Ständen? Man mag ja wohl einige sociale und sonstige Uebelstände abschaffen; aber darüber hinaus geht Niemandes Wollen.«

Krastinik lachte leicht auf. »Ja wohl, wer will[198] Revolution! Die paar hundert Jacobiner sind es gewesen, die ganz Frankreich tyrannisirten und die Besiegung Europas organisirten. Und mit dem Abschaffen socialer Uebel auf gesetzlichem Wege geht es, wie mit der Lawine, die aus einem Schneeball sich bildet und ins Rollen kommt, bis sie im Abgrund verdonnert. Niemand wollte damals die Republik, Jeder nur die Constitution. Aber es liegt in der Art der Monarchie, daß sie ihr abgerungene Beschränkungen nie gutwillig trägt, sondern stets dagegen opponirt. Ich, Aristokrat, Monarchist bis in die Knochen, Royalist, getreu meinem kaiserlichen Herrn, würde es nicht anders machen; würde den Thron im Kampf gegen die siegreiche Demokratie unterstützen. Diese aber ist wie der Tiger, der Blut geleckt hat. Man gebe ihr nur den triftigen Vorwand, indem man ihr trotzt, und sie springt von Stufe zu Stufe ihren letzten Ziele entgegen. Auch überstürzt sich ja Alles in solchen Zeiten. In der berühmten Nachtsitzung des französischen Adels vom 4. August 1789 wollte man auch mit einigen allgemeinen Gleichheitstiraden beginnen und endete um 2 Uhr Morgens, nachdem man die gesammten Privilegien und Feudalrechte mit eigener Hand vernichtete! – Uebrigens doch bei alledem eine merkwürdige Nacht,« fügte er nach einer Pause hinzu, da Alles schwieg und sich betreten ansah. »War ja verrückt, aber wird dem französischen Adel doch ewig zur Ehre gereichen. Denn..«

»Meine Herren,« unterbrach ihn Miß Maud, indem sie sich hastig erhob: »Ich finde, das Gespräch nimmt eine zu ernste Wendung. Die Damen erwarten Sie schmerzlich.«..[199]

Xaver empfahl sich bald. »A queer little fellow!« näselte Mowbray, indem er ihm durch sein Monocle nach sah. Alice, der er die Cour schnitt, antwortete nicht.

»Ein schrecklich geschwätziger altkluger Mensch. Läßt Niemanden zu Worte kommen,« brummte Egremont, der mehrmals pompöse Phrasen hatte verschlucken müssen.

»Und was für baroke Ansichten er hat!« meinte, eine Freundin von Miß Alice.

»Und so von sich eingenommen!« meinte eine Freundin von Miß Maud.

»Man begreift gar nicht..« sagte der fette Brauer, der die Hand auf die weiße Weste seiner Magenhöhle, zu legen liebte. »Ein Graf.. und so vulgär radikale Ansichten!«

»Ueberspannt!«

»Revolutionär!«

»Hm, you know.. Graf.. das bedeutet nicht viel auf dem Continent.. da ist immer der Zehnte Graf.«

»Hm, er ist ja wohl auch ein jüngerer Sohn,« warf Egremont nachdenklich hin.

»Ah, ein jüngerer Sohn?!« näselte Mowbray.

»Das erklärt mir Alles!« entschied der fette Herr mit der weißen Weste.

»Jüngere Söhne – hähä – sind immer radikal.«

»Kurz, a queer fellow!« setzte Mowbray als letztes Punktum. Miß Alice ermuthigte ihn durch einen schmachtenden Blick.

Eine entscheidende gesellschaftliche Niederlage. »A queer fellow« – dieser Spitzname hatte den fremden[200] Eindringling für immer gestempelt. Das kommt davon, wenn man diese Ausländer, diese Foreigners, in die britische Respektabilität aufnimmt Sie zweifeln an der Unfehlbarkeit alles Englischen, sie reden von unbequemen Sachen, welche die Verdauung stören. Sie verletzen die herkömmlichste Sittlichkeit in ihrem wilden barbarischen Größenwahn.

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 1, Leipzig 1888, S. 185-201.
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