Viertes Buch.

[201] »Bitu meine Nauze?« flüsterte Mary in ihrem Kellnerinnen-Jargon, indem sie ihre Arme zum Abschied um Rothers Hals schlang. – »Adieu, mein Schatz.«

Rother warf sich in eine Droschke, nachdem er die ihre bezahlt, um sie allein nach Hause fahren zu lassen. – Der Droschkengaul trug ihn langsam durch die lautlose Winternacht. Ein sonderbarer Geruch haftete an seinen Kleidern, wie auf einer Wange der Biß oder die Nässe eines allzufeurigen Kusses haften bleiben – ein Geruch, wie ihn ein transpirirender Mädchenkörper ausströmt, dessen Schweiß durch die Blumen und den Parfüm der Kleider einen durchdringenden wollüstigen Duft empfängt.

Rother befand sich in einem Zustand willenlos mechanischer Apathie. Der Trieb zum Produciren schien ihm ganz verloren gegangen. Er bummelte in den Spelunken[202] herum, wie ein von mechanischen Fäden, gezogener Automat. Bei Marys Freundinnen verlieh man ihm den Spottnamen »der Trompeter«, da Scheffels Säkkinger Aventüre diesen Weibern meist geläufig ist – sie wollten damit das Künstlerisch-Ideale bezeichnen und griffen daher, als Mary schwärmerisch von ihrem neuen Freunde meinte, er sei so süß und lieb wie der Trompeter von Säkkingen, diese Bezeichnung auf.

Immer neue Flaschen Wem trinken, gilt als Bedingung eines innigen Verhältnisses in diesen Lokalen, wenn der Wirth sie väterlich sanctioniren und die Kolleginnen ein Auge zudrücken sollen. Das fängt auf die Dauer an, lästig zu werden.

Aber Rother fühlte, wie sehr der Mensch ein Sklave der Gewohnheit wird, aus der man sich nur gewaltsam herausreißen kann. Auch behielt Mary in ihrer spanischen Mantille und ihrem Spitzenschleier für ihn etwas »Aristokratisches« und es besteht nun einmal ein lähmend Zwingendes in verliebter Herzenssympathie. Die Freundschaft mit einem Weibe wird für den Mann in den Widerwärtigkeiten des Lebens stets einen unerklärlichen Balsam besitzen, und wäre das Weib selbst eine Schenkmamsell. In dieser Beziehung zeigt sich die unverwischbare Allgewalt der Geschlechtssympathie. Mary hatte ihren Amant, wie das so üblich, ihrer Zimmer-Wirthin (»Comment-Mutter«) vorgestellt, welche ihr mütterliches Urtheil dahin abgab, daß der Herr mit dem hübschen Gesicht, so »blaue treue Augen« habe, also zu cultiviren sei.

Marys Wünsche betreffs Einlösung ihrer versetzten[203] Uhr, und dergleichen mehr, fielen bei Rother auf fruchtbaren Boden; ihre Droschken nach Hause bezahlte er ihr pflichtschuldigst, aber sie selbst besuchte er selten. Es schien mit der Zeit mehr ein gewisses Mitleid, was ihn an sie kettete, indem er ihre Neigung für eine wirklich tiefere hielt. Hierin irrte er auch nicht, wohl aber, wenn er ihrer Versicherung Glauben schenkte, sie habe sonst kein »ernsthaftes Verhältniß« nebenbei.


Ja, war denn das wirklich er, Rother, der sich, wie ein Ladenschwengel oder ein halbwüchsiger Student mit seiner Kneipmamsell oder Confectioneuse, mit einem thörichten Bierbaß-Mädel umhertrieb, die zufällig in ihn verliebt war und ihren Mund unersättlich mit der Mahnung »Kuß« ihm entgegenspitzte? Und das Alles nur, um die nagende Sehnsucht und Erinnerung zu betäuben!

War das denn nicht eine Profanation seiner wirklichen wahren Liebe für jene Andere, die er sich doch mit Leib und Seele als Braut erkoren? Und dabei liebelte er nebenbei noch mit der Dienstmagd der Wirthsleute, wo er wohnte! Kein Zweifel, sein ganzes Wesen war in kindsköpfische Sinnlichkeit aufgelöst, er schien von einem erotischen Teufel besessen. Diesen Teufel kann man nur austreiben durch Beelzebub, den obersten der Teufel. Und so keimte denn in Rother der künstlerische Größenwahn um so stärker hervor, jemehr seine Farben auf der Palette trockneten und der Pinsel nervös seiner Hand entglitt.[204]

Stundenlang auf einem Divan ausgestreckt, eine Virginia nach der andern schmauchend – manchmal aus Apathie nur an dem Strohhalm derselben kauend, ohne den »Rattenschwanz« anzuzünden –, fing er an, über seiner verkannten künstlerischen Bedeutung zu brüten.

Aber statt diese mit dem Pinsel zu beweisen, griff er zur Feder. Wegen leidlichen Stils geschätzter Correspondent einer Kunstchronik, verriß er nunmehr rücksichtslos alle Lebenden. Adolf Menzel sei nur ein Vorläufer des Naturalismus. Da sehe man dagegen die Warzen der drei alten Weiber in der Kirche an, mit denen Meister Laibl uns beschenkte – dafür gebe er, Eduard Rother, den ganzen Rafael!

Doch auch dies Gezanke um eine Kunst-Revolution vermochte seine innere Unrast nicht zu stillen.

Wer irgend eine Handlung beging, die ihn schädigen oder lächerlich machen kann, wird ewig von den Dämonen einer ungewissen Furcht umhergesagt. Wie oft verwirklicht die Furcht sich nicht und wie oft tritt die gefürchtete Unannehmlichkeit grade an einer Stelle auf, wo man sie nicht erwartet! Wie oft räumt das Schicksal oder der Zufall eine Reihe von Gefahren, die uns drohten, aus dem Wege, und wie oft schafft er neue Hemmnisse, an die man nicht denken konnte!

Wie sollte es denn Alles enden! Nachdem eine etwas kühlere Ueberlegung seine blinde Leidenschaft abgeschwächt, legte er sich diese Frage täglich vor. Was für entsetzliche Schranken thürmten sich vor ihm auf. Was für Kämpfe mußte er bestehen, wenn er sie wirklich heirathen[205] wollte! Aber er hatte sein Wort gegeben, er war ein Gentleman, und – er liebte sie. Mit hartnäckiger Festigkeit blieb er an dem Verabredeten haften, mit jenem falschen Stolz, den schwache Naturen für Stärke ausgeben.

Vier bis fünf Wochen waren verflossen, sie hatte nichts von sich hören lassen. Nun, das war ja die Verabredung. In der letzten Woche hatte er sich aufgerafft und wie ein Held mit Anspannung aller Kräfte gearbeitet. Immer nur einen Gedanken dabei im Auge, Ruhm und Geld zu erlangen – für sie. Es gelang. Seine Freunde, welche die Composition seines Bildes (Kohlenzeichnung) »General Hoche stirbt in Folge geschlechtlicher Excesse« betrachten durften, erklärten es einstimmig für genial. Beim Nachhausegehen wunderten sie sich gegeneinander aus, wie dieser Kerl sich »herausgemacht« habe. Daher schien auch wohl die Unruhe, die krankhafte Blässe und Nervenschwäche, die man seit seiner Rückkehr aus München an ihm bemerkt, zu erklären. Natürlich, sein Bild ging ihm im Kopf herum.

So war denn doch etwas bei all dem Jammer herausgekommen. Im Fieber hatte er gebummelt, im Fieber blitzschnell die Idee dieses Bildes gefaßt, im Fieber Tag und Nacht daran gearbeitet – Liebes- und Arbeitsfieber hatten einander unterstützt.

Und in diesem Hochgefühl setzte er sich hin und schrieb an sie einen langen Brief. So lange hatte er sich bezwungen, sein Herz zum Schweigen gebracht – nun schüttete er ihr sein Herz aus in glühenden brennenden Worten, wie nur ein Künstler es vermag. Ja, er mußte[206] ihr Alles, Alles sagen, was ihm an den Eingeweiden fraß, in den Schläfen hämmerte. – –

Wie, noch keine Antwort? Eine Woche verging. Ein plötzlicher Einfall führte ihn wieder in das Café Bammer zurück, das ihm Zeuge so vieler innerer Qualen gewesen. Der geschniegelte Wirth zeigte sich hocherfreut, »Herrn Professor« wiederzusehen. Dabei brachte er das Gespräch wiederum auf die berüchtigte Kathi. Ob Rother etwas davon wisse. Keine Spur? – Nun, neulich sei der Eberhart (Herr Professor würden sich der Geschichte von damals wohl noch erinnern) bei ihm gewesen. Habe Der auf sie geschimpft. Das sei ein abgefeimtes Mensch. Er hätte sie ja gern gebraucht und ihr dann einen Tritt vor den holden ... gegeben (wie sich Bammer geschmackvoll ausdrückte), aber sie habe ihn nur an der Nase herumgeführt und ihm ein schmähliches Geld gekostet. »Das ist doch wohl kaum wahr,« stammelte Rother, bleich vor Wuth.

»Mein heiliges Ehrenwort!« (Wirthsleute und Demimonde haben stets ein »heiliges« Ehrenwort – doppelt hält gut). Bammer redete noch eine Weile so fort und erzählte, Wursteler sei soeben aus Hamburg zurückgekehrt. Der sei als Agent in einer Geschäftsreise dort gewesen und habe doch mal Kathi besuchen wollen. Na, der habe schöne Geschichten zu erzählen!

Rother wollte sie nicht hören und verbat sich weiteren Klatsch. Zu Hause aber sandte er nochmals einen eingeschriebenen Brief nach Hamburg, der geschickt entworfen war und mit Ernst Aufklärung und endliche Entscheidung verlangte. – –[207]

Er starrte wild in seinem Atelier umher. Eine Verachtung all seines Besitzes ergriff ihn, des materiellen wie des geistigen – denn all sein Begehren und Sehnen war ja nur in dem einzigen Gegenstand seiner Leidenschaft concentrirt. Wozu diese schöngeschnitzten Stühle, diese persischen Teppiche, diese rothen Karawanserei-Vorhänge, diese krystallene Ampel, diese Stukkatur des Getäfels, diese brokat-purpurgestreiften Papiertapeten, dieser Rokoko-Bücherschrank mit der umfangreichen Bücherei voll von eleganten Einbänden illustrirter Prachtwerke? Wozu das Alles? Wozu sein Haben und sein Wissen und sein Können und sein sauer erworbenes bischen Ruhm in echter Kunst! Viel besser, er hätte sein Geld dazu angewandt, sich ein Reitpferd zu kaufen und die neueste Mode zu cultiviren, um ihr zu gefallen. Was »echte Kunst«! Geschäfte hätte er machen, sich zum Damenportraitmaler, Unsterblichkeitsverleiher von Spitzen-und Sammtmantillen ausbilden sollen – dann hätte er gehörig Geld zusammengescharrt und »Ruhm« bei dem Marktpöbel errungen. Geld für sich selber brauchte er zwar wenig, – aber er hätte dann für sie mehr übrig gehabt. Wozu all dieser überflüssige Atelier-Luxus und all diese verdammten Bücher und Bilder! Als ein Kleid von Lyoner Seide, als ein Armband für sie hätte das vergeudete Kapital weit besser seinen Zweck erfüllt! Was waren alle Kunsterzeugnisse und alle Naturschönheiten neben einem Rümpfen ihrer klassischen Nase, einem Zucken ihres göttlichen Mundes, einem schelmischen Aufzucken ihrer Augensterne![208]

Sie, sie – und die ganze übrige Welt wiegt federleicht auf dieser Wagschale.

So schleuderte ihn der Furor Aphrodisiacus immer tiefer in die Verzweiflung hinein.

Eine neue Phase der Selbstquälerei begann. Er durchmusterte seine Mappen mit Skizzen seiner Bilder und betrachtete die vollendeten Werke, die er sich wegen Mangels an Käufern an die Wand hängen durfte. Ueberall fand er grobe Fehler; auch die Verschneidungen der Illustrationen, die an illustrirte Familienjournale geliefert, und die Mängel der Photographieen nach seinen Bildern entgingen ihm nicht. Selbst der schlechte Firniß auf einem seiner vollendeten Opera an der Wand ärgerte ihn.

Zu flüchtig, zu rasch, zu viel! mußte er sich immer sagen. Andrerseits muß man mit tausend Zufälligkeiten kämpfen. Ein Bild wurde ihm einmal auf der Treppe, als es zur Kunstausstellung auf den Cantianplatz wandern sollte, vom Träger fallen gelassen und übel lädirt. Durch einen ausgeführten Carton hatte der kleine Bube des Portiers, der in seinem Atelier bei einer Reinemacherei in seiner Abwesenheit spielte, mit einer großen Latte, wie man sie zum Anlehnen des Armes beim Malen benutzt, ein brettes Loch gestoßen. Ueberall alberne Widerwärtigkeiten, überall Aerger und Quängelei, selbst wenn man sein Aeußerstes darangesetzt.

Hier diese Armverzeichnung, dort jene unrichtige Verkürzung. Hier hätte die coloristische Stimmung durch eine geringe Aenderung sehr gewinnen können, dort hat[209] ein zu grell gegriffener »Ton« die ganze Einheitlichkeit des Colorits verdorben. Und was in der Kunst einmal geschah, ist nicht mehr zu repariren. O die Kunst, welche Folter! Wie ist sie unerlernbar, und je höher das Ziel gesteckt, desto schwerer! Und hinterher die naseweisen Redensarten des Publikums und gar der Recensenten, wo sich Jeder nur an die auffälligen Mängel und Wenige an die auffallenden Vorzüge klammern!

Allerdings mußte er sich bekennen, nachdem er sich drei Tage lang in diese Selbstquälerei eingewühlt, daß die Verbesserungen und Umänderungen, die er vornehmen wollte, im Grunde wenig änderten. Bei Manchem hatte er obendrein die praktischen Verhältnisse nicht bedacht, als er in seinem Verbesserungs-Delirium plötzlich an einige Besitzer seiner Werke schrieb, man möge ihn an den alten Sachen künstlerische Verschönerungen versuchen lassen. Man erwiderte ihm höflichst, daß dies jetzt zu spät sei, daß man das Werk in dieser Form liebgewonnen habe, daß eine Umänderung selten eine Verbesserung sei. Es ist ein Fluch des Künstlers, daß seine Werke stets nur in der Form fortleben sollen, die er ihnen zuerst verlieh. Keine Verbesserung wird genehmigt. Und ebenso quält die Betrachtung den Künstler, nachdem er sich über etwaige Fehler und nothwendige Verbesserungen das Gehirn zermartert, daß im Grunde genommen diese Fehler gar nicht so störend wirkten und vielleicht sogar einen gewissen Reiz besaßen, während das nutzlose Grübeln darüber nur zeitraubend sein konnte.

Was einmal geschehn, ist nicht mehr zu ändern.[210]

Es giebt Autoren, die sich ewig über die Druckfehler ärgern, welche sie – und bekanntlich immer neue – in ihren Büchern entdecken. Ebenso geht es mit den Fehlern überhaupt. Nach solchem Maßstab würde bei jeder Leistung das nonum prematur in annum nöthig sein. Allerdings giebt es Momente, wo dem Künstler die ungeheure Pein, Entsagung und Arbeitskraft, wie in eine Masse zusammengeballt, überwältigend naherücken, welche sein Beruf von Jugend an erfordert. Nichts auf der Welt lebt, was sich den Leistungen des wahren Künstlerthums vergleichen ließe, und nichts wird verhältnißmäßig so wenig belohnt. Wenn schon die erfolgreiche Arbeit so viel Opfer kostet, wie viel mehr erst die erfolglose, erfolglos in künstlerischem oder in roh materiellem Sinne! Welche namenlose Qual liegt in dem Gedanken, daß eine Arbeit nur deswegen nicht zur Vollendung reiste, weil der Künstler sich allzu Schwerem und Hohem zugewandt? Und wie oft sind künstlerische Fehler, die später unreparirbar erscheinen, aus einfachen brutalen Nothwendigkeiten der realen Verhältnisse hervorgegangen! Nur der Feldherr, der Alles an Alles zu setzen gewohnt ist und oft an reinen Zufälligkeiten scheitert, kennt den gleichen Grad unstillbaren Kummers und Aergers.


Am Tag nach Absendung seines Briefes trieb es ihn, nochmals das Unglücks-Café aufzusuchen. Bammers Worte gingen ihm im Kopf herum. Vielleicht konnte ihm Wursteler doch Näheres sagen. Er traf am Buffet die[211] schwarze Emmy. Bammer war ausgegangen. Sie sah sehr mager und leidend aus. Er unterhielt sich oberflächlich mit ihr. Ihr Befinden schien so schlecht, ihre Stimmung so gedrückt, daß sie ihrem Herzen Luft machen mußte. So begann sie denn (nach der Regel, »Qui s'excuse, s'accuse«) ob der Verleumdung der Welt zu klagen. Man halte sie für die Geliebte Herrn Bammers. Und doch sei dem nicht so u.s.w.

Plötzlich erschien Herr Wursteler. Früher etwas »kaduk« gegen »Herrn Professor«, entfaltete er diesmal eine ordentliche Cordialität, setzte sich vergnügt an dessen Tisch und wurde ganz familiär.

»Nun, waren Sie schon in Hamburg?« fragte er.

»Ich? Wie sollte ich dahin kommen?«

»Nun, Kathi sagte es mir.«

Rother war auf der Hut. Vorsichtig suchte er den Unbefangenen zu spielen. Wer von Beiden würde den Andern zuerst aufs Glatteis führen?

Wursteler klatschte mit hundert Pfaffenkraft drauf los.

Kohlrausch sei ruinirt, miserabler Geschäftsman, Pleite stehe vor der Thür, und so ging es fort. Rother streute nur ab und zu ein »So?« ein, regte sich auch nicht, als Wursteler erzählte, ganz Hamburg halte sich auf über das Verhältniß von Kathi zu Kohlrausch. Er wolle sie heirathen. »Na, ich habe Kathi gewarnt! Daß Du Dich nicht mit dem Windikus einläßt, sagt' ich! – Na, Sie wollen sie ja heirathen.«

»Wer sagt das?« fuhr Rother auf.[212]

»Wer denn anders als Kathi?« Wursteler that sehr verwundert. »Ihre erste Frage, als sie mich sah, war: ›Was macht Herr Rother?‹ Und dann hat sie mir gesagt: ›Der will mich heirathen!‹«

Rother lachte gezwungen auf und murmelte etwas von »Frecher Lüge!« Er möge so was mal im Scherz ... Aber als er ging, sah er in dem frechen Gesicht des Catilinariers die verächtliche Frage: Glauben Sie, Sie täuschen mich? Solch ein junger Mann und kräftiger Malermeister, und solch eine Sentimentalität für so Eine! – (Bammer und Wursteler hegten den wüthenden Haß ungesättigter Begier für das Weib, das ihrer Brunst entronnen war.)

Rother aber setzte sich hin und schrieb stehenden Fußes einen fulminanten Brief. So viel sah er ein – hier lag doch etwas vor, er mußte Gewißheit haben. Sein ganzer Stolz bäumte sich auf. Ihm war, als ob er auf tausend Nägel und Nadeln trete, als ob seine Nervenstränge blutig entzweirissen. Morden oder selbstmorden, sich umbringen oder einen Andern – – sein Zustand grenzte aus Hysterische. Ein ekelvoller Dunst und Brodem schien vor seinem Hirn zu schwimmen, halb ohnmächtig fiel er aufs Sopha zurück – – Othellos wirres Lallen von den »Verfinsterungen« fiel ihm ein. Aber diese halb unbewußte Ideen-Association wirkte zugleich als Gegengift. Wie ein Rasender sprang er auf und reklamirte dumpfknirschend vor sich hin, mit stoßweisem Herausströmen des rhetorischen Flusses, daß Salvini und Rossi an ihm ihre Freude gehabt hätten:
[213]

»So soll mein blutiger Sinn in wüthigem Gang

Nie rückschaun noch zur sanften Liebe ebben,

Bis eine vollgenügend weite Rache

Dies Weib verschlang.«


Sein Brief strotzte von Beleidigungen mitleidiger Verachtung. Zugleich aber beging er in der Raserei den groben Fehler, schwere Injurien gegen Kohlrausch – er nannte ihn »Louis« – und größenwahnsinnige Betonungen seiner Würde einzuflechten. »Die Liebe ist ja ganz nett,« schloß diese verrückte Epistel, »aber der Ruhm steht mir doch noch höher.«

Der Ruhm des guten Eduard Rother! –

Aber sobald der Brief abgesandt, befielen ihn wieder Skrupel. Sollte es wirklich wahr sein? Konnte sie so rasch vergessen? War ihr Fuß so glitschrig geworden auf ihrer schlüpflichen Laufbahn, daß sie unaufhaltsam dem Abgrund entgegentrieb? Daß er sich umsonst dagegenstemmte? Daß sie gleichgültig über ihn wegtrat?

Hat sie wirklich vergessen, daß ein Mensch lebt, der sie retten möchte? Ja, möchte sie denn gerettet sein? Und weshalb will sie nicht? Ist sie denn ganz verderbt? Nein, das kann ich Niemandem zugestehn. Wenn ich es glaubte, würde ich wahnsinnig werden. Nein, es ist nicht so. Ich muß das wissen. Denn warum liebe ich sie sonst so übermächtig, mit so unzähmbarem Instinkt? Warum, ja warum? doch liebe ich sie, werde sie ewig lieben.

So wurde diese schwache sinnliche Natur hin- und hergerissen.

Bald sah er sie in seinen Armen mit lüstern brutalem[214] Ausdruck und malte sich's herrlich aus, diese rüde Urnatur zu einer »Dame« wenigstens äußerlich zu entwickeln. Dann sah er sie wieder in ihrer naiven Anmuth, ihn neckisch und liebenswürdig gängelnd.

Was konnte nun geschehn! Sein Brief mußte Alles entscheiden. Er befand sich in fieberhafter Erregung. Die nächste Post kam – richtig, ein Brief von ihr. Eine gepreßte Resedablüthe lag dabei.


»Ihre beiden Briefe habe ich erhalten, daß Sie so lange keine Antwort erhielten darf Sie wohl nicht wundern wenn Sie wie Sie oft sagten mit mir fühlen – – – mir geht es bis jetzt hier ganz gut, was die Zukunft bringt weiß ich nicht; mein Sinn ist stets veränderlich; bitte thun Sie mir den einzigen Gefallen und horchen Sie auf keinen Klatsch! Die Wahrheit habe ich Ihnen gesagt und hoffentlich glauben Sie mir mehr als bewußten klatschsüchtigen Zungen; Bescheid über meine Gesinnungen kann ich Ihnen bis jetzt noch nicht geben. Denn wenn ich auch nicht an die Aufrichtigkeit Ihrer Gesinnungen zweifele, kann ich mir bis jetzt doch noch nicht recht vorstellen, daß dies – bald zur Wahrheit werden könnte. Doch Schicksalsbestimmung erfüllt sich auch ohne menschliche Mühe (daran glaube ich) hoffentlich auch Sie. Ich will Ihnen nun nicht mehr länger Ihre kostbare Zeit rauben und grüße Sie auf weiteres bestens.

Kathi K.«


Lange starrte er auf den Brief. Er suchte zwischen den Zeilen zu lesen. Jedenfalls stand ihm eins fest: Die[215] Berichte Wurstelers konnten unmöglich Wahrheit sein. Denn falls sie dann immerhin zu einem solchen Briefe fähig war, so hätte in ihr jedes Schamgefühl erstickt sein müssen.

Sie hatte also seinen letzten Brief noch nicht erhalten. Was nun thun? Was wird sie nun schreiben? Sollte er bereuen, was er geschrieben? Nein. Das mußte die Entscheidung bringen.

Ah, da kam sie. Er brauchte nur einige Stunden zu warten, als ein andrer Brief von ihr eintraf.


»Vor allem Andern bitte meinen gestrigen Brief als nicht empfangen zu betrachten und dann theile ich Ihnen in diesem meinem letzten Schrei ben mit, daß ich keinen Brief mit Ihrer Handschrift je mehr annehmen werde, denn ich wüßte wahrhaftig nicht warum ich stets die Zielscheibe Ihrer Grobheiten sein soll, oder glauben Sie etwa durch Ihren ehrenwerthen Antrag (auf den ich aber schon im Stillen verzichtet hatte, nebenbei bemerkt) dieses Recht erworben zu haben? Nein, mein lieber Herr, hier haben Sie sich in der Adresse geirrt, ich bin gar nicht heirathslustig, namentlich in diesem Falle – – beruhigen Sie sich und denken Sie so wenig an mich, wie ich an Sie, dann erlösen Sie eine arme Seele aus ihrer Qual. Sie sagten, Sie wollen mich retten – – ängstigen Sie sich nicht um mich und verwerthen Sie Ihre Menschenfreundlichkeit zu besseren Zwecken – wenn ich auch untergehe wie Sie meinen, haben Sie jedenfalls die Beruhigung, nicht zu meinem Untergang beigetragen zu haben. Zu guter Letzt sage ich Ihnen nur noch:[216]

Wer niemals hinter der Thür gestanden, sucht keine Anderen dahinter, ich nehme bestimmt an, daß Sie Herrn Kohlrausch gar nicht kennen und bringen es fertig solche Beleidigungen auszustoßen – – wenn Sie Etwas zurückhaltender wären, würde man von dem guten Ton, den Sie so sehr rühmen, eine bessere Meinung haben; nun gut, Alles rächt sich auf Erden.«


Dieser nicht nur verlogene, sondern geradezu rohe Brief, welcher trotz des Tones beleidigter Unschuld darin eine tiefe seelische Gemeinheit athmete – mit der Absicht, groben Treubruch und schlimme Dinge hinter den Coulissen zu verstecken – hätte gleichwohl Rothers hartnäckigen Glauben an sein Ideal nicht zu erschüttern vermocht, wenn nicht zugleich ein andrer Brief aus Hamburg eingetroffen wäre. Dieser war von Herrn Kohlrausch, dem ominösen Deux ex machina in höchsteigner Person.

Dies originelle Schriftstück zierte einen Quartbogen, mit einer mächtigen Druckfirma-Ueberschrift nebst Stempel, und verlautbarte sich also:


»Herrn Rother.

Berlin.

Obwohl ich schon früher erfuhr, in welcher erbärmlichen Weise Sie mich grundlos beleidigten, so rechnete ich solche Wuthausbrüche auf Conto Ihres jähzornigen, von Eifersucht durchtriebenen Hirns z.B. die Bezeichnung: ›Galgenvogelvisage!‹ Heute aber haben Sie mich in einer Weise durch Briefe an Frl. K. beleidigt, daß ich Sie ersuche, mir mit Postwendung[217] sofort mitzutheilen, warum Sie sich zu solchen scheußlichen Injurien vergessen konnten – welche Sie schwer vor Gericht büßen müssen.

Ehe ich Sie an jene Beleidigungen erinnere, betone ich noch, daß Frl. K. vorläufig bei mir ein hochgeachtete und sehr gut behandelte Geschäftsstütze ist und also durch deren Hiersein Ihrerseits kein Grund zum Groll gegen mich vorhanden, da ja das Fräulein durch ihren Fleiß bei mir – einem ersten Geschäfte Hamburgs – ihr wohlverdientes Brot finden muß – da dieselbe doch nur auf diese äußerst ehrliche Weise ihr Brot verdienen kann. Der Kürze wegen bitte ich mir sofort darauf zu antworten, wieso ich solche gemeinen Insulten nur verdiente? Selbstredend war es Pflicht des Frl. K. als erste Person im Geschäft, mir vorstehende Injurien mitzutheilen, ohne dabei den übrigen Inhalt dieses Schmutzbriefes zu verrathen. Wie Sie sich zu dieser peinlichen Affaire stellen, theilen Sie mir sofort mit.

Ergebenst

Kohlrausch.

P.S. Von Pleite kann keine Rede sein, da ich wegen zu hoher Pacht das Geschäft aufgebe und 1. Januar nach Berlin übersiedele.«


Außer sich vor Zorn, schleuderte der so schmählich Verrathene sofort einen Brandbrief nach dem theuren Hamburg an der Elbe, worin er mit ätzender Ironie die Sachlage beleuchtete und zugleich Herrn Kohlrausch ermahnte, als Nachfolger in Kathis zarter Freundschaft[218] gütigst deren schuldige Miethe bei Frau Lämmers zu entrichten. Die Undankbarkeit der verehrten Dame überhebe ihn jeder Verpflichtung.


Alles wird gelenkt von dem einen großen Gesetz der Lüge.

Alle Gedanken, und hätten sie dein ganzes Ich durchwogt, stürzen endlich in Vergessenheit hinab. Nur der Tod, der Alles Lügen straft, ist kein Lügner. O ihr Todten, ihr schlaft so sanft, so selig, weil euch keine Lüge mehr trifft! Was ihr wißt, ihr und der Wurm, – das allein ist Wahrheit.

Die Erde lächelte bräutlich am ersten Maientage. Da umarmte sie ein nachtentsprossener Teufel und sie gebar den Menschen. Nur einen Trost bietet ihm die Mutter Erde, wenn er verzweifelnd an ihren Busen sinkt: Ihr ewiger Blüthentod, ihres Sommers Sterbequal mahnt ihn, daß auch er ins Nichts verwehen wird, daß endlich sich zwischen ihn und seinen bösen Vater schieben wird – der Tod.

Eduard erwachte aus unruhigem Schlaf mit einem seltsamen Gefühl unaussprechlichen Bangens. Seltsam, eine einsame Thräne brach ihm von der Wimper. Welches Leid hatte sie geboren, welch ein Glück war ihm genommen? Doch nicht jene Hoffnung, auf die er so ganz verzichtet? Und ihm ward plötzlich, als ob er längst gestorben sei. Diese Thräne weinte wohl seine Seele, die noch immer zögernd an ihrem eignen Grabe verweilt.[219]

Was wollte diese todte Seele noch hier auf Erden? Vergaß sie noch etwas zu sagen? Jenes dämonische thörichte süße Weib – hatten sie Beide nicht vergessen, eine letzte Frage zu tauschen, eine Frage, was Wahrheit und was Lüge gewesen an dieser schicksalsvollen Liebe?

Da klingelte es draußen. Der Postbote brachte einen Brief. Ein Krampf schien Eduard zu durchzucken, als er die Handschrift sah. Von ihr? Und er las:


»Jeder guten That einen Dank, meinen herzlichsten sage ich Ihnen. Sie haben ihn wohl verdient, doch ein guter Gott gebe, daß Ihnen dies Rosen bringt, wünschen thue ich es Ihnen allerdings nicht, aber bitte sagen Sie mir doch sind Sie jetzt ruhig und getröstet? nun ich wünsche es, aber Sie sind es doch nicht ich weiß es; wenn Sie aber glauben durch Ihre von edlem Gemüth zeugende Denuncirung mich ruinirt zu haben, dann täuschen Sie sich doch ein wenig. Die Welt ist noch so groß und vielleicht giebt es auch noch ein Plätzchen, wo mich Ihre – – nicht mehr findet; jedenfalls haben Sie hier meine Existenz vernichtet; denn ich bin viel zu stolz an einem Orte zu bleiben, wo mein Stolz eine solche Niederlage erlitten; ich bitte sagen Sie nur doch, was Sie für einen Grund hatten mich so zu vernichten? habe ich Ihnen jemals geschworen? Sie haben mir so oft Ihre Hilfe angeboten; ich habe sie nur im äußersten Falle in Anspruch genommen, mir ist ganz andere Hilfe geboten worden; doch ich glaube der Erste beste Jude wäre nicht so verfahren; ich habe keine Seele auf der Welt[220] welche mir hilft, sondern nur solche wo ich helfen kann, ich habe es auch gethan und mich leider nicht vorgesehen, daß ein Fall eintreten könnte, wo ich es selber nothwendig brauche; ich habe in letzter Zeit in Berlin in Verhältnissen gelebt, die ich meinem ärgsten Feind nicht wünsche.

Doch gut Jemand der fähig ist (noch dazu ein so genialer großer Geist wie Sie) Jemanden so zu ruiniren besitzt keinen Funken Gemüth, ich habe heute bitter geweint nicht meinetwegen was liegt an mir, aber daß es Jemanden giebt der so niedrig denkt – ich wäre einer solchen Handlungsweise niemals fähig – was ich in Zukunft mache weiß ich noch nicht, nun könnte es vielleicht werden was Sie so sehr zu befürchten scheinen, – meine Ehre, Alles ist mir genommen, kümmern thut sich auch Niemand um mich, nun gut, freuen Sie sich Ihrer Ernte. Was meine Schuld bei Fr. L. betrifft, wird schon beglichen werden, bis jetzt habe ich noch keine Schulden gemacht und das könnte auch Besseren als mir passiren.

Nun behüt Sie Gott, wie es auch ist und kommen mag, mein Herz haben Sie doch nicht gebrochen.«


Rother gerieth in Verzweiflung. Jeder Vorwurf brannte in ihm nach. Allein, war er so schuldig? Was hatte er denn gethan? Im Grimm eines schändlich Verrathenen, hatte er sich hinreißen lassen, gefährlicher Drohung gegenüber, selbst eine nicht allzu reinliche Waffe zu brauchen. Was sollte er denn thun, diesem Gräuelwust von Gemeinheit gegenüber?[221]

Ihm fiel ein, daß es vielleicht angezeigt wäre, in das alte Unglückshaus in der Gerichtsstraße hinauszupilgern. Vielleicht hatte die alte Zeugin ihres seltsamen Verhältnisses, Frau Lämmers, etwas Besonderes erfahren. So fuhr er denn dort hinaus, so peinlich er diesen Weg bisher zu vermeiden wußte, der ihn wie ein Calvarien-Weg der Erinnerung mit Dornen stach. Ein glücklicher Zufall wollte, daß er die Frau zu Hause traf. Sie grüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln und lud ihn ein, in die alte »gute« Stube zu treten. Hier, wo einst –!

Ihr kleines Töchterchen, den Finger im Mund, krabbelte am Rock der Mutter, während diese zu entschuldigen bat, daß sie an einem Mantel weiternähe. Nein, sie hatte von Kathi nichts gehört, nichts Näheres wenigstens. Diese sandte ihr gestern überraschenderweise das noch schuldige Geld für die Miethe. Vorher hatte sie ihr einmal eine große Photographie geschickt, im »Kostüm«, dabei jedoch einen Rembrandt-Hut auf dem Kopf.

»Sehn Sie, da!«

Rothers Herz stand ordentlich still, als er die geliebten Züge wieder so nahe vor sich sah. Er biß sich auf die Lippen, als er das Bild niederlegte, indem er unwillkürlich die Augen senkte. Ob er vor sich selber oder vor den Augen des Bildes (halb sinnlich-frivol halb vornehm-sentimental) sein Auge niederschlug, wußte er es selber?

Die Frau benutzte die Gelegenheit, sich auszuklagen. Sie that es aber in einer anständigen und maßvollen Weise, die den Verdacht gänzlich ausschloß, als wolle sie[222] etwa ein pekuniäres Mitleid ihres Besuchers in irgend welcher Weise erpressen.

»Wissen Sie, Herr Rother,« gestand sie. »Ein so sonderbares Liebespaar, wie Sie und Kathi hab' ich noch nie gesehn. Nachher hat sie immer so furchtbar geweint, wenn Sie fort waren: immer rothe Augen und immer Zank.«

»Hat sie denn dann auf mich geschimpft?« fragte er trocken.

»Aber nein doch! Sie ließ nie 'was auf Sie kom men. Ach, sie ist ein gutes Mädchen. Und so fromm! – Freilich –« sie hielt inne, dann nach einigem Zögern erzählte sie die seltsame Geschichte mit dem Pfandschein beim Abschied. »Ach und ich selber hab' es so nöthig! Ganze Tage haben wir Beide so schlecht gelebt! Nun, jetzt hat sie ja aber doch die Miethe bezahlt!« Rother schwieg. Er dachte: warum! Nicht so ganz freiwillig. Jeder Mensch, und sei er noch so verschmitzt, verräth sich irgend einmal. »Offen gestanden, Herr Rother – aber nehmen Sie's nicht übel!«

»Bitte, reden Sie nur!«

»Das hab ich nie recht begriffen, das Sie Kathi nicht aus all dem Elend gleich herausrissen.«

»Sie wollte ja nicht!« warf Rother verdrossen hin. »Ich hab's ihr oft genug angeboten.«

»Ja, ja, das hat sie mir auch gesagt, und nur von Ihnen würde sie vielleicht 'was nehmen, aber lieber auch nicht, bis nicht Alles entschieden sei.« Um sich nicht zu binden! dachte Rother.[223]

Als ein echt frauenhafter Zug fiel es ihm auf, daß Frau Lämmers ihm behaglich erzählte, wie sie mit Kathi wegen Bandwurms beim Arzt gewesen sei und diese sich vorm Arzt und ihr haben ausziehen müssen. Da habe der Arzt auch bekannt: »So 'ne Riesennatur habe er noch nie bei einem Weib gesehn. Eine wahre Pracht!« Dabei blinzelte sie ihn verständnißinnig an.

Trotzdem diese lüsterne Erwähnung ihm in die Eingeweide drückte, runzelte Rothers besserer Theil leicht die Stirn. Es schien ihm widerlich, sich solche Dinge hier wieder vorzugaukeln, wo der schmutzig-fleischliche Theil der Liebe bei ihm gänzlich durch sentimentale Hingebung weggeschmolzen war.

Die Frau entwarf dann wieder ein rührendes Bild von ihren eigenthümlichen Verhältnissen. Sie mußte einen Mann ernähren, den sie nicht bei sich wohnen lassen konnte wegen seiner ewigen Betrunkenheit, und ihr Kind dazu; das Alles mit Nähen und Schneidern! Rother schaute in Abgründe des socialen Lebens hinein, von denen er in diesem Maße nie eine Ahnung gehabt. Das tüchtige brave Weib!

Ihn durchzuckte der Gedanke: Wäre es nicht das Beste, wenn ich hier zu dieser Frau zöge, mit Sack und Pack? Um sie zu unterstützen, weil sie sonst doch nichts annehmen würde in dem peinlichen Ueber-Stolz solcher verschämten Armen? – Andrerseits mußte er bitter lächeln, wenn er die Naivetät in den Fragen der Frau bedachte. Auf der einen Seite ahnte die Frau bei ihrem niedrigen socialen Bildungsgrad natürlich gar nicht die sonstige gesellschaftliche[224] Stellung eines Mannes wie Rother; auf der andern Seite nahm sie offenbar an, daß Rothers pekuniäre Verhältnisse ihm gestattet hätten – – konnte er sie denn wirklich einfach unterhalten, ohne irgend welchen Entgelt, aus purem Edelmuth? Er hatte noch anderweitige Verpflichtungen, und ein Künstler –! Mein Gott, heut im Ueberfluß, morgen von der Hand in den Mund lebend! Für seine Gattin konnte er sich wohl opfern, für seine, Geliebte allenfalls auch – aber einfach aus purem Edelmuth, um betrogen zu werden – – wog denn er selbst, wog seine Kunst denn gar nichts, daß er Alles und Jedes hätte opfern müssen für dies eine Wesen, diese eine Leidenschaft?

»Sehen Sie, da lese ich eben die Geschichte von der schönen Näherin!« sagte Frau Lämmers beim Abschied, indem sie ein Heft in gelbem Umschlag, natürlich einen Colportageroman, hochhielt. »Dabei muß man immer an Kathi und Sie denken!«

Rother lächelte bitter. – –

Hat ein phantasiereicher und dabei bedeutender Mensch (und Bedeutendheit ist fast immer mit starker Einbildungskraft und großer nervöser Erregbarkeit verbunden) in irgend einer Beziehung »ein schlechtes Gewissen«, d.h. ist er sich einer Handlung bewußt, deren Bekanntwerden ihn lächerlich, verächtlich oder gar strafbar erscheinen ließe, – so ist er im Zustande besonderer nervöser Ueberreiztheit fähig, aus kleinsten unbedeutendsten Anlässen bestimmte Anspielungen und drohende Uebel herauszulesen. Völlige Niedergeschlagenheit und zitterige Befürchtung,[225] indem die aus nichts Schreckgespenster bildende Phantasie ihm Gefahren vormalt, welche im allerschlimmsten Falle drohen könnten, macht aber dann, sobald er sich energisch zusammenrafft, einer ebenso siegessicheren Furchtlosigkeit Platz. Dem Schlimmsten stolz ins Auge sehend, schöpft er aus seinem inneren Machtbewußtsein die entschlossene Festigkeit, allem und jedem die Spitze zu bieten. Einem weinerlichen Schwanken in schwachen Stunden unterworfen, wie wenige, wird er nach Durchkämpfung solcher Schwäche, sofern sein Innerstes nur rein und markig blieb, stärker als zuvor. Das kostbare Gut der Ruhe wird nur so erworben. Die Wenigsten besitzen es und doch ist das Abwarten, an sich Herankommenlassen die größte aller Klugheiten; die höchste Weisheit aber, im Krieg wie im gewöhnlichen Leben, zu wissen, wann man angreifen und wann sich angreifen lassen, wann man schweigend dulden und wann man zurückschlagen soll.

Vielleicht wurde ein Skandal daraus! Was konnte es nicht für Scenen geben!

Er rannte umher wie ein Rasender. Der Gedanke an die Möglichkeit, daß seine Briefe in den Händen jenes Menschen gemißbraucht werden könnten, daß man hinter seinem Rücken, ohne daß er es ahnte, auf diese Weise gegen ihn vorgehen mochte, – peinigte ihn mit tausend Nadelstichen des Argwohns.

Wer weiß, ob nicht jede Waffe gegen ihn gewandt wurde, und der Bursche nun aus Rache kein Mittel scheute!

Warum hatte er nur die letzten Briefe geschrieben![226] Alles sprach gegen ihn – allerdings nur mit Umschreibungen und indirekt! Er konnte ja freilich sagen, er habe so geschrieben, weil er annahm, Kohlrausch werde die Briefe auffangen. Konnte er dies Letztere feststellen, so hatte er immer noch die Trumpf-Karte, jenen wegen Brieferbrechens schwer zu belangen.

Er schritt vor dem Spiegel auf und ab, und dachte des Augenblicks, wo er ihr entgegentreten würde. Würde sie ohnmächtig werden? Würde sie still warten oder den Kohlrausch rufen, so daß eine Zwiesprache unmöglich wäre? Der Wille zum Leben, der Liebestrieb, tobte wieder übermächtig in ihm. – Er besuchte, Annesley und fand einen Kranken im Bette, der ihm gestand, daß er wieder in unerhörter Weise an einem selbstzerstörenden Laster leide. Der Adonis war sichtlich abgemagert; sein Auge glanzlos gläsern, gelb seine Wangen. Aus unglücklicher Liebe habe er sich, wie ein Andrer dem Trunk, dieser Ausschweifung ergeben.

»Seien Sie glücklich!« sagte Eduard. »Ich im Gegentheil werde immer straffer und eherner und ersticke beinah an unbefriedigter Sehnsucht nach einem bestimmten Geschöpf. Links ein Abgrund, rechts ein Abgrund – und ich in der Mitte!«

Sie unterhielten sich noch eine Weile über das Weltweh und jammerten sich etwas vor. Jedoch verabsäumte Annesley nicht, nebenbei naiv seine Ruhm-Geschäfte zu besorgen. Er beschäftigte sich nämlich gerade damit, pseudonym (er hatte es bis auf zwanzig Pseudonyme gebracht,[227] von denen er die Hälfte als Componist, die andre Hälfte als Selbst-Kritiker in Musikzeitungen verbrauchte) seine neusten »Lieder ohne Worte von Ralf dem Schönen« nach allen Richtungen der Windrose auszuposaunen. Es war dies eine Bethätigung des Weltekels, wobei er regelmäßig seinen väterlichen Freund Rother zu Rathe zog. Dieser, schwach und schwächlich auch in seiner aufsprudelnden Gutherzigkeit, die ihn zu lächerlichem Uebereifer für etwaige Genossen und Schützlinge verleitete, lief nämlich seit lange umher und pries den neuen Mozart. Er schmuggelte sogar die Partituren Annesleyscher Lieder auf Salon-Bechsteins ein und verführte Sängerinnen dazu, das berühmte Lied »Leise blüht mir im Gemüth Blümlein wunderblau«, wozu der Componist selbst den Text geliefert (»Gewidmet dem von ihm hochverehrten Voll-Künstler und einzigen anständigen Gentleman Europas, E.R.«), in Gesellschaften vorzutragen.

Um Abwechslung in ihr heutiges Jammerduett zu bringen, erzählte ihm Annesley grauenhafte Dinge aus seiner frühsten Vergangenheit. Der reine Lord Byron, der von schrecklichen Geheimnissen fabelt. Manchmal empfand Rother, trotz seines liebevollen Wohlwollens, den leisen Wunsch, seinen Hut zu ergreifen und sich aus dem Staube zu machen, – da der Wunderknabe allzu sonderbare Selbstanklagen auftischte. Doch wirkte das Alles zuguterletzt nur komisch, da man es unmöglich für wirklich erlebt halten konnte. Um den Unglücklichen aus seiner Selbstmordstimmung zu reißen, forderte ihn Rother auf, mit ihm einen Nachtkneipen-Bummel zu machen. Mit genialischen[228] Kraftmensch-Schritten wandelte alsbald der neue Mozart neben ihm her, wobei er oft eine drollige Anhänglichkeit an den Tag legte und sich mit begeisterter Handbewegung als »Rothers Schatten, Rothers Hündchen« bezeichnete. – – Als Rother sich am anderen Morgen in seinem Bett schläfrig dehnte, beschlich ihn das Gefühl einer gewissen seelischen Behaglichkeit. Die Wollust wirkte bei ihm wie eine homöopathische Kur für die ermattende Liebes-Ausleerung idealer Sehnsucht.

Sobald er sich also der gemeinen Begierde hingegeben, entwich die ganze Pein seinem Innern und die äußerste Gleichgültigkeit ergriff ihn. Verschwunden war der ganze entschlossene wilde Kampftrieb der unglücklichen Liebe, und völlige Vergessenheit, kaltes Lethe, floß über ihn hin. So völlig bleibt der Mensch von seinen psychischen Nervenzuständen abhängig. Die Abtödtung der Nerven führt die Abtödtung der Leidenschaft mit sich: Wille und Leidenschaft schwächen sich in genau entsprechender Weise.

Wer starken Willen hat, hat auch starke Leidenschaft. So bestimmen sich Beide gegenseitig und behindern sich theils, theils beflügeln sie einander. Beide aber sind abhängig vom Nervensystem. Selten wird daher ein Kummer sofort durch Arbeit überwunden. Es muß eine Schwächung des ganzen Menschen durch Extravaganz vorhergegangen sein. Gift wird nur durch Gegengift paralysirt.

Nachdem der Geist durch Aufregung der Nerven die Seßhaftigkeit echter Arbeitskraft eingebüßt, fühlt er dann plötzlich diesen Trieb zurückströmen. Die Arbeit geht[229] mit maschinenhafter Leichtigkeit von Statten. Was vorher schwer schien, wird jetzt federleicht. Das Stoßen der aufgeregten Gedanken, das vielfältige Durcheinander, bei dem es fortwährend heißt: »Was zuerst beginnen!« hat aufgehört und mit größter Ruhe wird die Arbeit durchgeführt.

Er beschloß, ruhig sein Kreuz auf sich zu nehmen, das Kommende abwartend.

Das Einbohren in bestimmte Schmerzen, krankhaft in Ursache und Wirkung, wird wesentlich durch die Umstände und die Verhältnisse von Nerven und Magen hervorgerufen. Nach Tische, nach einem tüchtigen Spaziergang dürfte es einem gesunden Organismus schwerfallen, sich weltschmerzlichen und galligen Träumereien hinzugeben. Es sieht sich Alles verschieden an, mit leerem, oder mit vollem Magen.

Eduard war fest davon überzeugt, daß ihm aus alledem die furchtbarsten Folgen erwachsen würden. Er schwebte in einer gewissen unbestimmten Angst vor irgend etwas Peinlichem oder Verderblichem, das ihn treffen sollte.

Unaufhörlich stürmte er mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, bis ihm die Wadenadern schwollen und er sich müde aufs Sopha werfen mußte, indem er düstere Gedanken hin- und herwälzte.

Er sollte Spießruthen der Lächerlichkeit laufen; sein Name kam an die Oeffentlichkeit in komischem Sinne; sein wahnsinniger Heirathsantrag wurde ruchbar: sein naturalistisches Mal-Prinzip wurde dem Spottepreis gegeben, seine[230] vielen Feinde warteten ja nur darauf. So zermarterte er sein Hirn und schädigte seine Gesundheit, statt kalt und gelassen dem Kommenden ins Auge zu blicken. Allerdings kam ihm stets der Schlußgedanke zu statten, mit dem er seine Befürchtungen besänftigte. Mit unerschütterlichem Stolze wollte er der Welt Trotz bieten. Und auch ihr, wenn sie ihn verrieth. Der ganze Hochmuth des Künstlers brach sich wieder Bahn in ihm. Was konnte ihn treffen, welcher boshafte oder zürnende Blick ihm seine Ruhe rauben, welche Beschämung ihm das Blut in die Wangen treiben, – ihm, der als Künstler eine exceptionelle, Lebensauffassung besaß, welche alle kleinlichen Rücksichten der gewöhnlichen Gesellschaftsmoral und Respektabilität weit unter sich sah! Den Kopf konnte es ja nicht kosten!

So wogt es in der Seele auf und ab. Was noch eben furchtbar drohend erschien, so lange draußen der Wind pfiff und Nervenermattung im Hirne Grillen erzeugte, erscheint im nächsten gefahrlos und gleichgültig. Ein gewisser unverzagter Trotz allen Gefahren und Unannehmlichkeiten gegenüber, verbunden mit vorhergehender doppelter Aufregung durch Phantasie-Vergrößerung des Drohenden, ist ein Merkmal bedeutender Geister. So sah der General Bonaparte seine Lage oft verzweifelter an, als seine Unterfeldherrn – aber trat die Gefahr nun wirklich nahe, so war er der Einzige, der sie abzuwenden wußte.

Seine Unvorsichtigkeit peinigte ihn scharf genug, indem sein Argwohn sich überall von Spähern umzingelt wähnte, die seine schwachen Seiten belauerten. Es scheint[231] ein trauriges Erbtheil ungewöhnlicher Menschen, daß sie ohne direkt eitel zu sein, doch stets wähnen, die Welt interessire sich selbst aus Bosheit für ihre Person und erspähe daher ihre Schwächen. Aber die Welt kennt ihre eigenen kleinen Lächerlichkeiten und faßt den bedeutenden Menschen gar nicht als so exceptionell auf, wie er sich selber. Sie lacht daher über seine Thorheiten, wie sie über die eines beliebigen Andern lachen würde, so daß der Hauptstachel fortfällt: Sie mißt seine Thorheit gar nicht nach dem Maßstab seiner geistigen Bedeutung. Und wie leicht vergißt die Welt das Gute wie das Böse!

Ein eigentümlicher Spleen ergriff ihn. Alles Wissen, Lernen und Können schien ihm nutzlos. Er verfluchte jede Minute, die er an ein Buch vergeudet, jede Arbeit, die nicht aus direkten Erwerb und Erfolg in der Welt hinauslief. Eine lächerliche Sucht machte sich in ihm geltend, die Gedanken rastlos auf nächstliegende Ziele zu concentriren und jedes Umherschweifen derselben abzuweisen. Er vergaß nur darüber, daß jede Meditation ein Ausruhen und Entlasten des Gehirns bedeutet und daher der Gedankenthätigkeit nutzt, und daß überhaupt jede noch so fernliegende Gedankenreihe irgend eine Vorstellung heraufbeschwört, die sich an ein näherliegendes Ziel werthvoll anknüpfen läßt.

Jetzt aber, als die alte römische Lampe seines Ateliers ihr freundliches Licht um ihn her verbreitete und er, die schweren arabischen Vorhänge vor Fenster und Thüren niederlassend, fern allem Lärm in stiller Beschaulichkeit[232] vor seiner Staffelei saß, durchdrang eine eigenthümliche wohlige Wärme sein Seelenleben. Wie ein instinktiver Blitzstrahl der Erkenntniß, fühlte er die große Wahrheit, daß all die hunderttausend Ueberflüssigkeiten, Nichtigkeiten, Unannehmlichkeiten, Täuschungen, Kränkungen, Irrwege, Zeitvergeudungen und Albernheiten des Lebens von Kindesbeinen an, deren Erinnerung auf einen hamletisch grübelnden Geist von krankhafter Sensitivität als unerträglicher Wust und Ballast drückt, nöthig und in sich nützlich erscheinen, um eben die spezifische Individualität aufzubauen. Die Individualität aber ist aller Dinge einzig Wesenhaftes und stellt sich siegreich der überwältigenden Fülle der sogenannten Wirklichkeit, dieses großen Scheinlebens, gegenüber.


Es ließ ihm doch keine Ruhe. Etwas mußte ja doch geschehn. Schon Weihnachten vorüber! Vor Neujahr trafen die Hamburger Feinde ja doch sicher ein. Sollte er zu Frau Lämmers eilen, bei welcher sie jedenfalls Wohnung nahm? – Da riß ihn ein Brief aus aller Ungewißheit.


»Nach erfolgter Ankunft in Berlin theile Ihnen mit, daß Fräulein Kreutzner während ihres vorübergehenden Aufenthaltes in Berlin unter meinem persöhnlichen Schutze steht und ich etwaige Anfechtungen Ihrerseits mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfen werde – ebenso auch zudringliche Besuche und Briefe von Ihnen ohne jede Rücksicht beseitigt werden. Sobald ich[233] mich in meiner Wohnung eingerichtet bin, werde Sie bitten, mir in Gegenwart von Fräulein K. persöhnliche Genugthuung für Ihre mir gewidmete Insulte zu zu geben – nach diesem werde ich nicht verfelen Ihnen meine Referenzen bekannt zu machen, damit Sie wissen, daß ich bin

Maximilian Kohlrausch,

Inhaber echter Bier-Restaurants.«


Das erste Gefühl Rothers nach Lectüre dieses originellen Opus trieb ihn zu einer starken Zwerchfellerschütterung. Das ist ja der reine Größenwahn! O Maximilian, der letzte Ritter!

Das zweite Gefühl hingegen trieb ihn instinktiv, seinen starken Stock zu ergreifen, als wolle er sofort eine körperliche Züchtigung vollstrecken.

Den dritten Antrieb endlich vollzog er sofort, indem er gelbe Handschuhe anzog, seinen Cylinder aufstülpte, den Pelzkragen in den Nacken schob und in voller Gala nach der Gerichtsstraße hinausfuhr. – Frau Lämmers empfing ihn mit langem Gesicht. »Ja ... sie ist hier.« Sie habe sich aber in ihrem Zimmer eingeschlossen. Wiederholtes Ersuchen um eine Unterredung hatte keinen Erfolg. Sie ließ ihm sagen, sie sei ihm nicht böse, aber sprechen könne sie ihn nicht.

Rother überwand sich und ging. – Er machte die üblichen Neujahrsvisiten er versuchte auch wieder zu arbeiten. Aber das gelang nicht. Ihm war zu Muth wie Einem, der zu starke Cigarren geraucht. Stundenlang lag er müßig auf dem Sopha, und wie Blei lag[234] es in seinen Gliedern. Eine Art seelischer Impotenz entkräftete ihn. Statt zu arbeiten, brütete er wieder über seinen alten Arbeiten, fand diese bald ganz elend, bald erwog er, wie wenig seine Bedeutung gewürdigt sei. Dann kam es wieder über ihn, wie ein Jähzorn des Größenwahns, daß er alle Papiere und Zeichnungen um sich her zerriß und wie ein Raubthier im Käfig umhertollte. Stundenlang um Mitternacht trottete er auf dem naßkalten Trottoir in schneidendem Strichwinde die Friedrichstraße entlang und ließ die Nachtwandlerinnen vor sich Revue passieren, als ob der schnöde Sumpfgeruch dieser Asphaltblumen seine Nerven stärken könne. Das bläulich-weiße Licht der Laternen, das Grau in Grau der Häusermassen schien ihm ein Abbild seines öden grauen Innern, in dem es von grellen verlöschenden Straßenlichtern zuckte.

Mit einem kräftigen Entschluß ermannte er sich nochmals sein Glück zu versuchen, indem er sie überraschte. Er fuhr hinaus. Die Sonne ging grade unter.

Durch den eigenthümlichen Reflex des Schnees und der schneeathmenden Winterluft erschienen rothe Backsteinmauern wie zu zartem Rosa abgetönt. Wo hingegen die Sonne darauf funkelte, blitzten braun oder gelb angestrichene Erkerfronten und Thüren in grellstem Gelb, durch den Gegensatz der ringsumher gehäuften glitzernden Schneemassen.

Am Himmel hing eine dicke röthliche Wolke wie ein Thurm, der vornübergeneigt herabzustürzen droht. Das Rothe löste sich in eine halb zinnoberrothe halb schwefelfarbene[235] Mischung. Es war, als gähre die Wolke gleichsam von innerem Brand.

Wie ein Riesengeier strich eine andre Wolke schwarz und breit am Horizonte hin. Auch sie spreitete ihre Schwingen, als wolle sie senkrecht herniederstürzen – wie, der Condor der Cordilleren, der als Punkt überm Haupte des Wanderers schwebt, immer größer und größer hinabschießt.

So sah er die Dinge in einem seltsam deutungsvollen Licht, ähnlich der Luftmalerei der Impressionisten oder Turner's englischen Landschaften. Das nervöse Auge, mit unnatürlich zarter Netzhaut die Naturvorstellungen in sich auf.

Ja, da war das alte Haus! Da war die alte Treppe, aus deren moderig staubigen Winkeln ihm ein Stück Vergangenheit entgegenkreischte. Rieselte nicht sein Herzblut verstohlen aus jeder Stufenritze?

Er klingelte. Richtig, nicht die Thüre von rechts, wo Frau Lämmers wohnte, sondern die links nach Kathis Zimmer öffnete sich. Ein Frösteln lief ihm unwillkürlich den Rücken entlang. Ja, das war Schicksal!

»Wer ist da?« fragte die altvertraute Stimme. Ihm stand das Herz einen Augenblick still, dann strömte das Blut mit rasender Gewalt zurück.

»Ich, Rother!« sagte er mit fester Stimme.

»O!« Es schien, als ob sie mit einem unartikulirten Laut zurückflüchte.

»Ich will und muß Sie sprechen.« Sie verhielt sich still. Er erhob die Stimme: »Hören Sie nicht?«[236]

»Ja doch,« flüsterte sie.

Er glaubte durch die Wand hindurch zu sehn, wie sie athemlos an der Thür lehnte.

»Wissen Sie, was der Kerl da, der Kohlrausch, mir gestern geschrieben hat?« Keine Antwort. »Ich frage, ob Sie das wissen?«

»Nein,« sagt sie, »der ist ja in Hamburg.«

»Nein, der ist hier.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Gut, also öffnen Sie. Wir wollen ein letztes Wort miteinander reden.«

»Das können wir ja auch so.«

»Dummes Zeug! Wollen Sie aufmachen oder nicht?«

»Machen's nur keinen solchen Lärm! Die Leute werden noch kommen. Was soll ich überhaupt reden! Ich habe Ihnen ja doch immer gesagt..« ein ironischer Klang lag in den Worten.

»Ach Sie! Halten Sie den dummen Mund!« fuhr es ihm heraus.

»Nun, dann kann ich ja gehn!« rief sie heftig und ging – er hörte die Thür des Zimmers hinter ihr zuschlagen. Er wartete noch einen Augenblick und pochte. Dann ging er geräuschvoll die Treppe hinab. Aber als er bis zur nächsten Straßenecke gelangt war, fiel es ihm schwer aufs Herz, daß er den Weg umsonst gemacht und ein Gespräch ja doch nothwendig sei. Kurz resolvirt kehrte er um. Wieder klingelte er. Sie kam.

»Verzeihen Sie meine Grobheit,« sagte er mit gemessenem Ton »Ich will ja ganz ruhig mit Ihnen reden.[237] Es ist das Beste für uns Beide. Sprechen wir uns nicht vorher aus, so kann allerlei Unglück kommen. – Hören Sie mich?« fragte er nach einer schweren Pause, da sie nicht antwortete.

»Ja. Aber ich kann nicht aufmachen und meine Wirthin ist ausgegangen und hat mich abgeschlossen.«

»Larifari, so werde ich nachher wiederkommen. Wann?«

»In einer Stunde. Aber geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie mich nicht beschimpfen wollen. Ich könnte es nicht ertragen.«

»Gut, ich gebe es. Adieu.« – –

Es war ein frostiger windiger Abend. In einer Kneipe der Müllerstraße trank er sich Wärme zu und poussirte die Kellnerin, ein Mädchen von besserer Sorte, die ihn anschmachtete. Er erinnerte sich noch später daran, wie ihm das in einem solchen Moment möglich blieb. So begegnet sich ewig der bitterste Ernst mit dem Leichtsinn, wie mit der ritterlichsten Romantik die nackte Prosa. Hatte er doch, ehe er zu seiner Göttin emporstieg, stets erst dafür gesorgt, daß er sich eines gewissen menschlichen Bedürfnisses vorher entledigt hatte, damit es ihn bei dem langen Gespräch da oben nicht störe. Das ist der Mensch mit seiner Doppelnatur, das ist das menschliche Leben ... Sie öffnete wortlos, er trat wortlos ein. Erst als er Stock und Cylinder ablegte, seinen Paleot anbehaltend – es war bitterkalt in der Stube –, brummte er mürrisch: »Guten Abend!«

»Dito,« murmelte sie finster. Sie trug einen Schlafrock,[238] hatte sich aber dick mit einem Plaid umwickelt und litt an starkem Schnupfen. Im Uebrigen sah sie blaß aus, mit rothen Flecken auf der Backe.

Die hin- und herwogenden Anklagen und Mittheilungen stellten alsbald die Affaire Wursteler in einem ganz anderen Lichte dar. Grade dieser hatte vielmehr auf die Frage Kathis, was Rother treibe, geantwortet: »Ach, der ist ja total verrückt!« und ihn andauernd den »albernen Anstreicher« genannt. Auch war die Mittheilung Kathis »der will mich heirathen« nur im tiefsten Vertrauen erfolgt. Was nun Kohlrausch anbelangt, so sei das ein sehr anständiger Mensch u.s.w.

»Hm, das ist ja möglich« meinte Rother. »Er hat aber auf mich einen sehr ungünstigen Eindruck gemacht.«

»So? Nun, auf mich grade umgekehrt,« sagte sie mit ruhigem Lächeln und zeigte ihm, auf dem Tische stehend, seine Photographie.

Rother schüttelte den Kopf. Diese Physiognomie, ohnehin unangenehm konnte wahrlich mit ihrem Schwerenöther-Ausdruck kein sonderliches Vertrauen erwecken. »Ja, Sie sind auch immer so hochfahrend! Und er ist doch ein sehr gebildeter Mann.«

»Ach was und schreibt unorthographisch! Nun, das mag ja sein wie es will. – Ich will mit der ganzen Geschichte nichts mehr zu thun haben. Zwischen uns ist ja natürlich Alles aus.«

»Das ist es,« sagte sie ernst. »Ich müßte Sie verachten, wenn Sie jetzt noch ...«

»Ueberhaupt«.. er trat nahe an sie heran und betrachtete[239] sie: jeder Funken von Leidenschaft schien bei ihm verkohlt. Er fühlte sofort, daß die Entfernung sie ihm allzusehr verschönert hatte, um nicht beim Wiedersehn Enttäuschung zu finden, und daß die sinnliche Begierde bei ihm erloschen war. Doch schien in der That eine auffallende Veränderung zum Schlechten mit ihr vorgegangen. Selbst ihre Stimme bekam einen gewissen butterigen fettklebrigen Ton, den er früher nie bemerken konnte. »Sie haben sich sehr zu Ihrem Nachtheil verändert.«

Sie lachte etwas bitter. »Aber gar nicht! Das sind so Einbildungen.«

»Nein doch! Ich begreife absolut nicht, wie ich so weit gehen konnte.. Mir ist, als wäre ich verrückt gewesen und gesund geworden. Was habe ich denn an Ihnen gefunden!« In demselben Moment ging ihm der seltsame Contrast durch den Kopf, wie er früher in seiner Verliebtheit sie gewissermaßen als Naturwunder von Schönheit über sich gestellt hatte. Und nun stand er da, elegant und geschniegelt, mit glänzendem Cylinder und gelben Handschuhen, in vornehmer sicherer Haltung, und sie in ihrem alten Schlafrock mit ihrem Schnupfen sah verstaubt, abgebraucht und gewöhnlich aus.

»Ja, das ist Ihre Sache,« meinte sie trocken »Ich kann nichts dafür. Von Ihren Phrasen verstehe ich nichts. Ich bin nur ein einfaches Mädchen.«

»Ach! Früher sprachen Sie anders. – Das liegt so in der Zeit. Das sogenannte Retten der Gefallenen! Ich habe Sie retten wollen – voilà tout!«[240]

»Danke schön. Ich bin noch nicht gefallen. Ob das so in der Zeit liegt, weiß ich nicht. Sie jedenfalls – nun, Sie haben sich doch damit lächerlich gemacht.« Und ein häßliches Lächeln krümmte ihre Lippe.

»Meinen Sie?« sagte er ruhig. »Was denken Sie wohl, wenn nun Alles herauskäme, wenn ich Ihre Wirthin als Zeugin vorriefe?«

»O, Frau Lämmers,« sagte sie, indem sie gesenkten Kopfes auf- und abging; sie hatte bis dahin, hinter der Lehne eines Sessels aufgestützt, gestanden. »Wie die auf Ihrer Seite ist, das glauben's gar nicht. Was die mir Vorwürfe macht!«

»Nun also! Die Welt würde, wenn sie von meiner Verrücktheit hörte, anfangs lachen und sagen: So sind mal die Künstler – siehe Prozeß Gräf. Aber sobald sie alle Umstände erführe, dann würde das Urtheil ganz anders lauten. Man würde sagen: Der Mann hat zwar sehr edel gehandelt, aber er war auch ohnehin durch das Benehmen des Weibes dazu völlig berechtigt; man kann ihm durchaus nicht Thorheit zum Vorwurf machen. Allein Ihre Briefe.. man würde nur sagen: Was für ein abscheuliches Geschöpf!«

Sie schwieg und sah vor sich hin. Convulsivische Zuckungen durchfurchten ihr Gesicht.

»Ja, was soll denn daraus werden! Wenn Herr Kohlrausch nun kommt..« Sie betonte den »Herrn Kohlrausch« immer mit einem gewissen feierlichen Ton, in dem nicht nur zärtliches Interesse, sondern auch eine Art Ehrfurcht vibrirte: Offenbar war der große Windikus in[241] ihren Augen ein bedeutendes Geschäftsgenie – jedenfalls der Mann ihrer Wünsche.

»Der steckt ja schon in Berlin. Auch der Poststempel war von hier.«

»O nein, der ist noch in Hamburg. Kommt erst in acht Tagen. – Wenn Sie schlau sind, kann Der doch auch schlau sein. Der kann doch auch durch einen Freund das Billet an Sie gesandt haben.«

»Sieh einmal! Also ein juristischer Dolus. Und vorhin sagen Sie mir, er habe Ihnen gewaltsam meinen Brief mit den Injurien weggenommen.– Na, der Mann liegt mir ja aus Messer geliefert und ich rufe Sie selbst als Zeugin auf.«

»Oho!« sagte sie trotzig. »Ich sag' doch nichts aus oder widerrufe.«

»Na,« fiel er schneidig ein, indem er den Cylinder aufsetzte. »So will ich also beschwören, daß Sie selbst mir dies angekündigt haben, also als Zeugin meineidig werden wollen. Das giebt auch eine schöne Handhabe.« Er wußte sehr wohl, daß alles Das nicht so viel bedeutete, wie er draus machte; aber er wollte ihr heilsame Angst einjagen. Das gelang auch vollständig. Sie brach beinahe in Thränen aus. Als nun vollends die Wirthin erschien, welche von Wurstelers kam und erzählte, daß die schwarze Emmy nun wegen ihrer bevorstehenden Niederkunft durch Bammer dort aus dem Hause geworfen werde, entwickelte sich ein ganz gemüthlicher wechselseitiger Klatsch und Rother drückte Kathi zum Abschied die Hand: »Wenn wir uns wiedersehn, als gute Freunde und Kameraden –[242] und weiter nichts!« Er ging leichten Herzens von dannen, kneipte den Abend mit etlichen Collegen, die einen »Verein für naturalistische Malerei. Ehrenpräsident: Max Liebermann in Paris« gründen wollten, und spürte einen wahren Juchzertrieb, als er sich leichten Herzens schlafen legte – nach der abspannenden erschöpfenden Nervenqual der letzten Zeit.

Er blickte hinaus in die Mondnacht. Marmornes Schweigen lastete über dem monderhellten Schnee.

Doch er hatte sich getäuscht. Plötzlich erhielt er von ihr einen langen Brief, worin sie ihn bat, ihr Bild zurückzusenden.


»Da es nun doch einmal sein muß,« fing sie an »erlaube ich mir noch einige Zeilen zu schreiben, um einigermaßen eine Erklärung herbeizuführen. Daß ich mich neulich damals nicht sprechen ließ dürfen Sie nicht so schwer auf die Waagschale legen namentlich wenn Sie an die letzten Ereignisse denken. Daß Sie mich schwer und fast unverzeihlich beleidigt haben dürften Sie wohl einsehen. Da Sie aber ein bedeutender Mann sind und ich Sie als solchen respektire und Sie, gewissermaßen ehrenhaft gegen mich gewesen sind, will ich Sie nach Möglichkeit Ihrer Ungewißheit entreißen. Wie Sie sich wohl erinnern werden, habe ich Ihnen stets gesagt stets gesagt wir passen nicht zusammen, weil unser Stand zu verschieden ist. Früher oder später hätten Sie Ihren Mißgriff eingesehen und wer hätte darunter am meisten gelitten natürlich ich und Sie wären natürlich auch unglücklich da ich Ihnen[243] nicht diejenige Neigung entgegenbringen könnte, welche zum Glück erforderlich ist. Ich suchte stets Sie von dieser meiner Meinung zu überzeugen. Nun was blieb mir Anders übrig als der Zeit zu vertrauen welche Sie von Ihrem Irrthum abbringen sollte, weil meine schon erwähnte Meinung über die Zukunft mich keinen Augenblick verließ und ich immer mein und Ihr Unglück vor Augen hatte. Wenn Sie glauben, daß nur Sie mich vor meinem Untergang retten können, dürften Sie wohl doch ein wenig im Irrthum sein; ich bin zweiundzwanzig Jahre alt geworden ohne auf schlechte Wege gerathen zu sein, das kann ich mir selbst sagen und ich danke Gott für dieses Bewußtsein. Was Leute klatschen dagegen kann sich Niemand verwahren und deshalb hoffe ich, daß ich auch in Zukunft im Stande, sein werde, weine Selbstachtung zu erhalten. Nun komme ich zum eigentlichen Zweck meines Schreibens, ich möchte nämlich in Frieden scheiden und deshalb bitte ich Sie diese Zeilen, als genügende Erklärung hinzunehmen und gegen mich keine Feindseligkeit zu hegen wie auch ich gegen Sie nicht. Doch da in Zukunft unsre Wege auseinandergehen bitte ich mir mein Bild zurückzusenden. Nun bitte denken Sie über die Geschichte nach, dann werden Sie mich nicht verdammen.«


Trotz der mannigfachen Entstellungen und Uebertreibungen betreffs des springenden Punktes dieser ganzen Romeo- und Julia-Affaire, stak in dem Briefe dennoch eine gewisse Würde und Anständigkeit, die ihn erfreute. Denn es bereitete ihm eine tiefe Genugthuung, daß dies[244] Weib trotz alledem und alledem seiner Liebe nicht unwürdig schien. Auch wurde in der besonnenen Ruhe dieses Schreibens der Größenwahn des Weibes, das seine so viel umworbene Schönheit begreiflicherweise als Angelpunkt der Schöpfung betrachtet, wohlthätig gedämpft.

Und doch! Was galt hier ihre anständige Gesinnung, da sie doch ganz in Händen ihres Mephistopheles lag. Und gegen den mußte man sich schützen, durch sie selbst.

Er sann lange nach. Plötzlich kam ihm eine Idee. Sie kam über ihn wie eine Offenbarung. Sein Freund, der Genremaler Knorrer, hatte ihm kürzlich aus Tirol geschrieben, wo er eine Studienreise machte. Dabei hatte er bemerkt, daß er von Anfang Januar ab in Roveredo einige Wochen zubringen werde, um eine dortiges altes Bild zu copiren. Roveredo! Der Name hatte ihn durchzuckt, er dachte an Kathis eigene Enthüllungen. Ja, er mußte Gewißheit haben, ob die Sache richtig sei. Es konnte als Gegenwaffe dienen. Sie selbst konnte ja alles ableugnen, was sie ihm erzählt. Und wenn er im letzten Nothfall dort nachforschte, so würde, sie schon Mittel finden, Alles todtzuschweigen. Was konnte bis dahin ihm nicht ohnehin für Schaden erwachsen, falls dieser Kohlrausch in seinem eigenen Liebeswahnsinn ...

Kurz entschlossen, sich an diesen Strohhalm zu klammen, telegraphirte er an Knorrer nach Roveredo. Ein langes Telegramm, worin er Alles andeutete und diesen bat, ihm Gewißheit zu schaffen, ob in Trient eine Kathi Kreutzner mit einem Hauptmann vom Genie u.s.w. Wo dieser jetzt stehe. – – –[245]

Er malte nun ruhig an seinem Bilde fort.

Siehe da, am zweiten Abend nach Absendung seines Telegramms nach Roveredo, erhielt er einen saugroben Brief des p.p. Kohlrausch, worin ihm dieser ankündigte, er werde sich jetzt hier mit »Frl. Kreutzner« einrichten und nun wegen der ihm und ihr zugefügten Beleidigungen Schritte thun.

Rother antworte nicht. Er wartete auf das Antwort-Telegramm aus Roveredo. Es kam. – Genaues konnte ihm sein Freund nicht mittheilen. Allein, so viel hatte er in Erfahrung gebracht: Der betreffende Hauptmann vom Genie, dessen man sich an Ort und Stelle noch wohl erinnerte, sei später zur Cavallerie übergetreten. Sein Name sei: Graf Xaver Krastinik. – –

Ohne Verweilen verschaffte sich Rother von einem befreundeten Offizier eine Rangliste der Oesterreichischen Armee. Richtig! Bald hatte er den Namen gefunden. Ein ungarisches Husarenregiment, Garnison bei Pest. Ohne Verzug telegraphirte Rother an das Regimentskommando, Rückantwort bezahlt, ob er den Herrn dort treffen und sprechen könne.

Seine fieberhafte Nervenaufregung steigerte sich bis zu Appetit- und Schlaflosigkeit. Er hatte sich in die Geschichte so hineingeredet und hineingelebt, daß ihm sein ganzes Leben daran zu hängen schien. Und war es nicht so? Stand seine Liebe nicht auf dem Spiel? Doch die war ja verloren. Nein, nun galt es seinen Namen. Die Schande, die Lächerlichkeit! Sein reizbares Ehrgefühl überwand das nicht; nein, daraus mußte noch Schlimmeres[246] erfolgen. Man trieb ihn zum Aeußersten, so wehrte er sich. Ob das Mittel ganz anständig sei, diese Frage kam hier nicht in Betracht; hatte man nicht ehrlos an ihm gefrevelt? Man wehrt sich am besten, indem man selbst zuschlägt. Die beste Vertheidigung ist der Angriff. – Ob man ihm antworten würde? Er sollte nicht lange in Zweifel sein.

Ueberraschend schnell, mit ungarisch ritterlicher Liebenswürdigkeit, ward ihm Antwort. Graf Krastinik sei auf Urlaub, nach England verreist. Seine Adresse wisse stets, wie er beim Regiment hinterlassen habe: Lord Dorrington, Boltons Terrace, London.

Rother besann sich nicht einen Augenblick. Auch dies Hindernis noch – sei's! Hatte er die Sache einmal so verzweifelt ernst genommen, so wollte er sie durchführen. Was hatte er sonst auch noch für Interesse am Leben! Einer Erholung bedurfte er so wie so; Geld genug hatte er gerade; so ging er am besten allen Unannehmlichkeiten zu Haus aus dem Wege. Wenn ihm jener Kerl etwa persönlich eine Droh- und Daumschrauben-Visite macht! (Er sah eben Alles in vergrößertem Maßstab und düsterm Lichte.) Wozu noch zögern!

Schon der andre Morgen sollte ihn auf der Fahrt nach Hamburg sehn. Die nächste Route, die über Belgien und Calais, mochte er nicht wählen, wegen der drohenden Kriegsgerüchte.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Den letzten Abend vorher hatte ihn Annesley besucht, der wie gewöhnlich seine Hülfe in irgend einer musikalischen[247] Angelegenheit beanspruchte, um dann wie gewöhnlich emphatisch zu versichern: »Ihr Wohlwollen ist der einzige Sonnenstrahl in meinem nächtigen Sein. Ich armer Verfaulter und Siecher aus diesem Hunde Erdball! Sie sind ein vollkommener Gentleman, Sie sind –«

»Schon gut,« unterbrach ihn sein Gönner, der diese Aufwallungen schon kannte. »Kommen Sie man 'raus aus der guten Stube und an die frische Luft! Sonst jammern wir uns Beide wieder 'was vor!«

Es war noch früh am Tage, gegen 6 Uhr. Auf der Leipzigerstraße vor dem blauweißen Schilde des »Weihen-Stephan« (jenem historisch merkwürdigen Lokal, wo einst der größenwahnsinnige Oppositionsführer des Reichstags von einigen angezechten Ulanenoffizieren offiziell hinausgegrault wurde) stieß Rother auf ein Paar, das in schweigender Größe lustwandelte.

»Ah, Servus!« Man grüßte sich. Rother stellte »den hochbegabten Componisten Henri Francis Annesley« den beiden Herrn vor: »Herr Karl Schmoller, Herr Friedrich Leonhart.« Annesley machte große Augen, die zwo Dioskuren der litterarischen Revolution zu erschauen.

»Ah, sehr erfreut,« nickte der große Schmoller gnädig, indem ein süßliches Lächeln seinen bärtigen Mund umspielte. »Schon viel gehört von Freund Rother über Ihre Begabtheit.«

Annesley kratzfußte stumm und wunderte sich baß. In seiner Knabenphantasie hatte er sich große Schriftsteller immer à la Apollo gedacht. Und nun –!

Schmoller sah ihm aus, wie der Inspektor einer[248] Gasfabrik. Er trug Ringe an den Fingern, einen spitzgedrehten schwarzen Schnurrbart, als wäre er bei Graf Perpoucher in die Lehre gegangen, und einen behäbigen Havelock. Sein stechendes grünliches Marderauge funkelte unter einer ungeheuren blauen Brille, wegen mangelnder Kurzsichtigkeit aus Gelehrsamkeitsrücksichten. Seine überhängende Stirn dachte sich wölbig in Etagen ab und bildete einen spitzen Winkel, aus welchem die lüstern witternde breitnüstrige Nase vorsprang. Sein dito vorspringender breitwulstiger Mund (offenbar ein naturalistischer Witz der Natur, um »das böseste Schandmaul« anzudeuten) athmete einen halb versteckten halb dreisten Trotz. Eine unheimliche Energie verschönte gleichsam diese bizarre Voltaire-Physiognomie. Dabei schien er überaus satt und wohlgenährt, als ob er für all den Hunger, den er in seinen socialen Romanen schilderte, ein derbes Gegengewicht in seiner Person suche. Er rächte gleichsam seine »Enterbten« durch seinen Dichterappetit. Obschon ein Kölner Kind, vertauschte er gern sein niederrheinisch Platt für Spreeathener-Dialekt. Diesen hatte er gelernt von seinem früheren Intimus Fritz Erdmann, dem »deutschen Zola« – jenem naturalistischen Epiker, dem es im Deutschen Reich zu enge wurde, weswegen er vor geraumer Zeit nach Amerika durchging. Jetzt erbte Schmoller von ihm den Titelrang eines »deutschen Zola« als Nummer 2.

»Und sagen Sie, sind Sie wirklich der ber–ühmte Leonhart?« fragte Annesley naiv. »Also so sehen Dichter aus?«

Leonhart schien auf sein Aeußeres wenig Sorgfalt zu verwenden. Seine röthlichen Haare zottelten sich, als wären[249] sie selten gekämmt, und seine auffallend aristokratischen Hände starrten trotz ihrer zartweißen Hautfarbe von Schmutzflecken. Sein mädchenhaft zarter Teint wurde durch diverse Sommersprossen reizvoll belebt und an sein Kinn schien ein zersaustes Ziegenbärtchen angeklebt, das so stoppelig, aussah, wie brandige ausgeraufte Aehren. Auch machte seine unscheinbare dürftige Figur einen wenig imponirenden Eindruck. Sein blaues Auge, unter feingeschnittenen Brauen an einer starkgewölbten breiten Schläfe, schaute verschleiert müde drein. Nur ab und zu kam ein belebterer Ausdruck in dies stille Gesicht, dessen ruhige Miene andeutete, daß sie nicht Alles sehen lasse, – als ob geheim unter der Oberfläche gähre, was Niemand erspähen soll.

Sie bogen durch die Behrenstraße ein. »Hehe, da is ja das Wein-Restaurant mit den Gobelins und geschnitzten Möbeln, Hochelejant!« rief Schmoller der Joviale. »Hier schaart sich ab und zu die famöseste Klatschgesellschaft von tout Berlin zusammen.«

»Jaja, die ›Lästerschule‹!« murrte Leonhart. »Unter dem Vorwand eines collegialen Schöppchens! Jetzt haben sie's damit, die Modelle meiner Figuren zu beschnüffeln. Da werden die abenteuerlichsten Märchen aufgetischt, jeder braut eine besondere Version. Jaja, die guten Freunde! – In den Geld-Taschen und Hosen der Dichter herumzuriechen, ist des deutschen Schreibmichels Lust! Ihre ungewaschenen Finger in alles Persönliche stecken, – das nennen diese jungen Lait' von's Geschäft ihre ›litterarischen Verbindungen pflegen‹«.

»›Ob X. wirklich dem Y. so viel gepumpt hat? Ob[250] A. wirklich so hohes Honorar pro Bogen bekommen hat wie er auf Ehrenwort schwadronirt? Wieviel Gehalt hat B. bei der »Tagespost«? Ob man ihn wohl da hinausdrängen kann?‹ Sehen Sie, so wälzt das tiefsinnig anregende Gespräch sich eintönig fort, wie die Ritter-Dramen des Herrn von Alvers.« Er hielt inne, um Athem zu schöpfen.

»Na und ob!« fiel Schmoller ein, der vor Ungeduld brannte, sich seines animus injuriandi zu entladen. »Denk' doch nur an deinen gemeinschaftlichen Freund Boris von Lappezinsky. Salon-Statist! Wechselt fortwährend seine Wohnung, weil er die Miethe schuldig bleibt! Hat eine anständige junge Dame verführt – (sie hat mir's selbst erzählt,« fügte er in tugendhafter Entrüstung ein) – »und sitzen gelassen!«

(»So etwas kommt bei uns nicht vor!« brummelte Leonhart ironisch.)

»Dieser Mensch!« Schmoller griff sich an die Haare, daß sein Bourgeois-Cylinder, den er als großer Volksmann pflichtschuldigst bevorzugte, sich in den Nacken verschob. »Jotte doch, Boris von Lappezinsky!« Er schüttelte sich, als bereite ihm dieser Name, den er langgedehnt herausquälte, einen Hochgenuß. »Boris, Boris, mein Junge, Mann des Popo-Scheitels und der Pomade-Kleberei, hausirst Du immer noch mit Deinen blutrünstigen Colportage-Romanen? Haben Se nix ße dichten?«

»Ich finde diese amüsanten Skizzen aus der Guten Gesellschaft besser, als manches modeberühmte Geschmier.«[251]

»Schuster, bleib bei Deinem Drama-Leisten!« schnarrte Schmoller giftig. »Was Du wohl von Romanen verstehst!«

»Indianergeschichten für große Kinder erzählen, ist die Aufgabe anderer Realisten.« Es ist nicht die meine. – »Du vermochtest mich eben nie zu erfassen,« ertönte feierlich der Bierbaß des Menschheits-Regenerators.

»Hihi,« kicherte sein Mephisto, »Ne, Dich versteht man nur in Chaldäa. Wie schriebst Du doch neulich so treffend über die conventionellen Phrasen der Culturmenschheit?« »So überkleistert die Form, dieser dürftige Umschlag-Shawl der Aesthetik, den inhaltlichen Beweis des elementaren Persönlichkeitsgefühls«!! »Herr, dunkel ist der Rede Sinn. Stürze Dir man nicht in Unkosten!«

Ueber das asketische Mönchsgesicht des kleinen litterarischen Luther flog eine hektische Röthe und eine heftige Antwort schwebte ihm auf der Zunge. Aber er zuckte nur vielsagend die Achseln. Größenwahn platzte hier auf Größewahn.

Beide geübten Schimpf-Majore machte es augenscheinlich nicht im geringsten verlegen, vor den beiden Fremden ihre schmutzige Wäsche triefend auszuringen.

»Lappezinsky« –, fuhr Schmoller unbeirrt fort, aber diesmal schmollte ihm Leonhart dazwischen:

»Ein a – anständiger Mensch!« Es kam ordentlich seufzend mit einem Uf heraus, wie eine Schwergeburt der Selbstüberwindung. Denn am liebsten brauchte er den Kosenamen »Schurke«, sobald ihm Jemandes Nase mißfiel.[252]

»Ach was, fauler Mumpitz!« schimpfte Schmoller fort. »Ein Ohrwurm ist er! Gentlemännische Manieren wissen ja diese Adligen immer herauszubeißen. Er ist immer höflich und liebenswürdig, aber in seinem hübschen glatten Gesicht lauert ein Zug von rücksichtsloser Brutalität!«

»Ach, laß doch das Physiognomieenlesen!« suchte Leonhart abzubrechen. »Das verstehn ohnehin die Wenigsten.«

»Oller Optimiste! Wenn Dir man bloß Einer um den Bart geht, ist er bei Dir ein Ehrenmann.«

(»Oho!« dachte Jener. »Man kann ein Grobian und doch ein Schurke sein.«)

»Neulich hat er Dich mir gegenüber schlechtgemacht. Macht sich lustig über Dich, dieser kleine dumme Hannefatzke. ›Er möchte gern ein Realist sein‹ hat er gesagt, ›und ist doch stets ein Romantiker.‹ Dabei hat er von Deiner alten dummen Weiber-Geschichte geschwatzt – Du weißt schon, von Der da« – er machte eine imaginäre Handbewegung. »Als ob er 'was davon wüßte!«

»Ungefähr so viel wie Du,« trumpfte Leonhart ihn trocken ab: »Nämlich gar nichts. – Uebrigens, wenn er mich für romantisch hält,« ein unbeschreibliches Lächeln huschte über das bleiche vornehme Gesicht »so ist das auch noch weiter kein Verbrechen. Lassen wir das!«

Annesley und Rother, um welche sich die beiden Dioskuren im Gefühl ihrer Wichtigkeit gar nicht mehr bekümmert hatten, folgten nicht ohne Mißbehagen dem Gespräch, das sich nunmehr einem Herrn »Peter von Schnapphahnitzkoy«[253] zuwendete, von welchem Schmoller ehrenrührige Dinge erzählte. Sein Genosse erklärte achselzuckend, daß er den Herrn nicht kenne.

»Sagen Sie,« fragte der componistiche Wunderknabe leise. »Klatschen diese großen Dichter immer so?«

Rother zuckte die Achseln und gab keine Antwort.

Eine Art Menschenauflauf hemmte ihre Schritte.

Aus der Italienischen Weinkneipe unter den Linden strömte soeben eine ganze teutonische Horde urdeutscher Studenten heraus. Sie umringten einen dicken kurzen Herrn in Frack, weißer Binde und hohem Cylinder, der wie ein höherer Subalternbeamter oder wie ein strammer Unteroffizier aussah – für den Oberflächlichen, während den Tieferblickenden eine gesunde Männlichkeit in seinem gutmüthigen Gesichte anzog.

»Adalbert von Alvers!« flüsterte Rother von scheuer Ehrfurcht.

Es war wirklich dieser große Bühnenbeherrscher, dessen Muse immer bereit, dem Apell jeder Tagesfrage zu gehorchen und in weihevollen Hymnen jede beliebige Festlichkeit zu feiern – vom neunzigsten Geburtstag des Kaisers bis herunter zum Jubiläum irgend eines Geisteskoryphäen. Er führte soeben die festgeschlossene Cohorte seiner Getreuen in die zweite Aufführung seines neuen Dramas, welches von der Kritik schmählich mitgenommen war. Bei einer solennen Kneiperei in der alten Stammwiege des Alversschen Ruhmes, der italienischen Weinstube, hatte man heut Tod und Verderben allen Ungläubigen geschworen, welche gegen den nationalen[254] Dramatiker aufmucken würden. Bei jedem Todten, der auf der Bühne als Leiche liegen blieb, sollte sich ein Begeisterungssturm von Gallerie und Parterre aus entfesseln. Nach dem dritten Akt aber wollte man, laut Verabredung, ein furchtbares Bardengebrüll »Alvers, Alvers! Alvers 'raus!« stiften, das sich fortissimo bis zum Füßescharren und Stampfen steigern sollte. Ehe die Schauspieler für den »leider nicht im Hause anwesenden Dichter« danken könnten, würde sich dann der Hohe selbst in seiner Loge erheben und gnädig dem verehrlichen Publiko seine Kneifer-Verbeugung zuschlenkern. So dachte man der bösen Kritik schon noch beizukommen!

Wenigstens stellten dies Alles die drolligen Dichterdioskuren so dar, welche von Jedermann irgendwelche Mordsgeschichte zu erzählen wußten. Im Vorübergehen hörte man, während die Verschwörer im Sturmmarsch an ihnen vorbeidefilirten, den großen Dichter selbst die bedeutenden Worte äußern: » ... Das ist es, meine Herren, was ich in Ihnen begrüße: die Wiedergeburt des germanischen Geistes durch begeisterte Jugend. Sie, die Blüthe der Nation, Sie nur verstehen mich zu würdigen. Ja, was sind sie, all die Andern! Nur das nationale germanische Drama ...« Der rauhe Wind verschlang unbarmherzig den Rest. Die vier Flaneure sahen sich an.

»Größenwahn!« flüsterte Rother.

»Dieser Mensch!« schrie Schmoller, indem er sich mit theatralischer Geste an die Stirne fuhr. »Was versteht denn Der! Alberner Bumbum! Dem muß die[255] Muse stramm stehn, wie ein Rekrut!« Leonhart schwieg. Rother knüpfte noch die Bemerkung daran, daß in der Malerei Adolf von Werther diesem königlich preußischen Strebertypus als Pendant entspreche. »Ja, ›von‹! Da liegt's!« Schmoller fuchtelte wüthend mit beiden Händen umher. »Das ›von‹ macht diese Kerle berühmt. Hehe, neunundneunzig Karossen halten soeben vorm Hofschauspielhaus, wie ich höre. Das ganze Geheimrathsviertel und die ganze Garde sind angetreten, um einen Dichter ›von und zu‹, einen von ihre Leut', zu bespeicheln. Pfui Deibel! Was, wie, Leonhart, zwei Kerle wie wir, die hunderttausendmal mehr werth sind, als die ganze Bande zusammen ...« Leonhart schwieg.

Rother stieß Annesley mit dem Ellbogen an. »Größenwahn!« murmelte dieser, halb träumerisch.

»Wo speisen wir, meine Herren?« fragte Leonhart.

»Welche Frage! Siehe Annonce-Spalten der ›Berliner Tagesstimme‹! ›Wo speisen Sie? Bei Schwanzer.‹ Hier wären wir ja. Steigen wir man immer runter, Herrschaften!« docirte der gewiegte Lokalspezialist Berlins als Autorität mit Selbst-Patent.

Man stieg also in den geräumigen Keller hinab und nahm Platz. »Kellnehr! Eine Portion Erbsensuppe mit Schweinsohren, aber hübsch zerkaut! Ne, nicht doch, ich versprach mich man nur. Kellnehr! Ein Eisbein mit Sauerkohl! Ganz frisch, sagen Sie? Na selbstredend, kennen wir, oller Pappenheimer.«

Leonhart vermochte nicht, sich diesem culinarischen Realismus anzuschließen, und begnügte sich mit einer Portion Seemuscheln: das Pikante zog ihn immer an.[256] Nachdem Annesley die ganze Speisekarte durchstudirt, verkündete er plötzlich großartig sein dringendes Bedürfniß nach einem Dutzend Austern nebst Champagner. Obschon Rother keineswegs so cavaliermäßig fühlte, wie sein liebes Zukunftsgenie in spe, so mußte, er doch wohl oder übel in seiner gewöhnlichen schwächlichen Weichherzigkeit nachgeben und mithalten.

Schmoller gerieth sofort über den Sekt und die Austern, auf welche er geile Blicke warf, in die tiefste sittliche Entrüstung. »Dieser Mensch!« raunte er seinem Genossen ins Ohr. »Scheint ein verzogenes Muttersöhnchen, das noch nicht ins Leben hineingespuckt hat. Wollen ihn mal schrauben. – Sie, junger Herr,« hob er plötzlich an, »warum heißen Sie eigentlich Francis Henry Annesley? Sie sprechen doch ganz dialektfrei. Sind Sie Engländer?«

»Mein Urgroßvater war ein Amerikaner,« klärte ihn der Angeredete feierlich auf, als belehre er über eine wichtige historische Thatsache.

»Und seither ist Ihre Familie nach Deutschland verzogen? Ihre Frau Mutter war wohl auch eine Deutsche? Ja? Na, dann frage ich man bloß, warum Sie sich ›Henry Francis‹ taufen ließen, statt ganz gemüthlich ›Heinrich Franz‹. Jaja, versteh schon. Waren vorsichtig in der Wahl Ihrer Namen, wie Ihrer Eltern. So'n bischen Englisch klingt doch gar zu schön. Hat so'n vornehmes Lüster, hehe. Nichts für ungut. – Also Sie sind Lieder-Componiste? Oalle Achtung.«

»Ein sehr begabter,« ermahnte Rother mit leisem[257] Vorwurf. Er fühlte sich beleidigt, daß man seinen Schützling an-ulkte.

»Mindestens. Ein verrücktes Sumpfhuhn sind Sie doch, lieber Herr Rother! Das heißt, pardon, Sie verstehen, ich bin eine ehrliche Haut, die jedem die Wahrheit sagt. Fragen Sie meinen Freund Leonhart!« Dieser brummte über seinen Seemuscheln etwas Unverständliches.

»Nein, wie Sie doch immer für Andre ins Zeug gehn! Ordentlich rührend. – Ja, Herr Annesley, er hat uns schon viel die Ohren vollgeschwärmt – in Ihnen soll ja riesig viel Musike thronen. Schöner Kerl, der Francis Henry, interessantes Aeußere – was, Leonhart?« Dieser grunzte, wieder etwas Unverständliches; der ehrliche Biedermann aber hatte mit dieser biedern Aeußerung das Herz des Wunderknaben für immer gewonnen. »Werden, wie ich höre, eine Prachtausgabe Ihrer Compositionen ›Lieder unglücklicher Liebe‹ veranstalten – mit Illustrationen von Paul Thumann, nicht?«

(»Schlagsahne!« Rother schüttelte bei dem Namen des eleganten Damenzeichners unwillig den Kopf.)

Ohne den Spott Schmollers zu merken, folgte Henry Francis Annesley eifrig der Lockpfeife: »Allerdings, Herr Schmoller. Ich plane auch eine Prachtausgabe meiner Symphonie ›Kinder des Leids‹, Opus 21.«

»Muß Ihnen aber ein schweres Geld kosten,« meinte Schmoller theilnehmend, der rasch berechnete, daß man sich einen so vermögenden Jüngling warmhalten müsse.

»Ach ja!« rief der Beklagenswerthe. »Ich war stets ein Opfer meines idealen Strebens. Wer die ganze, hohle[258] jämmerliche Erbärmlichkeit der aus Perfidie, hirnverbranntem Neid, tollem Größenwahn, gemeinster Klatschsucht, polizeiwidriger Cliquenheulmeierei zusammengesetzten Weltverhältnisse kennen gelernt hat – puh!«

»Sehr richtig!« sagte Schmoller und machte ein ernsthaftes Gesicht.

»Wo ist neidlose Anerkennung wahren Verdienstes,« der Wunderknabe warf das Adonishaupt in den Nacken, »wo Ehrfurcht vor allem Großen, Heiligen und Schönen, wo Charakter, Manneswürde!«

»Sehr richtig!«

Jener aber übte sich rüstig fort in deklamatorischer Rhetorik:

»Wer vermag in diesem bodenlosen Sumpf des Egoismus festen Fuß zu fassen! Wer noch einen Funken Moral und Ehre im Leibe hat, wendet entrüstet sich ab von diesem Bilde schamloser Herzens- und Gemüthsverrohung, verzweifelnd an allen idealen Instinkten. Ja, man müßte die Leier des Gesanges zu allen Teufeln werfen –«

»Warum thun Sie es denn nicht?« unterbrach ihn plötzlich im betäubendsten Wortschwall die boshafte Zwischenfrage. Sie kam aus dem Munde Leonharts, der ihn seit geraumer Zeit mit festen Blicken maß, als ob er an ihm etwas studiren wolle. Annesley verstummte und biß sich auf die Lippe, während ein tückisches Blinzeln in seinem Auge verrieth, daß er Leonharts Meinung sehr wohl verstanden habe.

»Meine Lieder,« hob er wieder an, »sind sturmbewegte Trauerflöre, tiefste Herzensseufzer. Durch die Berührung[259] mit der All Natur entsteht jenes Stimmungs Fluidum, welches der brünstigen Sehnsucht nach dem Ur Schooß entspringt. Ja, meine Herren, die Musik – sie ist die höchste der Künste, vergeistigte Materie, die vom Rohstofflichen bis auf den kleinstmöglichsten Erdenrest sich losgelöst. Die in der Stunde der Gnade empfangene Melodie der Seele, der individuelle Stimmungsduft der Empfängniß, die krystallklare Spiegelung der dämonischen Regungen der Seelenorgane in der ganzen Skala der Affekte vom höchsten Jubel bis zum tiefsten Leid ...« er wollte noch einige Phrasen hinzufügen, verhaspelte sich jedoch und verschlang rasch eine Auster.

»Kannst Du Dir den Bauch halten vor Lachen? Ich platze!« raunte Schmoller wieder seinem Freunde zu, der mürrisch vor sich hinstarrte. »Sehr, sehr schön gesagt, mein lieber Herr Francis Henry Annesley,« sagte er laut mit tiefem Brustton der Ueberzeugung. »Grade auf Ihre Prachtausgabe bin ich ungemein gespannt. Haben Sie schon einen Verleger?!«

Diese ominöse Frage schien bei dem neuen Mozart eine mißtönende Seite zu berühren. Denn er runzelte die Stirn und zog dann aus seiner Brusttasche einen gedruckten Prospekt, welchen er der andächtig lauschenden Gemeinde mit hochtrabend näselndem Tone verlas. In demselben wurde versichert: Ralf der Schöne (in Klammer: Pseudonym für Henry Francis Annesley) sei nach dem Urtheil aller Autoritäten »absolut genial« zu nennen. Beigefügt waren einige Recensionen des »berühmten Musikreferenten Eugen Düstergang« und des »bekannten Kunstkenners[260] Harald Theopol Mokamaute«, wonach die »Pantheistischen Lieder unseres Henry Francis Annesley zweifellos vom Hauch der Unsterblichkeit umweht« seien. Diese Musik schwebe gleichsam in der mondblauen Luft zu märchenblasser Sternenpracht empor.

»Ikarus, Ikarus, Jammer genug!« warnte Leonhart halblaut.

»Sagen Sie – Mokamaute?« forschte Schmoller mit unnatürlichem Ernst. »Würde Mokka-Schaute nicht besser klingen? Wer ist eigentlich dieser Herr? Habe noch nie davon gehört.«

»Ich wohl – nämlich von Ihren zwanzig Pseudonymen, Herr Annesley.« Leonhart stieß ein kurzes hartes Gelächter aus. »Ach, so lassen wir doch den Quatsch!« Der Wunderknabe schoß aus ihn einen wüthenden Blick, in dem eine unheimliche Tücke schillerte. »Sprechen wir endlich von interessanten Dingen. Wie denken Sie über Rußland? Ich meine, die neuen Attentatversuche der Nihilisten, meine Herren.« Aber Schmoller hielt ihm mit komischen Schrecken den Mund zu:

»Raus! Will der Spitzbube hier gelehrte Gespräche mimen. – Ne, schwatzen wir man ganz gemüthlich weiter!«

(»Klatschen und schimpfen!« dachte Rother.)

»Ja, mein lieber Mister Annesley, ich freue mich lebhaft, in Ihnen einen Nachfolger der Schumann und Schubert, sozusagen den Letzten Lyriker, kennen zu lernen. Fahren Sie auf diesem löblichen Wege nur so fort, dann wird Ihnen der Lorbeer (halblaut zu Leonhart: ›und[261] Zelle Nr. 1 in Dalldorf‹) nicht entgehen.« Und erschüttelte meuchlings dem Letzten Lyriker die schmächtige Hand mit seiner Bärentatze. »Wie Rother erzählt, verfügen Sie ja auch noch über eine schöne Gottesgabe die des Menschen Herz erfreut: einen sanften lieblichen Tenor.«

»Wollen Sie mich mal hören?« Der Wunderknabe ließ sich das nicht zweimal sagen. Zum Entsetzen seines Freundes Rother und sämmtlicher Gäste erhob er plötzlich seine Stimme und sang »So – la – mi – fa« mit fabelhafter Bravour herunter.

»Aber nein, das geht nicht, meine Herrn!« betheuerte der Wirth, der von seiner üblichen Skat-Parthie in der Ecke aufsprang und herbeieilte. »Sie graulen mir ja alle Gäste fort.«

Annesley setzte sich, unmuthig seine Mähne schüttelnd. »Lächerlich! So geht's immer. Nirgends ist Raum für das Ideale.«

»Und die Eitelkeit,« ergänzte Leonhart.

Schmoller wand sich in inneren Krämpfen. »Sehr, sehr brav. Ich ehre in Ihnen den neuen Amphion,« rief er, Lachthränen in der tremulirenden Stimme. »Sie könnten Steine erweichen. – Dieser Me–nsch!« flüsterte er zu Leonhart hinüber. »Den bring' ich in meinen neuen Roman. Der Wein-Reisende in Musike! Das ist ja das reine Pendant zu den Literatur-Studenten der Jüngsten Deutschland.«

Als ob er auf sein Stichwort gelauert hätte, wandte sich hier der Wunderknabe, der nach Leonharts boshafte[262] Ergänzung über irgend etwas zu sinnen schien, an diesen mit der erfreulichen Frage:

»Haben Sie schon Veilchenthals Epigramm auf Sie gelesen in der neuesten Nummer des ›Zeitgeist‹?«

»Ach Gott!« lächelte dieser. »Was geht es den Mond an, ob ein Köter ihn anbellt! Der selige Lasalle sagte so richtig in seiner Broschüre gegen Julian Schmidt: ›Die kleinsten Köter pflegen mit Vorliebe an Monumenten ihr Wasser abzuschlagen.‹«

»Hihi!« Der Wunderknabe grinste dämonisch. »›Mond‹ und ›Monument‹ ist gut. Hihi, er redet ja eben darin von Ihrem, widrigen Selbstlob' – hihi, er nennt Sie den Gernegroß, dem Dunst und Dünkel das Hirn verdrehte und der seine Kindertrompete – hihi – hält für die Posaune des Weltgerichts.«

»Ach, Sie sind zu freundlich. Ich staune über Ihr Gedächtniß,« parirte der Dichter kalt. »Vielleicht lernen Sie auch mein neuestes Epigramm auswendig:


Größenwahn.

Der Esel vertraut es dem Schafe,

Das blökte fromm Mumuh.

Sie schrieen sogar aus dem Schlafe

Gar manche Ziege und Kuh.

Der Fuchs und der Wolf mit Trauern

Das Thier in der Wüste besahn.

Der – Löwe ist zu bedauern:

Er leidet an Größenwahn!«


Eine kurze Pause entstand. Auf diese schneidende Tiefquart wußte Annesley nur ein dummes »Hihi« zu[263] kichern und wandte sich daher, um abzulenken, mit heuchlerischer Theilnahme an Rother: »Auch über Ihr neues Bild, lieber Freund, ist ein abscheuliches Epigramm veröffentlicht. Ich kann es auswendig. Auch die neulichen abscheulichen Bosheiten des Dr. Drechsler-Caballo im ›Stuß‹ gegen Sie habe ich verwahrt. Sie können diese wichtigen Dokumente bei mir nachlesen. Soll ich das Epigramm –«

»Nein, unterlassen Sie das!« unterbrach ihn Leonhart stirnrunzelnd. »Sie scheinen ja ein ordentliches Arsenal aller Injurien gegen Ihren Freund und Gönner anzulegen.«

Während Annesley wieder ein verlegenes »Hihi« herausquälte, belobigte Schmoller gnädig Leonharts Epigramm. »Sehr schneidig. Könnte nicht machen. Habe überhaupt noch nie einen Vers gemacht. Wenn ich ein Gedicht sehe, muß ich schon lachen.« – Ja, meine Herrn, er nahm einen behaglichen Schluck Kulmbacher, »hier sitzen die zwei bestgehaßten Leute in Berlin. Gefürchtet muß man sich machen; das ist die Hauptsache. – Dieser Veilchenthal! Dieser Me–nsch!«

»Na, der hat doch wenigstens ins Leben hineingespuckt,« insinuirte Rother lächelnd.

»Haha, sehr gut. Könnte sogar selbst als Spucknapf dienen. Ein Mensch mit einem solchen Flecken – Sie wissen doch!« Und er wärmte zum tausendsten Mal eine alte Weibs-Geschichte auf, wobei er einige verfängliche Situationen, die dabei mitgespielt haben sollten, recht drollig zum Besten gab.

»Ach was!« Leonhart schlug unmuthig mit der Faust[264] auf den Tisch. »Laßt doch endlich die faule Sache ruhn. Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms.«

»Na, der mangelt doch nicht des Ruhms!« lachte Schmoller. »Freilich, was für ein Ruhm!«

Aber Rother, der aufmerksam zugehört hatte und sehr still geworden war, stimmte Leonhart eifrig bei. »Ist denn das ein solches Verbrechen, daß Einer aus Leidenschaft für ein Weib ...«

»Das will ich meinen!« rief Leonhart. »Seht Euch doch einen Kerl wie Napoleon an. War denn dem seine Josephine 'was Bessers? Da hab ich ein paar neue Bücher gelesen von einem gewissen Imbert de St. Amand über das Leben der ›Bürgerin Bonaparte‹. Du mein Gott! Um solch eine liebenswürdige Kokette, solch ein sinnliches Durchschnittsweib, hat das größte That-Genie aller Zeiten Blut geschwitzt! Der ganze berühmte Feldzug in Italien wird an der Hand unwiderleglicher Dokumente zu einem Delirium des erotischen Geschlechtsparoxismus. Bonaparte wollte berühmt werden und siegen, bloß damit ihn dies Weib liebe! Als er unter dem Triumphbogen Mailands einzog, war er der einzige Traurige in seinem siegreichen Heer. ›Meine Frau ist krank oder treulos,‹ sagte er todtenbleich zu Marmont. ›Ihr Medaillon ist auf meiner Brust zerbrochen.‹ Als er sie gewaltsam aus Paris schleppen ließ, wobei sie sich mit Händen und Füßen sträubte und weinte, als ging's zum Schafott, – gerieth er in eine erhabene Raserei, als die Oesterreicher ihn bei Befriedigung seines Liebestaumels störten. Und als seine Frau, die er den Gardasee entlang[265] schickte, um sie aus dem Schlachtbereich zu schaffen, ihm Jammerbriefe schickte, ihre Eskorte würde von den Oesterreichern verfolgt und man habe auf sie geschossen, – schleuderte er in einem Anfall genialen Wahnsinns seine Blitze mit der unnatürlich verzehnfachten Kraft eines Irren umher, so daß er im ›Feldzug der Fünf Tage‹ die ganze österreichische Uebermacht Schlag auf Schlag auseinanderstäubte. Vor Arkole, als ihn ganz Europa für verloren hielt und die Armee ihn im Zelt verzweifelt über seiner Rettung brütend glaubte, saß er und schrieb verrückte Eifersuchtsbriefe an seine Frau: ›Fürchte den Dolch Othellos!‹ Briefe, welche die naive Kokette in ihrem Salon vorlas und dazu lachte: ›Il est drôle, Bonaparte!‹ Grade in diesem erotischen Delirium kam das Genie über ihn wie ein Strahl und er beschloß den berühmten Uebergang aufs andre Ufer der Adige, wodurch seine ganze Lage eine andre Wendung bekam. – Später blieb's geradeso. In den Laufgräben von St. Jean d'Acre, gigantische Pläne nebenbei im Hirne wälzend, lamentirte er umher und belästigte seine Adjutanten mit Jeremiaden und Klatschereien über Josephinens Untreue, über die er sich lang und breit mit seinem eigenen Stiefsohn Eugen unterhielt. – Kurz, meine Herrn, ungewöhnliche Menschen sind in dieser Beziehung immer verrückt und die erotische Leidenschaft ist der beste Stachel der Genialität.« Er hätte noch so fortdocirt und besonders die Episode mit der polnischen Gräfin zum Besten gegeben, wegen deren die Schlacht von Eylau verloren ging – aber Schmoller gähnte laut. So zog er es denn vor,[266] um sich einen anständigen Rückzug zu sichern, zur Retirade zu eilen. Während er diesem natürlichen Bedürfniß fröhnte urtheilte sein Waffengenosse, Kamerad Schmoller, wohlwollend:

»Hat etwas gelernt, dieser Leonhart. Aber mit seinem Napoleonschwindel muß er mir vom Leibe bleiben. Das ist auch bei ihm so ein Stück Größenwahn. Wissen Sie nicht, er hält sich selbst so für eine Art kleinen Napoleon, haha! Spricht pro domo. – Ja, ich sagte eben,« brach er ab, als Leonhart wieder erschien, »Du bewunderst Deinen Kleinen Korporal zu viel. Was der gethan hat, kannst Du auch – wenn Du so viel Glück hast wie er. Prost!« Dabei zwinkerte er mit einem Auge die Andern an, als wolle er ihnen seine tiefe Ironie andeuten. Gleichwohl klangen seine Worte ganz sauertöpfisch-bieder.

»Napoleon war doch ein dämonisches altes Haus!« machte der Wunderknabe seiner unklaren Gedankengährung Luft.

»Sehr richtig, lieber Herr von und zu Annesley,« munterte ihn Schmoller mit süßlichem Lächeln auf. »Sie sind ja auch eine dämonische Natur.«

»Ich? Hihi. Glaub's auch. Sehn Sie, darum häng' ich auch jetzt die ganze Componirerei an den Nagel. Ich entsage für alle Zeiten der schöpferischen Production. In wilden Rhythmen, fessellos und frei, hat mein Herz gefiebert. Doch nun fiebert mein Dämon der Bühne zu. Nicht eher finde ich Ruhe, bis das Parkett des königlichen Opernhauses mir athemlos lauscht. Die ganze Producirerei, meine Herrn, ist heut nichts. Damit wird weder Ruhm[267] noch Geld verdient. Die Epoche der Schöpferkraft ist dahin. Heute findet nur der reproducirende Künstler seinen goldnen Boden. Und ich, meine Herrn, brauche das. Ich gestehe es offen: Ich brauche Ruhm und Genuß. Sie sehen mich, ich bringe alle äußeren Mittel mit!« Schmoller trat Leonhart auf den Fuß. »Die Weiber müssen zu meinen Füßen schmachten, daß ich gleichsam in Makartscher Fülle schwelgen kann.« Dabei grinste sein Gesicht ordentlich von verzehrender Wollustgier. »Ich bin eben eine dämonische Natur!«

»Eine neronische, meinen Sie wohl?« ergänzte Leonhart ruhig. »Ich will Ihnen auf den Kopf sagen, was Sie sind: Ein Dilettanten-Wütherich. ›O welch ein Schauspieler stirbt in mir!‹ mögen Sie auf Ihren Grabstein setzen. Wären Sie auf dem Thron geboren, so würden Sie der Zwillings-Bruder eines Ludwig II. sein. Mit verzückter Thränenseligkeit und Schmerzenswollust Rom in Brand stecken, und dazu freie Rhythmen drechseln – oder die Cirkus-Gladiatoren und Bestien sich das Fell von den Knochen reißen lassen, um in tragische Kothurnstimmung zu gerathen – das wäre so Ihr Gusto!« ... Der unheimliche Jüngling lehnte sich mit affektirtem Staunen zurück und sah ihn erstaunt an: »Nein, sind Sie aber ein Menschenkenner! Zweifellos leide ich an erblicher Paranoia und nervöser Psychose.« Er theilte dies mit so sinniger Beschaulichkeit mit, als spreche er von einem Schnupfen. »Doch freilich, eine so complicirte Natur wie mich vermögen Sie doch wohl noch nicht voll zu begreifen. Wenn Sie mich näher studirten ...«[268]

»Dazu sind Sie mir zu unbedeutend, fürchten Sie nichts,« beruhigte ihn Jener trocken. »Glauben Sie übrigens, das sogenante Dämonische wär' was Besonderes? Alle Uebergangsepochen sind davon durchseucht. Immer dieselben Symptome herostatischen Größenwahns. Die Anarchisten, die Attentäter, die angeblich ihren ›inneren Stimmen‹ gehorchen, sind heut bloß die Nachfolger ähnlicher Schwachmatikusse in der Renaissance, wo man, wenn nicht Cäsar, durchaus Tyrannenmörder Brutus oder Anarchist Catilina werden wollte. Gegen solche dämonischen Instinkte ist freilich schwer anzukämpfen.

Die hundert Spanier in der Riesenstadt Mexiko, welche Kortez zurückließ, stürzten beim Neumond-Fest auf den Goldschmuck der Mexicaner los, blind für alles Andere, toll von Gier, und richteten ein Blutbad an. Sie mußten wissen, ja sie wußten es beim Thuen selbst, daß sie schwer dafür zu büßen hatten. Aber sie konnten nicht anders: Gold- und Blutgier rissen sie fort. Der Tiger weiß auch recht gut durch Instinkt, wenn er ein Schiff auf dem Ganges anfällt, daß er dabei umkommt, daß eine Gewehrkugel ihn dabei treffen muß. Aber er thut es doch! Jede Leidenschaft ist unzurechnungsfähig, so auch die eines ganzen Zeitalters, wie die der Renaissance und unsrer Tage – und diese dämonische Leidenschaft heißt: Größenwahn, von Sich-reden-machen um jeden Preis!«

Rother hatte schon bezahlt, weil er fand, das Gespräch nehme eine ungemüthliche Wendung, und Annesley gerieth wirklich in nervöse Unruhe – wie gewöhnlich,[269] wenn es auf Mitternacht gehe, erklärte Rother. So brach man denn auf.

Draußen vor der Thür, als man von der Kellertreppe auftauchte, schritt grade ein Paar vorüber, – gewaltig ausholend, als solle Alles ihrem schweigenden »Platz Da!« Luft machen, – bei dessen Anblick die zwei Dichterdioskuren in ein schallendes Gelächter ausbrachen.

»Seht ihn euch an, seht ihn euch recht an, Kinder!« schrie Schmoller »Der Eine von diesen Bourgeois ist der grauße Drechsler-Caballo vom ›Stuß‹ – der Sie auch angeulkt hat, Rother, wie Jeden, der Saft und Kraft im Marke hat. In seiner ungeschorenen langen Simsonmähne steckt sein ganzer Ulk, wie eine Laus. Er leidet an Reim-Darmverschlingung und Schimpf-Diarrhoe. Ihm soll der weise Merlin prophezeit haben: Eine Delilah werde ihm mit der großen Scheere des Fenilleton-Sitzredacteurs Doctor Gotthilf Kleisterpott das Haupthaar stutzen. Die Gelehrten sind aber noch uneinig, ob die Prophezeiung auf Frau Doctor Bergmann, Chef-Dame der ›Tagesstimme‹, oder auf die Dichterin Ulla Wank hindeutet. Hehe, altes Erbstück, olles Inventar!« grölte er den majestätisch Enteilenden nach. »Und der Andre – dies fettige Oelgesicht! Jöttlicher Joethe, wer sollte Dir nicht kennen! ›Die Familie Schreibold!‹ Fünfzigtausendste Jubiläumsauflage! Dieser Mensch! hat ins Berliner Leben noch kaum hineingespuckt!«

Sie waren während dieser Ciceronianischen Invective bis vor den »Reichsadler« gelangt. Soeben spazirten ein paar Mägdelein, offenbar dort mimende Tingeltangelleusen,[270] zum Thor heraus und begaben sich auf den Heimweg – eine kleine Junge und eine dicke Alte. Bei dieser Lichterscheinung zuckte Annesley krampfhaft zusammen und faßte Rothers Arm, indem er den Göttinnen nachstierte. »Sie ist's!« flüsterte er theatralisch mit einer Grabesstimme.

»Herr Gott, beruhigen Sie sich doch, alter Junge!« tröstete ihn Rother freundlich. Schmoller aber, der die Scene beobachtet hatte, verabschiedete sich eilig; er habe noch eine Verabredung: »Fahren Sie sowohl als auch! Komm, Leonhart! – Denk Dir doch nur,« rief er, als sich die beiden Paare nach verschiedenen Richtungen von einander entfernten, »das ist ja die bewußte unglückliche Flamme dieses Größenwahnsinnigen, der den ›wilden Engländer‹ macht. Die müssen wir mal ausholen. Das ist Die, – erinnerst Du Dich, wie Rother uns das Gedicht vorlas, Text und Musik von Fedor Waschlapply (zu Deutsch: F.H. Annesley), mit dem Refrain: ›Jetzt weiß ich es, wir sehen nie uns wieder‹? Vorwärts!« Sie blieben den beiden Chansonneusen auf dem Fuß, bis sie dieselben erreichten.


»Mein schönes Fräulein, darf ich's wagen,

Meinen Arm und Geleit ihr anzutragen –


zum Café National nämlich?« fragte Schmoller graziös. »Wie wär's, Kleine, he?«

»Ach Sie! Was wollen Sie denn eigentlich!«

»Mit Dir der Morgenröthe entgegenwandeln, o Aurora!« Leonhart umfaßte burschikos die Hüfte der Alten.[271] »Na Sie aber doch! Aurora in Oel!«

»Lassen Sie meine Tante in Ruhe!« kreischte die Kleine.

»Nun macht keine Geschichten, Kinder. Ich spendire sogar einen Sherry-Cobler!« verhieß Leonhart. Dem vermag kein asphaltenes Straßenpflaster-Herz zu widerstehn – und so saßen sie denn alsbald in der ungesunden Stickluft der nächtlichen Markthallen für Weiberfleisch.

»Du, Maus, Du hast ja einen Liebespickel! Bist Du nicht mein kleiner schneidiger Fritze?« knüpfte die Kleine cordial an, indem sie Leonhart ins Knie kniff.

»Sage mal, liebes Kind,« hob Schmoller an, »ich habe nämlich von Dir gehört – von einem verstorbenen Freund.«

»Ach Falle! Das kennt man.«

»Nein, auf Taille! – Von Henry Francis Annesley.«

»Ach Jemine, is der todt?« Die Kleine hob einen Augenblick die Lippen von dem Lutsch-Halm ab, mit dem man den Sherry-Cobler auszuschlürfen pflegt.

»Ja. Sage mal, Du sollst ja Jungfrau gewesen sein, als er Dich verführte?« Die beiden Damen ließen einen hysterischen Lachkrampf befürchten. »Na gewiß. Er hat doch auf Dich ein Lied in Musike gesetzt ›Die Reue‹, worin er von den Furien seines Gewissens und Deiner geknickten Unschuld redet.«

Die kleine Dame war außer sich. »Meine Unschuld soll der Stiesel man ja in Frieden lassen! Für den is das nichts. Der kooft den alten Fritzen doch nich.«

»Na, aber ich bitte Sie, Ihr intimes Verhältniß ...«[272]

»Was, intim?! Sie haben wohl einen Vogel. Nich mal mein ›Freund‹ is er jewesen. Der alberne Stiesel mit all seine faule Redensarten! ›Retten‹ hat er mir wollen – so 'ne Qualmtute! Mit keinem Herrn hab ich mich so gelangweilt! Der saß ja man bloß immer da und starrte mir an.«

Schmoller konnte sich nicht mehr halten; er brüllte vor Lachen. Leonhart schüttelte wehmüthig den Kopf:

»Immer die alte Geschichte. Zu lächerlich, um tragisch, zu tragisch, um lächerlich zu sein.«

Die beiden Damen nahmen jedoch Schmollers cynisches Gelächter sehr übel, da sie den Grund nicht verstanden. »Na, Sie scheinen mir ooch ein oller Nassauer! Lachen Sie man über Ihnen selber – das is jesund!«

Leonhart kannte seinen erhabenen Freund zu lange, um sich noch zu wundern, daß Schmoller, statt zu lachen, wüthend losdonnerte:

»Was, Sie wollen hier frech werden und Bilder rausstecken? Wissen Sie, wen Sie vor sich haben? Für was halten Sie mich?«

»Für einen Schornsteinfegermeister!« kicherte die Kleine schnippisch. Schmoller wurde dunkelroth vor Wuth.

»Da! da! Lesen Sie!« Er rieß seine Brieftasche heraus und entfaltete einen Pack Zeitungsblätter, wo Recensionen über sein sociales Sittenbild »Die Enterbten« roth angestrichen waren, indem er mit der flachen Hand auf die betreffenden Stellen schlug. »Da! Das bin Ich! Der deutsche Zola! Ja wohl, Sie freches Mensch! Wissen Sie das wohl?«[273]

Leonhart empfahl sich in aller Eile, worüber sich Kamerad Schmoller wieder mörderlich erboste. »Das ist auch Einer, der an seinem Messias zum Judas wird!« lallte er mit geballter Faust. Leonhart lachte. Offenbar hatte der große Sittenmaler wieder zu viel getrunken; er konnte nicht viel Spirituosen vertragen, weil er so viel »ins Leben hineingespuckt« hatte, was gewiß sehr angreifend gewesen war.

»Wie?« hörte man ihn drohen, als der Aufseher des Cafés erschien und um Ruhe bat. »Sie wollen, mir den Mund verbieten? Ich bringe Alles in meinem nächsten Roman ...«

»Ach, bringe Dich doch mal selbst hinein, alter Junge,« dachte Leonhart, als er fürbaß schritt.

»Dieser Original-Figur ist Deine Feder selbst allein gewachsen.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Obschon Annesley durchaus noch in der Bodega oder sonstwo ein anständiges Glas Wein trinken wollte, um den Abend cavaliermäßig zu schließen, widerstand Rother, so willig er sich stets vom Egoismus seines Schützlings terrorisiren ließ, diesmal dessen Wünschen. Er müsse für die Reise morgen frisch bleiben. Annesley trippelte neben ihm her, ein gut Stück aus seiner Richtung ausbiegend, um Rother auf dessen Heimweg zu begleiten. Große Federflocken schüttelten sich auf die nächtlichen Straßen herab und breiteten einen weißen Teppich, der den Schmutz des Tages verwischte. Rother, stets aus Empfindsamkeit und unbewußter Eitelkeit eine warme Gesinnung Anderer[274] für ihn muthmaßend, fühlte sich gerührt, daß der Wunderknabe ihn so anhänglich durchs schlechte Wetter begleitete.

»Nun gehn Sie nur nach Hause, lieber Freund. Es ist sehr hübsch von Ihnen, daß Sie mich am letzten Abend, wo wir beisammen sind, nach Hause bringen. Aber Sie werden sich erkälten ... scheiden wir hier!«

»Ja, das wollt' ich eben sagen,« sagte der treue Freund. »Ach beiläufig, ich suche noch nach etwas ewig Weiblichem – können Sie mir vielleicht noch zwanzig Mark borgen?« Rother sah ihn an und lächelte bitter. »Nun, das ist doch nichts für einen Mann wie Sie. Sie wissen ja, Sie kriegen's immer übermorgen wieder.«

Es war dies Annesleys Manier, trotz seines eigenen vollen Beutels – er wollte offenbar stets Rothers Freundschaft prüfen. Dieser lachte herzlich und wohlwollend:

»Darum reiten Sie mit mir durch Nacht und Wind? – Na, da!« Er reichte ihm das Goldstück. »Also adieu!«

»Ja und die Prachtausgabe meiner ›Kinder des Leids‹ widme ich Ihnen. – Glauben Sie nicht, daß mir das nützen wird?! Bei Ihrem großen Anhang ...«

Rother antwortete nicht und hustete. »Sehn Sie, so drücke ich Ihnen meinen Dank vollauf aus – für so manches Gute, daß Sie an mir gethan haben.«

Rother antwortete nicht. Er dachte an die Feindschaften und Verleumdungen, die er sich wegen des kleinen Nero zugezogen. An den Bruch mit Collegen, welche ihm seinen »hochbegabten Schützling« als ohnmächtigen Charlatan schimpfirten. An all die Stunden, wo er die morsche verrottete[275] Seele aufgerichtet. An seine väterlich aufmunternden Gespräche mit Annesleys Tante (bei der dieser wohnte) über alle Leiden, welche der größenwahnsinnige Wicht derselben verursachte; einmal hatte er in einem Wuthanfall seines Weltwehs auf sie ein thätliches Würge-Attentat versucht. Er dachte an die seelische Blutvergiftung, welche, ihm der Umgang mit diesem brünstig nach Weltlust schmachtenden Weltverächter zuzog, der seinem Persönchen ein ideales Martyrium anlog, um desto brünstiger der Befriedigung unersättlicher Eitelkeit und Ichsucht zu fröhnen. An die Selbstschwächungs-Manie, welche der begnadigte Stimmungsfritze um sich verbreitete, alles Männliche und Reale als »unpoetisch« verpönend – was auf Rothers receptive schwächlich-empfängliche Natur den gefährlichsten Einfluß gehabt hatte. An seine ganze geistige Vormundschaft diesem naseweisen undankbaren Knaben gegenüber. Schon hatte ihm Leonhart mitgetheilt, daß Annesley mit Rothers Todfeind, dem Kunstkritiker Doctor Kratzenthal, hinter dem Rücken seines Gönners gegen diesen conspirire. In einer Gesellschaft habe er sich von dem Maler Adolf von Werther sogar mit Hochgenuß erzählen lassen, Rother schwebe schon lange am Rande der Lächerlichkeit – ohne dagegen zu opponiren.

Damals hatte Rother darauf nicht geachtet; es widersprach seiner nobeln Natur, gleich das Schlimmste zu glauben. Jetzt aber, wie von einem plötzlichen Blitz erleuchtet, lag der Charakter dieses Pseudo-Weltschmerzlers (Pessimystiker sind immer die schlausten Geschäftsleute) ihm bis in die innersten klaffenden Spalten vor Augen.[276]

»Wissen Sie,« brach Annesley das Schweigen, während sie an einer zugigen Ecke zögernd stillhielten, »ich bin immer noch ganz paff über diesen Leonhart. Das ist ja ein ganz communer Bursche, ohne alle Vornehmheit. Hatte mir den immer gedacht als ein enfant gâté, als einen ›Löwen‹ der Berliner Salons – wissen Sie, so eine Art Lord Byron. Nein, diese Enttäuschung! Ein ganz schmutziger gewöhnlich aussehender Dutzendlitterat, so ein richtiger Scribeler und Schmierfink!«

»Hm, nein!« Rother war, wie alle bildenden Künstler, aufs Beobachten von Physiognomieen eingeschult. »Er sieht eigentlich doch recht bedeutend aus.«

»Wie, sind Sie toll? Diese unbedeutende Erscheinung, diese mittelmäßige Figur! – Und was für eine schlotkerige Haltung! Wie er schon dasitzt! Und dabei dieser Größenwahn! ›Sie Lump, prahlen Sie doch nicht so!‹ wollte ich ihm schon zurufen, hihi.«

Rother besann sich vergeblich, ob Leonhart geprahlt hätte. Es war bezeichnend, daß Schmollers offenkundige Ueberhebung wegen ihrer Pöbelhaftigkeit Niemanden beleidigte, während Leonharts stiller Hochmuth jede verkniffene Eitelkeit verletzte.

»Denken Sie an meine Worte,« stieß Annesley hervor, »Der wird noch mal vor Größenwahn im Irrenhause enden!« Dabei rollte er so dämonisch seine Augen, daß Rother sofort die bekannte Wahrnehmung einfiel, daß Geisteskranke immer die Andern ihrer eignen Laster und Fehler bezüchtigen. Indem er im kalten Licht des Wintermonds einen festen prüfenden Blick auf den unheimlichen[277] Jüngling warf, las er jetzt, worüber seine Gutmüthigkeit sich weggetäuscht, mit psychologischer Klarheit. Dieser lauernde verschleierte Blick, die studirt sanfte verschleierte Mollstimme, das unnennbare Weltleid dazu gerechnet, ergaben ihm das Resultat:

Zu allem fähig.

»Also ich komme nicht weiter mit. Adieu!« rief der ideale Schmerzenreich. »Wenn wir uns nicht wiedersehn sollten, wünsch' ich Ihnen ein besseres Loos, als das meine auf diesem Hundeerdeball. Ich habe keine Empfindung mehr. Verzeihen Sie also, wenn ich Ihr freundschaftliches Liebeswerben« Rother runzelte die Stirn, »nicht immer gleich warm erwidern konnte. Ich schleppe mein Martyrium weiter auf meiner Dornenbahn. Ja, hätte man in andere Lebenskreise meine strebende Jugend gestellt! In alle Höhen und Tiefen wäre mein bescheidener Geist gedrungen. Doch – Arma parata fero! Durch Nacht zum Licht! Wir stehen im sausenden Kampfe der Zeit, eine Welt in Waffen wider uns! O selig, Blutzeuge des Lichtes zu sein! So mein Urtheil über die Welt. Ich habe mich Ihnen heut ganz erschlossen. Uebrigens dürfte demnächst mein Tagebuch erscheinen: ›Aufzeichnungen eines verrückten Musikers‹, natürlich pseudonym. Darin werden Sie schreckliche Dinge aus meiner Vergangenheit finden. Ich sage Ihnen ...« er machte dabei eine Handbewegung, indem er die Stimme dämpfte, als vertraue er einem Geheimbündler schaurige Staatsgeheimnisse an. »Hier finden Sie den Schlüssel zum Verständniß meiner Irrsal. Ja, wäre ich als Lord geboren wie der selige Byron![278] Aber so! Leben Sie wohl! Falls ich nicht in einer Kaltwasserheilanstalt meine Gemüthskrankheit heilen muß, bitte ich alle Briefe nach Venedig zu adressiren, wohin ich im Frühjahr reise. Nachher mache ich wohl mit meiner Tante eine Tournée durch alle Badeorte Deutschlands, um meine Prachtausgabe zu verbreiten und mich als Sänger probeweise hören zu lassen. Man sagt mir, Niemann werde alt; ich dürfte wohl an seine Stelle treten.« So phantasirte der eisige Egoist in seiner brennenden Eigenliebe drauf los; seinen Freund hatte er längst vergessen. »Doch was für eine Zugluft hier!« Er hielt sich das Taschentuch vor den Mund. »Meine Stimme, meine Stimme! Ich muß sie schonen. Also glückliche Reise, lieber Freund!«

Der unheimliche Jüngling stolzirte mit langen Beinen in die Nacht hinein. Rother lachte bitter – jenes messerscharfe Lachen, das wie ein Dolch in die Seele sticht und schärfer brennt als Thränen. Die Menschenwüste dehnte sich vor ihm hin – öde, öde, öde.

Am andern Vormittag, als er eben seinen Koffer in die Droschke steckte, die ihn zum Lehrter Bahnhof trug, erhielt er noch ein parfümirtes Billetdoux von Henry Francis Annesley, in eigenthümlich gemessenem Stil:


»Hochgeehrter Herr,

Bei unserm gestrigen Beisammensein entschlüpften mir allerlei Andeutungen betreffs eines Büchleins, das pseudonym in Leipzig soeben erschien. Ich erlaubte mir, verzeihen Sie, eine kleine Mystifikation. Das Büchlein ist nicht von mir, sondern von einem Studienfreunde[279] aus der hiesigen Musikalischen Hochschule (Conservatorium). – Ergebenst grüßt Ihro Genie Gnaden der Adonis und Schmerzens-Lazarus

Henry Francis Annesley.


P.S. Vielleicht interessirt es Sie zu vernehmen, daß ich im Laufe nächsten Frühjahrs ein Concert im Leipziger ›Gewandhaus‹ veranstalten werde. Sie erwähnen das wohl gelegentlich in Ihren etwaigen Privat-Correspondenzen nach Deutschland. Auch darf ich wohl darauf rechnen, daß Sie, falls Sie von London über dortige Gallerieen an eine Kunstzeitung correspondiren, auch meiner Wenigkeit irgend wie dabei gedenken werden. Sie wissen, wie dankbar ich Ihnen bin.

P.P.S. Anbei eine soeben erschienene Recension über das oben erwähnte Büchlein.«


Dieser Zeitungsausschnitt lautete:


Tagebuch eines verrückten Musikers von F.H. Hummerscheere. Obschon ein literarisches Erstlingswerk, athmet es die Reife des Genies. Hier wird die erbliche Nervenkrankheit oder »Paranoia« mit wunderbar pathologischem Realismus zergliedert. Herrlich sind die Streiflichter, welche auf den großen unglücklichen Monarchen Ludwig II. fallen, den Hummerscheere so schön anredet: »Du warst ein Kind und ein Genie.« Hummerscheere ist auch ein Meister der Satire; das beweist die drollige Figur des liebeskranken Malers Emil Knothe.

Harold Theopol Mokamaute.


Rother zerriß das Gewäsch mit einer Miene des Ekels. Das war selbst seiner Sentimentalität zu viel. – Den Sinn des Unbegreiflichen verstand er freilich erst[280] später, als ihm das »Tagebuch« vor Augen kam und er in dem Maler Emil Knothe lauter Aeußerungen und Züge von sich selbst wieder erkannte, die ihm der liebe Wunderknabe während ihrer Intimität abgelauscht. Was interessirte ihn überhaupt jetzt das Alles! Auf nach London!


Leonhart bummelte langsam fürbaß. Der Gedankengang, den er damals in der Kneipe abgebrochen, setzte sich unabgerissen wieder fort: Er dachte an das Leben Napoleons. Wie oft verschmilzt sich erotische Leidenschaft mit dem politischen Schicksal, wie oft bestimmt ein Weib durch den verliebten großen Mann die Geschicke der Welt!

Es wäre ein tragikomischer Spaß, die Briefe des eifersüchtigen Siegers von Italien an die Citoyenne Bonaparte neben die Eifersuchtsbriefe der Kaiserin Josefine an den Sieger von Austerlitz und Jena, der ihr verbot mit ihm ins Feld zu reisen, um erotisch frei zu sein – kurz, die Zeugnisse eines durch physiologisch-psychologische Processe genau umgestülpten Liebesverhältnisses nebeneinander zu drucken. O Mann, o Weib! Dies Weib, das er für sein Schicksal, für sein Spieler-Glück hielt – verstieß er, um die Tochter der Habsburger an seine Seite zu fesseln, mit welcher ihn Schritt für Schritt Fortuna verließ, so wie die Elende ihn selbst verlassen hat. Was er als Opfer seines persönlichen Glückes seinem Ehrgeiz zur Sättigung hin warf, grade das schuf den Sturz seiner Herrschaft. Er scheuchte sein altes Glück,[281] sein geliebtes Schicksal, von seiner Seite – das Schicksal rächte sich.

Ueber dem Schlößchen Malmaison stand sein kaiserlicher Stern zuerst nah dem Zenith. Dort verlebte er mit Josefine den Honigmond seiner Allmacht als Erster Consul. Und eben dort erlosch sein Stern, hier hauchte sie ihren letzten Odem aus – er folgte. Eh er sich England überlieferte, verweilte er die letzten Tage dort – in der Todtenkammer, die einst sein Ehegemach gewesen. Im nie endenden Orkan seines Lebens war dies die letzte Oase, die ihn einlullte mit der Fata Morgana vergangenen Glücks. So verbindet sich Alles in räthselhaftem Kreislauf, Anfang und Ende. Das Schicksal der Liebe, die Liebe des Schicksals. Erhaben der Ruhm, erhabener die Liebe.

Welch ein Traum, dies Leben! welch ein Traum, von dem die Aeonen weiterträumen werden!

Dem Sieger von Italien schwenkte man einst eine Siegesfahne entgegen, worauf die Schlachten der Armee von Italien eingeritzt. Am Ziel seiner Laufbahn aber schwebte über seinem Haupte geisterhaft eine schwarze Trauerfahne – darauf stunden sie eingegraben in blutigen Lettern, die Schlachten der Großen Armee: Marengo, Austerlitz, Jena, Friedland, Wagram, Borodino, Dresden – Leipzig, Laon, Waterloo! Der Mensch ist Nichts, sein Schicksal Alles. Er war das Schicksal selbst und hatte sich erfüllt.

Er fiel, aber die Erde wurde sein Monument. Mit einem einzigen Sprunge schwang er sich hoch auf des[282] Sieges Donnerwagen und sein Triumph durchblitzte die schwüle Erde.

Welch ein Mensch! Die Sporen seiner Stiefel bohrte er der trägen Menschheit in die Weichen, aus ihrem Schlamme peitschte er sie auf als Gottesgeisel, er fuhr dahin auf seinem fahlen Renner wie der Todesengel der Apokalypse, er riß die Schollen auf wie eine brennende Pflugschar für den Samen der Zukunft. Ja, er hat dem Heros den Charlatan, dem Löwenherz den Falstaff, der Wahrheit die Lüge gepaart; er war ein Gigant mit thönernen Füßen. Aber mit alledem hat er der Welt gezeigt, was ein einzelner Mann vermag vermöge des höchsten Herrscherrechts, das von Gott selber begnadet, kraft der Souverainität des Genies.

Mag sein, er war ein falscher Messias und wurde an sich zum Judas. Aber sein Schicksal wollte es so. Er folgte einfach dem eingeborenen Dämon seiner Bestimmung, der ihn unaufhaltsam fortriß. Ein Größerer denn er war über ihm – wer sich von ihm gerufen fühlt, kann nicht widerstehen.

Ja, er war der feurige Wetterstrahl, der die stickig dumpfe Atmosphäre des morschen Europa von einem Ende zum andern durchzuckte, der durch den Gewitterhimmel der Revolution leuchtete wie eines Racheengels Flammenschwert. Der Orkan, mit dem er die Welt durchrüttelte, durchtobte ihn selber und schleuderte ihn wie eine entfesselte Naturgewalt über zerstampfte Völkerleichen hin. Millionen fluchten ihm, Millionen wurde sein Name ein Talisman der Begeisterung. Man kann das Eine nicht loben, das[283] Andere nicht tadeln. Denn er war wie ein blindes taubes Naturgesetz, wie eine eiserne Nothwendigkeit. Das Splitterrichtern der neidischen Mittelmäßigkeit, der zwerghafte Neid verklagt ihn vor dem Richtstuhl der Geschichte. Aber er hatte der Welt in sich ein Ideal gegeben, in der übermenschlichen Symbolik seines Schicksals – das gilt mehr wie alle Ideologie. – – –

Als ob der Zufall zu den Reflexionen Leonharts einen geheimen Zusammenhang beanspruche, stieß dieser plötzlich nahe an der Potsdamer Brücke auf ein seltsames Paar. Ein auffallend kleiner Mann, genau so groß wie Napoleon gewesen, schritt heftig gesticulirend neben einem Riesen her, der demüthig auf seine Worte wie auf prophetische Weissagungen zu lauschen schien.

»Sieh da, Doctor Paulus!«

Der kleine Herr blieb stehn und erwiderte Leonharts cordialen Gruß mit einer Verbindlichkeit, welche etwas Gezwungenes und Verlegenes nicht verleugnen konnte. »Ah, entzückt Sie mal wieder zu sehn. Wollen eben in den Café Boulevard. Kommen Sie mit? – Erlauben Sie, daß ich die Herrn bekannt mache – doch Sie kennen ja wohl Herrn –«

»Berthier? Gewiß.« Der Große verneigte sich, zustimmend, daß man sich kenne.

»Berthier?! Hahaha!« lachte Doctor Paulus auf. »Nein, Beuthin. Mein ehrlicher Beuthin als Generalstabschef – nicht übel.«

»Verzeihen Sie, Herr Beuthin, ich versprach mich[284] Ideen-Assoziation! Weil Sie so 'was Napoleonisches haben, lieber Doctor.«

Doctor Paulus lachte kurz auf und schritt mit einem leichten imperatorischen »Kommen Sie!« den beiden Anderen voran. Leonhart, der sich anschloß, »um einen Schlummerpunsch zu genießen,« beobachtete ihn heimlich. Paulus war sehr elegant gekleidet, nach englischer Mode, einen breitkrämpigen Cylinder neuesten Londoner Stils auf dem interessanten Haupt. Obschon weit unter Mittelgröße von Statur, schien er nervig und muskulös. In seinen klar und scharf geformten Zügen lag etwas unverkennbar Füchsisches. Doch erinnerte er noch mehr an einen scharfspürenden behenden Jagdhund. In seinem Wesen trat eine hastige nervöse Unruhe hervor, als ob er stetig auf einen Fang laure. Seine breite, aber glatte niedrige Stirn, sein stechendes Auge, seine scharfe schnarrende Stimme konnten für den geübten Physigonomiker wenig Vertrauen erwecken. Ein Solcher hätte auf den ersten Blick in diesem »verdammt schneidigen Kerl« einen ausgezeichnet praktischen Kopf, jedoch ohne höhere geistige Veranlagung, erkannt. In seinen kräftig brutalen Kinnladen, seinem massiven Kinn verrieth sich eine eiserne Energie.

Als Leonhart die Bekanntschaft des Doctor Paulus machte, führte dieser eine ziemlich dunkle Existenz als eine höhere Art von Abenteurer. Er hatte als Doktor promovirt mit einer Disputation über die Schelling'sche Philosophie, die zwar nichts Positives beibrachte, sich aber durch ätzende Kritik und schneidende Logik hervorthat. Seither trieb er sich in Berlin umher, ohne daß Jemand[285] wußte, wovon er lebe. Er erzählte stets merkwürdige Geschichten aus seiner Londoner Vergangenheit, wie er als man of fashion drei Jahre lang sein ererbtes Vermögen aufgezehrt habe. Englisches Halbblut mütterlicherseits, behauptete er sogar eine hypothetische Verwandtschaft mit einem bekannten britischen Staatsmann. Von seiner Londoner Aera wollte er auch die Vorliebe für Brandy mitgebracht haben. »Let's have a drink!« bedeutete bei ihm, wie sich Leonhart erinnerte, das Hinunterstürzen etlicher Gläser Cognac. Auch im Biere leistete er Großes. Leonhart lernte ihn zuerst kennen, als der rührige Streber eine Zeitung gründen wollte. Diese Idee schien jedoch mehr als Lockvögelei berechnet und zerann spurlos im Sande. Im »Feudalen Klub« trat er als ständiger Gast mit stolzer Sicherheit auf. Einmal klagte er Leonhart gegenüber voll Entrüstung, daß der Klub-Vorsitzende Graf Bärme, der sogenannte Mephisto mit der schwarzen Ledermappe (in welcher alle Collekten-Geheimnisse der Konservativen Partei schlummerten), ihn erst später, nachdem er mit einem fremden Herrn eine Viertelstunde am Tisch gesessen, näselnd vorgestellt: »Da es nun ja doch nicht mehr zu umgehen ist: – Sr. Excellenz Minister von X. – Doctor Paulus.« Noch mancher andren Ueberhebung hatte Graf Bärme (der hochwohllöbliche Ordensjäger und Kammerherr, der sich vom einfachen »von« zum »Baron« und nachher zum »Grafen« emporschwang und die unerwartete Millionen-Erbschaft eines Onkels durch tausenderlei Geldgeschäfte und schmutzigen Geiz noch vermehrte) sich[286] gegen den kleinen Paulus schuldig gemacht. Das kerbte dieser ihm gründlich an, und sobald er ein großer Mann geworden, mußte Bärme dafür büßen.

Ein großer Mann – ja, das wurde er bald genug.

Leonhart gehörte zu den Wenigen, die es voraussahen. Sein tiefer psychologischer Scharfblick sagte ihm, daß aus dieser kleinen Schlange sich ein geflügelter Drache entpuppen werde. Er erkannte eine moderne Conquistadoren-Natur und sprach es Anderen gegenüber aus, die ihn darob belächelten. Doch die Ereignisse sollten ihm überraschend Recht geben. Paulus warf sich in die Colonialbewegung und klomm hier binnen kürzester Frist zu den höchsten Höhen des Erfolges empor. Meisterhaft verstand er es, seine Freunde auszunützen und ihnen dann einen Tritt zu versetzen. Intrigant vom Scheitel bis zur Sohle, liebte er die Taktik, alle Leute gegen einander zu hetzen und als beliebige Werthe auszuspielen. Vortrefflich berechnet wirkte auch sein Verhalten gegen seinen früheren herablassenden Gönner Graf Bärme. Er warf nämlich durch einen Staatsstreich diesen alten Herrn spornstreichs aus dem Vorstand der »Teutonischen Monopol-Colonial-Actiengesellschaft« hinaus, in den sich Bärme wie gewöhnlich hineingeschmuggelt hatte: Das kindliche Vergnügen, seinen Namen als Comité bei allen unpassenden Gelegenheiten gedruckt zu lesen, schien ihm gar zu süß! Sobald nun Paulus seiner kleinlichen Nachsucht Genüge gethan, hob er den Zerknirschten sammt seiner schwarzen Ledermappe huldvoll wieder auf und bugsirte ihn aufs neue an hervorragender Stelle in den Vorstand. Der[287] gräfliche Mephisto fühlte sich überwunden. Feig und demüthig dem Stärkeren gegenüber, wie alle brutalen Naturen, kroch er jetzt den großen Mann bereitwillig an und wurde sein ergebenster Sclave. Paulus brauchte einen gräflichen Namen bei seiner Actien-Unternehmung und Bärme, den er aus diesem Grunde auf allen Geschäftsreisen als Adjutanten mit sich als Bärenführer herumschleppte, sonnte sich gern in der Ruhmessonne, die den schneidigen Colonial-Pfadfinder umstrahlte. Dieser erlaubte ihm sogar, einzelne Catilinarier auf Gesellschafts-Unkosten in weißen Stoffen, als Colonialreisende auszurüsten, damit Bärme in allen Straßen das Naturwunder ausschreien konnte (auch Leonhart genoß von ihm diese werthvolle Mittheilung): Er, Bärme, rüste auf seine Kosten Reisende aus. – –

»Ich erlaube mir ...« hob der Gewaltige an, indem er sein Cognac-Gläschen grüßend gegen Leonhart schwenkte, sobald sie sich auf einem Sammetsopha des Café Boulevard niedergelassen. »Haben uns ja so lange nicht gesehn.«

»Sie sind mittlerweile ein großer Mann geworden. Dachte mir's immer. Aber eine so glänzende Carriere wie Ihre ist mir doch wirklich in meiner Praxis noch nicht vorgekommen.«

Paulus lachte kurz auf, als ob er das Gesagte für überflüssig halte. Schien ihm seine Carrière jetzt doch ganz selbstverständlich. »Und Sie, lieber Herr Leonhart? Haben indeß viel publizirt, nicht? Ach, wer kommt heut zum Lesen!«

»Das hat man schon zu Adams Zeiten gesagt, um sich zu entschuldigen!« warf jener bitter ein.[288]

»Ja, mag sein. Doch wirklich, das ist heut ein trauriger Beruf. Ich bitt' Sie, kann man denn davon leben like a gentleman? – Wissen Sie was, Sie sollten doch mal Ihre schneidige Stahlfeder in den Dienst unsrer patriotischen Sache stellen. Wollen Sie? Ich lade Sie hiermit feierlich ein, als Gast der ›Teutonischen Monopol-Kolonial-Actiengesellschaft‹«, er sättigte sich mit Behagen an dem volltönenden Titel, »bei uns in Afrika zu verweilen. Wir stellen Ihnen große Blätter zur Verfügung für Berichte. Allerdings, haha,« er zwinkerte verständnißvoll mit den Augen, »würde man von Ihrer wohlbekannten Unpartheilichkeit erwarten, daß Sie gerecht, aber wohlwollend über unsere Verhältnisse urtheilen. Natürlich unpartheilich, unpartheilich! Nun, was sagen Sie dazu?«

»Das ließe sich hören,« meinte Leonhart sinnend. Er hätte gern einmal dem ganzen Europa-Krempel Valet gesagt.

»Gut. Basta. Herr Beuthin!« Der hochgewachsene Generalsekretär der »Teutonischen Monopol-Colonial-Aktiengesellschaft« fuhr auf den herrischen Wink des kleinen Mannes zusammen, murmelte wie unbewußt »Zu Befehl« und riß eine gelbe Brieftasche heraus. »Notiren Sie! Herr Doctor Leonhart wird für uns wirken. – Ach und wie hochpoetisch!« fuhr er fort. »Diese Gebirgsscenerieen, diese Meeresufer! Sie werden dort Stoff in Fülle finden. Schreiben Sie uns ein Colonial-Epos!«

»Nicht übel!« lachte der Dichter. »›Die neuen Conquistadoren,‹ eine Heldenmär in zwölf Gesängen. Da soll[289] ich wohl mit Ihrer Expedition ins Innere beginnen, wie?« Der boshafte Klang dieser Frage entging dem Gewaltigen. Leonhart wußte nämlich, daß er gar nicht an Land gekommen und fieberkrank an Bord geblieben war, als man an der Küste in seinem Namen drauflosannektirte und »entdeckte«. Später aber, als er sich wirklich einer Expedition angeschlossen und angeblich Verträge mit Sultanen beschworen hatte, war er frühzeitig umgekehrt, weil den Strapazen nicht gewachsen. Seine Gefährten wollten sogar einen Mangel an persönlichem Muthe bei ihm bedauert haben.

Arglos schwadronirte Paulus jedoch drauf los und schloß sein Jagdlatein nochmals mit der großartigen Aufforderung: »Ein für allemal, sind Sie hiermit eingeladen. Beuthin!« Der maschinenhafte Berthier notirte gehorsam. »Tragen Sie in Ihr Merkbüchlein ein: Herr Friedrich Leonhart ist permanenter Ehrengast der ›Teutonischen Monopol-Colonial-Actiengesellschaft‹. Die Reise dorthin kostet nur 1300 Mark; noch neulich sandten wir auf unsere Kosten einen jungen Maler, um Skizzen zu entwerfen.«

»Zu Reklame-Zwecken?«

»Gewiß. Ich bin immer offen, wie Sie wissen. Sobald Sie erst bei uns in Uhahuba sind, steht Ihnen Alles zur Verfügung, Betrachten Sie sich dort wie zu Hause, mein theurer Herr Leonhart.« (Das mochte nun freilich seine Schwierigkeit haben, da überhaupt noch kein Haus in Uhahuba stand, wie Paulus am besten wußte. Das nächste Blockhaus in der Nähe eines pantherreichen Dschungels empfahl sich auch recht freundlich als[290] Sommeraufenthalt.) »Haben Sie die Sache zur genauen Kenntniß genommen, Herr Beuthin?« schnarrte er im Commandotou.

»Zu Befehl, Herr Doctor,« murmelte sein dienstbeflissener Berthier. Der Gestrenge, lächelte holdselig und schwenkte ein neues Cognacgläschen: »Ich erlaube mir ... auf Ihr Spezielles! Sagen Sie, neulich hat ja unser Freund Doctor Wurmb über Ihr neues Werk eine begeisterte Besprechung losgelassen. (Studire übrigens grade das Werk; kaufte es natürlich. Das ziemt sich. Nein, keinen Dank! Die Bücher seiner Freunde kauft man.) Freute mich recht, weil es sich um Sie handelte. War aber sonst ... hm ... nicht besonders geistreich geschrieben, wie?« Da Leonhart nicht mit der Sprache herauswollte, fuhr er eilig fort: »Nun, jedenfalls war es verdienstlich, daß er für einen Mann wie Sie in die Schranken trat. Ach ja, in all meinen praktischen Beschäftigungen beneide ich Sie um Ihre ideale Thätigkeit. Sie wissen, ich studirte früher exacte Philosophie. Noch heute brüte ich in meinen Mußestunden über die Skala der Lust- und Unlust-Empfindungen.«

»Welche sich gegenseitig aufheben.«

»Ach nein, doch wohl nicht!« Paulus stieß einen elegischen Seufzer aus. »Die Unlust-Empfindungen überwiegen durchaus.«

»Daß ich nicht wüßte! Die Unlust wird selbst zur Lust, als Bethätigung des Willens zum Leben, worin Lust und Unlust gleichwerthig. Man muß nur die Wonne des Leids in sich ausbilden.«[291]

»Sie habe ich natürlich bei meinem allgemeinen Urtheil nicht im Auge gehabt,« versetzte der Gestrenge, sich leicht verbeugend. »Schopenhauer sagt, die Genies seien stets abnorm. Sie als abnorme Natur darf ich nicht in den Kreis meiner Betrachtung ziehen.«

Leonhart stutzte zuerst, dann wollte er sich innerlich vor Lachen auf dem Fußboden rollen. Offenbar ging der praktische Cyniker von dem richtigen Grundsatz aus, daß jeder Mensch eine unglaubliche Menge Schmeichelei vertragen könne; ahnte aber bei seiner Menschenverachtung nicht, daß es auch Menschenkenner geben könne, die ihn selbst durchschauten. Doch seltsam! Während er ironisch lächelte, fühlte sich der junge Dichter dennoch angenehm von dieser geschickt applizirten Flatterduse gekitzelt.

»Bei mir,« versicherte der große Colonialpriester mit düsterem Stirnrunzeln und weltschmerzlichem Stimmfall, »überwiegen die Unlust-Empfindungen stets – soviel weiß ich. Kellner, einen Eierpunsch!«

Ei, dachte Leonhart, nachdem er aller Welt durch seine rücksichtslose Streberei Unlust-Empfindungen bereitet, sitzt er hier dick und fett am Biertisch und philosophirt über die Unlust! – Paulus schien jedoch wirklich von sentimentaler Aufwallung übermannt.

»Ach, mein Freund, schon allein ... Die Weiber!« Und nun fing er an, englisch – Leonhart, der sehr gut Englisch sprach, begünstigte diese Affektation – von seinen Liebesgeschichten erzählen. Man mußte denken, daß hier Erstaunliches vorlag, wenn man ihm Glauben schenkte. Verlobte Mädchen aus guter Familie besuchten ihn in[292] einer Wohnung und verriethen seinetwegen ihre Bräugams, Aerzte oder Assessoren – zur beliebigen Auswahl.

»Jaja«, Leonhart wiegte nachdenklich den Kopf. »Der Geist übt eben dämonische Anziehungskraft auf die Frauen aus.«

»Hm, ja, aber eben nur der praktische Geist,« schnarrte Paulus rasch, als ob er einen Eingriff in seine Privatrechte zurückweise. »Die Energie – das imponirt. Das Weib verachtet den unpraktischen Idealismus. Tata, das Dichten und Denken! Die Energie – das ist die Hauptsache.«

»Energie! Glauben Sie etwa, daß nicht die höchste Energie erforderlich ist, wie Goethe ein Leben lang die Idee des Weltwerkes ›Faust‹ mit sich herumzutragen und unablässig daran mitzureifen? Offen gestanden, wär' ich ein Genie, wie Sie sagen – kraft der inneren Untheilbarkeit des Genies, das ja Alles kann, was es anpackt möcht' ich mich dann wohl verpflichten, unfähigen Gegnern gegenüber die Campagne Bonapartes von 1796 zu leisten – aber den ›Faust‹ zu schreiben möchte wohl über meine Kräfte gehen.«

»Ah! Na! Darüber läßt sich streiten.« Paulus sprang rasch von dieser Frage ab, die ja seine Eitelkeit kaum interessiren konnte, und fing statt dessen an, eine schreckliche Mordsgeschichte zu berichten. Er theilte Leonhart im Vertrauen mit, daß er heut früh ein Duell gehabt habe. Er sei mit einer Dame, einer schönen Dame, in einem Café gewesen. Da habe ein Dandy am Nebentisch anzügliche Bemerkungen über ihn und die Dame[293] verlautbart. Er gleich hin – schneidig Rechenschaft verlangt – verweigert – Forderung – sofort am andern Morgen im Grunewald. »Und da hab ich ihm nun heut Morgen eine Kugel ins Bein geschossen!« schnarrte er, indem er zugleich eine unnachahmliche Miene des Bedauerns und gekränkter Würde annahm.

Leonhart starrte ihn sprachlos an. Glaubte der kleine Mann denn wirklich, daß solche Fabeln, die in sich als unmöglich zerfielen, Anklang finden konnten? Eigentlich lag doch eine beleidigende Geringschätzung für Den darin, dem er solche wilde Märe auftischte. Als sein Blick zugleich auf den Chef des Colonial-Generalstabs fiel, der mit gehorsamem Maschinengesicht die englische Conversation, von welcher er kein Wort verstand, über sich ergehen ließ, – ergriff den Dichter ein solcher Ekel, daß er sich plötzlich empfahl. Der große Mann biederte ihn beim Abschied verbindlich an, brach aber seinem Seïden gegenüber los: »Ist das ein widerwärtiger Mensch! Ich machte noch gestern dem Wurmb Vorstellungen, wie er den Menschen so überschätzen könne. Sein neues Buch –«

»Herr Doctor haben es gekauft?«

»Ich? Gott soll mich bewahren!«

»Aber Sie äußerten doch vorhin ...«

»Gewöhnen Sie sich dies doch endlich ab, Beuthin,« schnarrte der kleine Mann in seinem vernichtendsten Nasalton, »Sie mißverstehen mich immer. Nicht mit Augen gesehn hab' ich das dumme Buch. Dies Gedichteln überhaupt! Als ob wir nicht schon an den ollen Klassikern übergenug[294] hätten! – Uebrigens, denken Sie an meine Worte, der Mensch wird noch im Irrenhause enden. Will die Campagne von 1796 auch machen – ein Mensch, der nicht mal Militär ist. Haarsträubend! Der pure Größenwahn! – Was, wie, sind Sie nicht auch meiner Ansicht, Sie?«

»Zu Befehl, Herr Doctor,« stammelte der hochgewachsene Chef des Generalstabs mit der gelben Notiztafel, unter dem Blick seines Empereurs erzitternd in seines Nichts durchbohrendem Gefühl. Dieser aber fing in kreuzfideler Stimmung zu trällern an: »Mutter, der Mann mit dem Coaks ist da!«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Was für ein Mensch, dieser kleine Duodez-Napoleon! dachte Leonhart, indem er sich zu Haus entkleidete. Aber was für ein Beweis, wozu man es bringen kann mit Glück und strebernder Energie! Waren Napoleons Anfänge denn anders? War er minder verlogen und grundsatzlos? Ist dies nun Größe?

Und da der Dichter also sann, umspann sein Hirn ein wundersamer Traum. Gewaltig sah er an sich vorüberwallen – wie Banquo's Königsschatten, im Hermelin vermummt – die Schatten der vergangenen Thaten, die man als »Größe« pries. Doch was ist Größe?

Ihm war, als sehe er ihn vor sich, den Korsen. Bleichfarbig, hager wie dem Grab entstiegen, von Wuchs weit unter dem gewohnten Maß, von straffem Haar das Haupt umwallt, aus dem ein schicksalmächtiger Blick, dolchscharf wie blauer Stahl, dämonisch blitzt. Er ist allein[295] und hungert. Jener Name, der einst die Himmelswölbung erschüttern wird, blieb im Sturm der Zeit noch ohne Echo. Die bunte Menge rennt an Ihm vorüber, auf den einst die Aeonen schauen werden, nur verächtlich musternd die Knechtsgestalt des unbekannten Gottes.

Und dennoch ist er ja glücklich, in dem Bewußtsein innerer Allmacht groß, der kleine Bonaparte! Groß war er ja als Knabe schon, da er dem Windeswehn und Meeresrauschen der Heimathinsel lauschte – er, aller Träumer Größter, Shakespeare der That, dem all sein Leben zu einer Schicksalsdichtung ward.

Horch, wie Posaunen schmettert's durch die Lüfte! Der Aar der Weltgeschichte rauscht herab, empor aus ruhmvoller Verborgenheit reißt es den großen Unbekannten, Diogenes aus seiner Bettlertonne, empor zum Sonnenfluge Alexanders. Die Brücke Lodi's und die Brücke von Arkole zimmert er zusammen zu einer riesigen Xerxesbrücke auf der er weiter nun und weiter stürmt zum Orient-Ufer Alexandrias, wo sich sein Ahn, der Welteroberer, ihm ähnlich an Jugend und Gestalt, ein ewiges Mal gesetzt.

Marengo! jauchzt die Erde siegestoll, und dann ununterbrochen, allbetäubend, gellt der Legionen Tuba: Heil dem Cäsar! Austerlitz, Jena, Wagram, Borodino!

Ja, das ist Größe – ist dies das Glück?

Horch, welch neuer grauenvoller Ton! Ein Trauermarsch von Millionen Trommeln, gerührt von florumwundenen Schlägeln auf eisumstarrter Steppe, geleitet nun zu Grab den Kaiseraar, den mit zerfetzter Trikolorenschwinge von seiner Sonnenhöhe dasselbe Schicksal bleiern[296] niederwuchtet, das ihm zum Flug die Schwingen straffte. Das ist der Trauermarsch, der einst Beethovens Sehergeist entquoll, als ihm der allbewältigende Anblick des neugebornen corsischen Messias die »Symphonie Heroika« entpreßte. Doch da sich Jener als Judas am Ideale freier Menschlichkeit entschleierte, auf dem allein die wahre Größe wurzelt, verbannte er den Namen Bonaparte aus seiner Götter Tempel. Ob auch die Welt, die schnöd erbärmliche, die Sclavenheerde, die der Tag regiert, die früher dich mit Füßen trat, nun feige dir die Füße leckt und dich als »groß« anstaunt, du eherner Koloß – hohl bist du innen doch wie tönend Erz, du hast die Liebe nicht, die Liebe nicht, die Liebe nicht zum ewig Liebenswerthen – du bist verworfen von Schiller und Beethoven! Abtrünniger, du bist nicht groß.

Er ist nicht groß? Blickt her, ihr großen Seher, aufs ferne menschenöde Eiland, wo Prometheus einsam festgeschmiedet am Fels im Meer! Was wogt durch diese Seele wohl, bis sie gesänftigt, wie nach dem Sturm der wrackbesäte Ocean! Dies stolze unruhvolle Herz, dies Meer, in das Vulkane sich gebettet, sänftigt sich nun und dehnt sich weltenweit und ruhig wird's in ihm. Aus dem Giganten, der den Ossa auf den Pelion gethürmt, wird nun ein Gott, ein ruhig stolzer Gott, der im Bewußtsein seiner Ewigkeit mit unsterblich hehrem Leiden auf das Vergängliche herniederschaut.

Jetzt bist du groß! Wie einst der arme Unbekannte groß – jetzt, jeder Macht entkleidet, allein dem Schöpfer gegenüberstehend, allein in deiner Blöße, Mensch! Kleiner[297] war der Kaiser, als einst der arme Lieutenant. Da er auf Throne als Schemel sich stützte, als Molochgötze der Gloire, war er kleiner als jetzt, wo er einsam an dem Grabstein seiner Größe lehnte, wieder allein mit den Träumen seiner Jugend, allein mit seinem Genie. Abgefallen sind Purpurtoga und goldner Lorbeerkranz und ellenhoher Kothurn, die Rolle Cäsars ist ausgespielt. Alles Andre war nur ein Fiebertraum im Scheintraum dieses Lügenlebens. Marengo, Austerlitz – das sind nur Namen, gelallt vom Weltgeist im Delirium – Kaiserthum, Weltreich und Gloire, das Gift von Fontainebleau und Elbas Schmach, der Flug gen Notredame, der Donnerschlag von Waterloo – alles nur Schatten, die der Wahn erzeugte, Leiden und Freuden eines Fiebertraums.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Und auch aus diesem Traum fuhr der junge Dichter empor, dem Traum der Wahrheit. Verstand er die Wahrheit, die ihm aus dem Abgrund des Unbewußten mächtig entgegenquoll? Verstand er, daß Alles Irdische nichtig sei, keines Lächelns werth und keiner Thräne? Daß nur Eines wahr und echt bleibt im kreisenden Wechsel der Dinge: Das große Ich, die kleine Welt umfassend?

O hüte, hüte dich, junger Gott! so hörte er entschlummernd eine unsichtbare Stimme. Reiße dir nicht das Ewige aus wundem Herzen! Laß den Fittich deiner Seele nicht hinschleifen im Staube, nicht frech emporkriechen an deines Geistes Postament das niedere Gewürm! Sei groß! Selbst im Orkan bewahre die kalte Wonne[298] innerer Ruhe, wie Alpen ihren Schnee! Schüttle den eitlen Größenwahn ab, der die wahre Größe vergiftet! Sei groß!

Mit einem Lächeln entschlummerte der Träumer. Wie des Mondes goldiges Strahlenöl die Gewässer sänftigt, so gossen diese Gedanken Frieden in sein dunkles Sein. Noch im Schlaf trugen seine Züge den Ausdruck stolzer Unbeugsamkeit. Ein großer Mann oder ein großer Narr zu werden – beides war in seine Hand gelegt.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Rother fuhr hinein in den reinen kaltklaren Wintermorgen mit verkümmertem welken Herzen. Dem Ideale innerlichst geweiht, verdammte ihn ein Dämon, nach Sinnlichem zu schmachten. Am Abgrund taumelnd, verlor er sich selber und schleppte, gemein nun mit Gemeinem, die innere Kette seines Wahnsinns mit, wie der Galeerensclave seine Fessel. Genuß! Drängt nicht nach Genuß jedes Wesen? Und nur dem Idealisten – ach, nur ihm soll der Schmerz als Genuß genügen. Wer aller Gabea zum Genusse bar, dem blüht nur noch ein Islandmoos am Kraterrande: Entsagung.

War er denn schuldig? Hatte eigene Schuld ihn verstrickt in lächerlichen Wahn? Nein, das Schicksal einzig hatte es so gefügt, das tief in ihn gepflanzt den Keim der Leidenschaft, die selbstvernichtend zugleich vernichtet, was sie wild erstrebt.

Höre den Winterwind, wie er brausend hinheult über die öden Felder! Aus dem Schnee heben sich die dunkeln Sträucher, wie Kuchenbrocken aus einer Schicht[299] von Sahne und Zucker. Fern ist noch die lenzliche Stunde, wo diese kahlen Aeste sich mit hellgrünen Knospenspitzen besetzen werden, freundlich angelacht von der warmbestrahlenden Mittagssonne. In diese brachen Flächen, noch des Winters ganze frostige Starre athmend, werden sich kleine Inseln greller Grasstriche einsprengen. Ob auch droben in den Wipfeln noch Alles todt und kahl, drunten schießt das Gras in üppiger Fülle empor. Immer höher züngeln und klettern die Keimtriebe des Frühlings hinan, bis sie auf den Kronen der Wälder ihr grünes Laubpanier ausstecken und siegesfroh schwenken über die junge Welt. Die Sonnengluthen werden goldig glitzern, als wolle die Natur Hochzeitfackeln entzünden, und alle Vögel werden jubiliren, wenn der große Naturmaler die Palette anlegt und beginnt, die Natur zu untermalen.

Ja, das Alles wird sein. Aber noch ist er nicht da, der Frühling, noch herrscht der Winter. Der Wind heult ein Sterbelied der Vergänglichkeit in tollem Vernichtungsdrang, wo er durch ächzende Wälder psalmirt. Und im Winde vernahm Rother ein Sterberöcheln, das ihn durchschauerte wie das seiner eigenen Seele, die Selbstmord an sich beging. Ihm war, als müßte er aufschreien nach oben: O Geist der Schönheit, verlaß mich nicht! Wie flammte einst sein Herz zum Reinen empor, wie schaute er tief ins Herz des Alls! Und nun – ein Federball erbärmlicher Triebe. Das Weib, die Quelle der bösen Lust, des Satans Stellvertreterin, hatte ihn fortgedrängt vom Lichte, der Hölle zu. Wie Herodias mit des Täufers blutigem Haupt, tanzte der Liebesdämon um ihn her mit[300] seinem blutenden zuckenden Herzen, dem lebendigen Leibe entrissen.

Das Weib? War das Weib so schuldig? Hatte er sich nicht selbst entmannt? Wahnsinniger, Unglückseliger! Dein Größenwahn ist's, der sich aufbäumt gegen dein winziges Leid eines versagten Genusses? Wie Othello nährst du deine Eifersucht mit deinem beleidigten Hochmuth und möchtest schäumen wie er: »Mit meinem Lieutenant!« Was für Tugenden besitzest du denn, eitler Wurm, die dir ein Recht geben, mit Deinem Schicksal zu hadern? Laß die vergnügten Motten an der ewigen Lampe des Daseins zirpend verbrennen – du aber lerne begreifen, daß die Schläge des Schicksals den Symplegaden gleichen, den schwimmenden Felsen, von denen die Griechen fabeln: Mechanisch, von Zeit zu Zeit, klappen sie zusammen und zermalmen das Schiff, das zwischen ihnen hindurch will. Einzelvölker und Einzelleben – zermalmt, je wie es die Umstände des Zufalls wollen! Laß dein Klagen, laß dein Fragen, was du dem Schicksal gethan! Der Weltgeist, der das All durchfluthet und glorreich durch die Pulse jedes Helden strömt, hat Besseres zu thun, als sich um deine moralische Schwindsucht zu kümmern. Ueberwinde dich, unterwirf dich, und wenn du dich selber züchtigst durch deinen Größenwahn, so verstehe Ihn und danke Ihm![301]

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 2, Leipzig 1888.
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