I.

»Ja, heut ist in Calais Probeschießen mit den neuen Sprenggeschossen und dem neuen Gewehr!« erläuterte der würdige Hafenoffizial, und indem er ein prüfendes Auge auf Graf Xaver warf, der seinem Gepäckträger soeben ein überflüssig hohes Trinkgeld reichte, fügte er dienstbeflissen hinzu: »Die englischen Herren Offiziere brauchen sich blos beim Herrn Colonel zu melden, dann können sie die Revue in der Nähe besehn.«

»So?« brummte Krastinik, während sein gleichgültiger Blick über das vorbeidefilierende reitende Artillerieregiment hinglitt. »Ich bin aber keiner.« Sein zweifelhaftes Englisch bürgte auch dafür. Der Beamte verbeugte sich. Sein Irrthum mochte für die oberflächliche Beobachtung eines Franzosen verzeihlich sein. Denn Graf Xaver Krastinik schien mit peinlicher Sorgfalt möglichst englisch gekleidet, von dem glänzenden breitkrämpigen Cylinder bis zu den hackenlosen knappanschließenden Schnürenschuhen. Aber die untersetzte breitschulterige Gestalt von kaum Mittelgröße, die sonnenverbrannte Hautfarbe, die tiefliegenden[1] scharfen Augen unter hervorstehendem Knochenbau der Stirn, der röthliche Vollbart und das braunrote kurzgeschorene Haar, endlich die markirten Züge verriethen einen sarmatischen Typus. Auch soldatische Haltung konnte man unmöglich verkennen.

Die Sonne blinzelte grell auf die Bohlen der Holzbrücke, welche zur Landungsstelle, wo der Dampfer via Calais-Dover seine Opfer erwartet, hinlief. Ohnehin verdrießlich, fühlte sich der Graf peinlich berührt, als ihm der dort lauernde Beamte, ein stämmiger Kerl mit riesigem Knebelbart, die gewöhnliche Frage zuschnarrte: »Êtes vous Français?« Da der Ueberraschte nicht sogleich antwortete, fuhr der Inquisitor eindringlich in einem Athem fort: »Are you English? Votre nom, monsieur? Your name, sir?«

Geärgert über dies zudringliche Verhör, brummte der Graf zwischen den Zähnen: »My name is the devil«, was dem höflichen Franzmann, der natürlich nach zwanzigjährigem Umgang mit Engländern die insularische Barbarensprache kaum radebrechte, vollkommen genügend schien. Der Graf jedoch, der noch einen fragenden Blick wahrzunehmen glaubte, schwang sich sofort zur Höhe der Situation empor, indem er trocken beifügte: »Et je suis Allemand.«

Dies böse Wörtchen erwies sich als Zauberformel. Augenblicklich ließ man ihn passiren, indem man wie vor einem schädlichen Reptil auswich. »Allemand?! Ah! Merci, monsieur!« Der Beamte versetzte ihm einen unnachahmlichen Bückling höflicher Grobheit, wie nur Franzosen diese widersprechende Mischung zu bereiten wissen,[2] indem er wüthend seinen Schnauzbart und hernach noch unbarmherziger seinen Henri-Quatre am Kinn zwirbelte, Krastinik lächelte höhnisch.

Die Ueberfahrt erfolgte mit frischer Brise, die See ging bewegt, ein Mousselin-Flor von Schaum kräuselte sich über ihren wogenden Busen, die Stöße kamen ruckweise. Eine Ammensage behauptet, daß selbst englische Admiräle seekrank würden, sobald sie den Kanal passirten. So wunderte sich denn Graf Xaver, der weder die weithinschwingenden vollausgetragenen Wogen des Oceans noch das wilde Rütteln der skandinavischen Nordsee kannte, nicht wenig, daß er als Landratte gelassen betrachten durfte, wie die schwarzhäutigen und gallig-gallischen Phystognomieen allmählich nacheinander ins Grünliche schillerten.

Ein Chor barmherziger Schwestern saß allda, jede mit einem Napf in fromm gefalteten Händen, als beteten sie einen Rosenkranz. Alles spuckte und spokte durcheinander. Man verschwand und ward nicht mehr gesehn. Baß erstaunte der Osterreicher, als sogar die blondfleischigen oder blondbleichen Gesichter Albions sich zusehends verzerrten, um dem Neptun Weihrauchopfer zu bringen, während nur einige deutsche Wollhändler, wie massive Blöcke in der Brandung, unerschütterlich Stand hielten. Einer derselben belehrte Krastinik scharfsinnig darüber, daß insulare Lage und jeweilige Seefahrerei nichts gegen die Seekrankheit fruchte, für welche die englischen Mägen durch heiß verschlungenen Pudding und anhaltende Brandybegießung veranlagt seien. Erst als die gleichsam übereinander stehenden Segel der zahllosen, den Kanal passirenden[3] Schiffe am Horizont unterduckten und die runden Thürme von Dover emportauchten, fühlte Xaver die erste Beklemmung. Denn angesichts des Shakespeare-Cliffs und der andern Kreideriffe, die hier als Panzerbrünne die meerbeherrschende Brunhild Albion umgürten, entwickelten sich vor seinen Augen verschiedene innere Krämpfe – die Wellen brachen sich plötzlich mit besonderer Heftigkeit. Er erprobte jene schlimmste Spielart der Seekrankheit, die kurz vorm Landen anhebt und drum auf dem Lande noch tagelang fortdauert.

Wie schwach wurde ihm aber erst zu Muth, als ihm an der Landungstreppe die wie Befehle klingenden Fragen der wachthabenden Matrosen entgegensprudelten: »Charing Croß, Victoria Station, Ludgate Hille, Cannon Street?«

Nur mit Mühe begriff er den Sinn dieser Namen der vier Haupteisenbahnstationen der Metropolis. Die verwirrende Schnelligkeit der Aussprache glich sehr wenig der gemütlichen Conversation seines englischen Sprachlehrers in Wien. Mit rasender Hast in einen Waggon des Charingeroß-Zuges gedrängt, fühlte er sich alsbald, während die drei andern, am Strande dicht aneinander gepreßten, Züge zugleich losstarteten, wie mit Riesenhaken über Thal und Höhen hingerissen. War es doch der »Infernal Train«, der »Höllenzug« der Chatam-Dover-Bahn!

Die unerträgliche Hitze, das Ueberhasten mit der »Halben« Bordeaux und dem halben Huhn in Calais, die Jähe und Fremdartigkeit der wechselnden Bilder, die Hatz der unablässig weiterrasenden Lokomotive wirkten zusammen. Krastiniks röthlichbrauner Teint spielte ins[4] Purpurne hinüber. Auf seiner breiten braunen Stirn, von der die Schweißtropfen perlten, traten die Adern hervor. Er bekam Nasenbluten. Indem er sich abwechselnd die Nase und die Stirn trocknete, verschwamm ihm Alles in einer unbestimmten Beleuchtung. Wie durch einen Nebel hindurch, sah er die feinen Züge und die elegante Haltung der englischen Damen, die ihm einer ganz andern höheren Race als auf dem Continent anzugehören schienen, und die nach deutschen Begriffen auffallende schweigende Galanterie der Männer. Wie durch einen Nebel hindurch, hörte er Englisch und Französisch wie eine Sprache durcheinanderparliren. Zeigt sich doch die innere unzerstörbare Entente cordiale der zwei Westmacht-Völker und ihr kaltverächtliches sich Abschließen gegen alle andern Nationalitäten nirgends so deutlich, wie auf der Reiseroute Paris-London.

Ein Ruck weckte ihn aus seinen bewußtlosen Betrachtungen auf – stop! Charing Croß!

Nachdem er noch während des Gepäck-Wartens die unheimliche Spionage eines zweideutig aussehenden Männchens, offenbar Detectiv, ausgehalten hatte, der in ihm eine Aehnlichkeit mit irgend einem Industrieritter zu wittern schien, aber durch seine hülflose Miene inmitten des ungeheuren Wirrwarrs dieser Centralstation vom Gegenteil überzeugt wurde – gelang es ihm überraschend gut, mit Zöllnern, Gepäckträgern, Cabmen fertig zu werden. Wider alles Erwarten ging ihm sein notdürftiges Stuben-Englisch glatt von der Zunge und sein durch die Aufregung geschärftes Ohr verstand die rapide Sprechweise[5] des Londoner Cockney's ganz wohl. Auch als er seine Empfehlungskarte an den Besitzer eines vornehmen Privathotels in Piccadilly abgab, ging ihm die Rede erträglich von Statten. Zu seinem Mißvergnügen bemerkte er nur, daß der Millionär vor seinem continentalen Grafentitel wenig Ehrfurcht zu empfinden schien und daß auch dieser Busineß-Mann gentlemanlike Formen entwickelte. Wie viele Märchen hatte Graf Xaver, der in der Jugend nie über die Güter seiner Familie in Ungarn und später als Offizier nie über die engere österreichische Heimat hinausgekommen war, aus dieser Reise berichtigen müssen! Schon auf dem Bahnhof in Verviers fielen ihm kolossale massige Wallonen und lange martialische Franzosen ins Auge. War das die angeblich schwächer gebaute und zierliche Romanische Race? In Nordfrankreich sahen die Leute fast germanischer aus und zeigten eine frischere Hautfarbe als die Briten. Und diese Letzteren, die man ihm als schlenkernde Hopfenstangen ohne Manieren geschildert hatte, entpuppten sich schon beim ersten Eindruck als Gentlemen von wahrhaft musterhaftem Benehmen und zuvorkommender Höflichkeit, wie man sie selten auf dem Continente findet.

Als er das breite Trottoir von Piccadilly behaglich hinunterschlenderte, um seinen ersten Abend auszunutzen, machte ein hinter ihm gehender Herr ihn mit höflichem Ernst darauf aufmerksam, daß seine Cravatte sich verschoben habe, nickte aber nur freundlich, als Krastinik dankend den Hut zog. Erst stutzte dieser – gewöhnte sich aber durch Beobachtung bald an den englischen Gruß des nicht-Hutziehens, statt dessen man den unentbehrlichen[6] Regenschirm, der selbst bei schönstem Wetter hier nie daheim bleibt, zur Hutkrempe erhebt. – Später auf dem Oberdeck des ungeheuren blaugelben Omnibus, den er für eine Strecke bestieg, bot sein Nebenmann ihm freiwillig seine Lucifer-Matches an, als er Krastinik's Cigarrenbedürfniß merkte. Der biedre Graf verliebte sich auf den ersten Blick in die englische Nation. Allerdings, am Anfang, als er zu Charing Croß ins Freie gelangte, war ihm beklommen zu Muth gewesen, als das Brausen des Weltverkehrs immer höher anschwellend an sein Ohr schlug. Da kreuzten sich mit gellem Pfiff die Themsedampfer: ihr zischendes Schaufeln stimmte ein in das Poltern der Omnibusse, mit riesigen Pecheronpferden davor auf Trafalgar Square. Ueber den Dächern schnaubte das Dampfroß; hin mit flatternder Dunstmähne, unter der Erde donnerten seine ehernen Hufe. Und wie von hohem Riff, starrt Nelson von seiner Säule in den Menschenstendel hinab, der das schwache Einzelschiff mitleidlos umherschleudert, wo Parliamentstreet ihren Strom von Wagen und Fußgängern auf den Trafalgar Square ergießt.

Auch hier im vornehmen Westend fehlte es ja nicht an wirbelndem Drang. Wo Piccadilly mündet, bei Oxford Circus konnte Krastinik bewundern, wie der weise Policemen nur mit der Beredsamkeit seiner Blicke und Handbewegungen unauflösliche Wagenknäuel entwirrt. Aber rückwärts schlendernd, empfing den Neuling die vornehme Ruhe von Pall Mall. An der Terrasse, die zum St. James'-Park hinabführt, sah er Müssiggänger vom feinsten »Ton«[7] gähnend und rauchend lehnen, unschlüssig, ob sie die Clubs mit ihrer Gegenwart beglücken oder im Criterion-Theater schneidige Klatschworte mit gleichgestimmten Seelen austauschen sollten. Einige junge Fähnriche von der Garde in ihren enganliegenden Rothjacken, die Mützen aufs Ohr gestülpt wie studentische Cereviskappen, die Reitgerte unter den Arm gesteckt, Brust heraus, Kopf zurück, wandeln mit wehenden Schnurrbärten als triumphirende Ladies-Killer gen Regentstreet.

Wie die aristokratische Schönheit sich erst beim Kerzenlicht in voller Toilette zeigt, so strahlt London erst in der Nacht im Diadem seiner Gasflammen. Das ist die Zeit des Westend, wie der Mittag die Zeit der City. Und je trüber und rauher die Nacht, um so heller leuchten, um so wohnlicher winken Häuser und Läden. Die City wimmelt von Clerks und Ladendienern, die soeben ihre methodische Arbeit mit dem Glockenschlag geschlossen haben.

Vor den Theatern bummeln Leute, die zum ersten Mal diese Tempel besuchen und mit höchster Aengstlichkeit sich ein Billet sichern wollen. Die Dining-Parlours sind zum Brechen voll, lustig knistert das Feuer im Kamin und der göttliche Duft solider Dinners verbreitet sich durch ganz Regentstreet und Piccadilly, zum Aerger müder und hungriger Wanderer. Ganz Soho und Seven Dials lehnt an den Hausthüren, unter stillem Genuß sogenannter Havannahs. Die Leute von Coventgarden vor der Italienischen Oper setzen jedem ein Textbuch auf die Brust. In den Vorstädten geht man nachbaren, »Biere« und[8] »Kuchen« wandeln durch Southwark. Die Policemen rücken in geschlossener Colonne, in ihre Nachtmäntel und ahnungsvolles Schweigen gehüllt, nach der City ab, um die leeren Shops zu bewachen. In Little Russel Street wird der erste betrunkene Kutscher aus seiner Inn hinausgeworfen. Die Kellner im Café Monico wissen nicht, wie sie diese Menschenmasse bedienen sollen; in den kleineren Cafés sitzt ein Kreis von Gentlemen comfortabel vorm Feuer und vierten Glase Sherry bei zugezogenen Fenstervorhängen. Cromwell-, Brompton-, Glosterroad scheinen durch Wagenmassen abgesperrt, bei Oxford Circus herrscht babylonische Sprachverwirrung und kein rother Omnibusconducteur versteht die Injurien seines blauen Rivalen. Ein schwüler Dunst von Parfüm, Cigarren und Champagner verbreitet sich über Haymarket: die nächtliche Lustbörse, mit bestimmtem Cours und nach Nationalitäten geordnet, wie die wirkliche Börse in Lombard-Street.

»Das Licht brennt blau, ist's nicht um Mitternacht?« citirte Krastinik vor sich hin. Ja, die Stunde der Geister und Gauner brach an, und ohne dem gedruckten Sirenengesange eines »wandelnden Mannes« zu folgen, der noch so spät die Annonce auf dem Rücken spazieren trug, daß in Cremorne Gardens zum unwiderruflich letzten Mal Fandango in türkischen Hosen getanzt werde, suchte der müde Fremdling sein Lager auf.

Schon früh am andern Morgen gürtete er seine Lenden, zu wandeln von Dan bis Bersaba. Piccadilly, das gestern Abend den koketten Putz seiner glänzenden Läden entfaltet hatte, athmete jetzt Frische und Lebendigkeit,[9] wie eine junge Landpomeranze in ihrer ersten Season. Auf frisch begossenen Trottoirs zog eine Karawane von Landmädchen nach Conventgarden-Markt hinauf, Früchte und Blumen und Gemüse bringend. Der feuchte Duft des Green- und Hyde-Park reinigte die Luft, die noch nicht vom Straßenverkehr durchseucht. Milchhändler begannen ihr eintöniges Geschrei, Fleischerkarren rasselten gen Tottenham Court Road, Fischverkäufer marschirten von der Themseseite her heran. Die unvermeidlichen Stiefelputzer-Boys in rother Jacke postirten sich bereits an den Straßenecken, um jeden Vorübergehenden mit der Bürste und flehendem Penny-Blick anzufallen. Einige Straßenjungen gaben ihre Anerkennung der ausgestellten Eßwaaren so unzweideutig zu erkennen, wo Auster- und Pastetenhändler ein Straßenfrühstück feilboten, daß man ehrenrührige Strafen an ihnen vollziehen mußte. Durch den Marmorbogen des Hyde-Park, wo als Schildwach der eiserne Herzog Wellington auf eisernem Roß herniederstarrt, flutheten morgendliche Spaziergänger, Maiglöckchen im Knopfloch, den gelben Olivenstock als Gruß-Stange benutzend. Knallrothe Handschuhe mit breiten schwarzen Streifen schienen Mode – es fiel dem Oesterreicher schwer aufs Herz, daß er dieselben an seinem sonst tadellosen Anzug vermißte.

Welch endlose Schnur von Roß und Reisigen! Blaue Bänder, gleich Preußens loyalen Kornblumen, verkünden, daß man zu St. Sport von Epsom, dem Nationalheiligen, wallfahrte. Heut war Derbytag. Ganz England scheint solches Rennen nach einem geschäftsmäßig,[10] Uhr in der Hand, erledigten Pensum Vergnügen.

Krastinik bummelte noch eine Zeitlang hin und her, über Knightsbridge nach Brompton hinein. Die vielen Fisch- und Fleischbuden legten soeben ihre Waaren aus. Dieselben verbreiteten jedoch einen solchen Blut-und Salzgeruch und die Verkäufergruppen brüllten mit ihren Stentorkehren den eleganten Spaziergänger so mißtönig an, indem sie mit ihren nervigen nackten Armen und blutigen Schürzen wenig appetitliche lebende Bilder stellten, – daß Xaver sich hülfeflehend nach einem Cab umsah, das langsam vorbeitrottete. Kaum hatte das immer wache Auge des Rosselenkers ihn erspäht, als auch der Peitschenstiel sich senkrecht in die Lüfte erhob zum Zeichen der Verständigung, worauf mit einem kräftigen, »All right, Sir!« der hübsche rothgrünbemalte zweiräderige Hansom heranschoß. »Das geht fixer, wie die faulen Fiaker und Droschken des Kontinents!« dachte der Oesterreicher; laut wies er den Cabman an, ihn nach »Bolton's Terrace« zu fahren. Es dauerte jedoch eine Weile, eh ihn der Mann verstand. Endlich rief er: »Ah, to Bolton's, I see«, indem er »Boltons« wie »Baltons« aussprach. Noch blieben dem Fremden die Geheimnisse des Cockney-Slang verschlossen, wonach »paper« wie »piper« und »James« wie »Jimes« lautet. – Dies war also Bolton's Terasse. Eine nette freundliche Straße mit kleinen Vorgärtchen, jedes Haus mit einer kurzen Treppe und zwei Säulen an der Thür versehen. Alles so glatt, reinlich, frisch, wie ein Sinnbild des englischen Comfort.[11]

Als er vor einem der Häuser das Cab entließ und die Treppe hinanstieg, öffnete sich die Hausthür von selbst und ein alter Herr, groß, aber von etwas gebückter Haltung, trat ihm entgegen. Beide umarmten sich.

»My dear fellow«, rief Lord Dorrington fröhlich, »das ist gut, daß Du da bist. Ich sah Dich vom Erdgeschoß aus, wo wir essen, der Kühle wegen. Komm nur gleich hinunter, Lady Dorrington wird sich sehr freuen.« Er hatte dies alles Deutsch gesagt, unterbrach sich aber: »But English is better for you!« und unterzog sich von nun ab der Mühe, das Kauderwelsch des radebrechenden Fremdlings zu verstehen und zu corrigiren.

Ein Blick in das edle Auge des altes Mannes genügte. Man erkannte sofort in ihm einen jener seltenen Menschen, denen stete Rücksichtnahme auf Andere, philanthropische Humanität, zur andern Natur geworden.

Ein Abglanz dieses Wohlwollens hatte sich sogar den un-englischen Zügen seiner Gattin eingeprägt, so völlig sie von dem vornehmen Race-Typus des Lords abstach. Obschon ihr Haar ergraut, schien die stattliche Matrone eine scharfe Beobachtung der Lebensverhältnisse bewahrt zu haben. Ganz Weltdame.

Sie begrüßte Xaver mit Wärme. Dieser küßte ihr ehrerbietig die Hand. »Darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen, gnädige Tante?«

»Danke, lieber Cousin,« erwiderte sie mit stark österreichischem Accent. »Ich lebe ja nun schon so lange in England, daß ich mich völlig acclimatisirte. Also willkommen hier! Ich sah Sie nicht, seit Sie so groß waren.«[12]

Sie bezeichnete eine Minimal-Höhe mit der Hand. »Was macht Ihr Bruder, der Majoratsherr?«

»Er sendet Lady Dorrington, geborene Gräfin Krastinik, seine verbindlichste Empfehlung. Uebrigens sehe ich ihn sehr selten. Wir haben verschiedene Neigungen. Er betreibt auf seinen Gütern in Ungarn den edeln Sport der Fuchsjagd. Ich schwitze in meiner Garnison als Kavallerieoffizier. Sie wissen, ich bin kürzlich übergetreten – war früher Ingenieurhauptmann, weil ich mich mit Leib und Seele für Kriegswissenschaft interessiere. Aber es ging halt nicht mehr; meine Familie meinte, ein Krastinik gehöre nur in die Kavallerie. Das allein sei ritterlich, ich dürfe doch nicht als bewaffneter Bücherwurm hinvegetieren. Auch reizte mich selbst der noble Pferde-Sport (ich bin ein wenig romantisch, gnädige Tante) – kurz, so wäre ich denn Rittmeister.«

»Wie lange hast Du Urlaub?« fragte Dorrington.

»Auf unbestimmte Zeit. Ich muß mich einmal auslüften. Man verbauert ganz. Und da hab' ich denn London als Ziel meiner Reise gewählt, weil Ihr ja so gütig waret, mich wiederholt anzufordern.«

»Sie sind hier zu Haus, lieber Neffe!«

»Das versteht sich,« rief der alte Lord. »Dein Vater, der General, war der Intimus meiner Jugend, als ich noch als Attaché bei der britischen Gesandtschaft in Wien stand. Ich betrachte Dich wie einen Sohn.«

»Ja und deswegen,« fiel die praktische Lady ein, »wollen wir uns auch mal ein wenig mit Ihrer Zukunft beschäftigen. Wie geht's Ihnen denn?«[13]

»Schlecht und recht, wie ein armer jüngerer Sohn es verlangen kann.« Xaver zuckte mit vielsagendem Lächeln die Achseln.

»Oho, so! Nun, um Ihre Verhältnisse aufzubessern, wäre ja doch das Bequemste eine reiche Heirath. Wie, mon cher, sollten Sie nicht daran gedacht haben, als Sie nach England gingen?«

Er machte eine abwehrende Bewegung. »O nein. So sehr dies wünschenswerth wäre, verkaufen mag ich mich nicht!«

Lady Dorrington hob mit komischem Erstaunen beide Hände empor. »Verkaufen! Welch' ein Wort! Sie sollen eben thun, wie tout le monde! Nur ruhig, Lieber, wir werden das schon in die Hand nehmen. Ueberlassen Sie das meinem Takt!«

Xaver küßte ihr verbindlich die Hand. »Wie soll ich Ihnen danken für das Interesse, gnädige Tante, das Sie mir entgegenbringen! Doch fürs erste.. übrigens wird das wohl auch kaum so leicht sein wie Sie denken.«

»Das überlasse man mir! Ich denke doch, einem Grafen Krastinik stehen alle Pforten offen!« Und Lady Dorrington warf stolz das Haupt in den Nacken, als wäre sie der vereidigte und patentirte Anwalt für alle Generationen Derer von Krastinik. »Apropos, haben Sie viele ›introductions‹ nach London mitgebracht?«

»Nicht eine. All solche Pläne lagen mir ja ohnehin fern. Ich will nur einen Monat hier zubringen, um mich zu erholen – das ist Alles. Ich gedenke gar nicht, mich wieder in die Gesellschaft einzupferchen. Und im Sommer[14] obendrein, wo sonst in ganz Europa die Saison längst endet! Wie drollig verschieden hier alles doch ist!«

Lord Dorrington lachte leicht auf, die Lady lächelte. »Nehmen Sie gleich einen Hinweis und guten Rath, lieber Xaver: Finden Sie nichts ›drollig‹, was ihnen hier auffällt. Das wäre in England der gröbste Verstoß. Bedenken Sie, daß gerade den Engländern alles ›drollig‹, vorkommt, was sie auf dem Continent sehen! Und jeder Brite nimmt stillschweigend an, daß man seine Sitten als etwas Superiores ehrt und anerkennt. – Nun, wir werden Sie schon in gute Gesellschaft bringen.«

»George, my dear,« wandte sie sich an ihren Gatten, »Nächsten Sonnabend ist eine ›Garten-Parthie‹ bei Egremonts. Sorgen wir dafür, daß unser Freund eine Einladung erhält, nicht?«

»Aha!« machte der Lord, indem er verschmitzt ein Auge zudrückte.

»Well. Das soll geschehn.«

Der Graf verbeugte sich. Seine vornehme Reservirtheit verbot ihm, sich näher zu erkundigen, wer »Egremonts« seien. »Ich nehme das dankbar an. Heut Nachmittag will ich noch eine Karte bei unserem Botschafter abgeben; dann ist mein gesellschaftliches Tagewerk fürs erste gethan.«

Man unterhielt sich eine Weile über allgemeine Gegenstände. Es zeigte sich, daß der schneidige Kavallerist neben der gebräuchlichen Theilnahme für Pferde und Wettrennen als begeisterter Amateur der Musik und besonders der schönen Litteratur seine freien Stunden widmete. Als er jedoch seiner Landsmännin ein Ungarisches Lied[15] vorsingen wollte und sie eifrig dabei accompagnirte, schienen ihre beiderseitigen Sprachkenntnisse im Magyarischen nur mangelhaft entwickelt. Hatten sie doch ihr Lebenlang nur Deutsch gesprochen und auf ihren ungarischen Gütern selten verkehrt. Dies hinderte aber nicht, daß sie völlig darüber d'accord waren, die Deutschen seien eine maßlos arrogante und rohe Nation, welche gedemüthigt werden müsse.

»Die armen Franzosen!« seufzte Lady Dorrington wehmüthig. »Bismarck wollte Deutschland einen – und dafür mußten die Franzosen bluten. Und jetzt droht er schon wieder! Dies Deutschland will nie Frieden halten.«

»Hm!« Der alte Lord runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Sein englisches Gerechtigkeitsgefühl bäumte sich auf. Er vermied jedoch, mit seiner Frau, deren Bruder bei Königsgrätz als Divisionär gefallen war, über diesen Punkt zu rechten.

Lady Dorrington mußte sich verabschieden, um eine nothwendige Visite zu machen. Die beiden Männer plauderten bei einer Flasche Portwein und griechischen Cigaretten im Bibliothekzimmer weiter. Allerlei schnurrige und ernste Erinnerungen erwachten bei dem alten Herrn, aus der Zeit seines Aufenthalts in Wien, wo er als flotter Lebemann geglänzt hatte. Er erkundigte sich angelegentlich, ob die österreichischen Damen der großen Welt noch immer so naiv-liederlich seien. So gab er eine Anekdote zum besten, wie in einem gewissen Badeort die Damen am Fenster durch Operngucker zugesehen hätten, wie ihre Herren im See badeten. Dabei hatte die schöne[16] Gräfin Mizi.., die in dem Rufe stand, systematisch ihre Liebhaber zu wechseln, naiv ausgerufen: »O, dies Jahr nehme ich Dorrington!« Man mochte wohl glauben, daß er früher ein sehr schöner Mann gewesen sei – noch die Ruine wies darauf hin. Der gute alte Herr kicherte behaglich mit wohlwollender Theilname für die menschliche Schwäche. »Die Arme! Sie ist nun auch schon lange todt!«

Allein, er wußte auch ernstere Details aus seiner diplomatischen Carrière zu erzählen. Hatte er sogar Metternich noch gut gekannt, der ihm echten Johannisberger oftmals vorgesetzt hatte. Auf den ließ er nichts kommen. Beeinflussen die persönlichen Verbindungen doch stets das objektive Urteil auch bei urteilsfähigen Geistern.

Und Lord Dorrington war ein Urteilsfähiger. Seine diplomatischen Spielereien lagen lange hinter ihm. Jetzt hatte er sich der Wissenschaft gewidmet und der Litteratur. In seinem Bibliothekzimmer hingen eine Reihe interessanter Zeichnungen und Portraits von berühmten Dichtern aus jener großen Epoche der englischen Litteratur zu Anfang des Jahrhunderts, die er in früher Jugend noch miterleben durfte und aus welcher er viele Autographen bewahrte. Als Xaver mit augenscheinlichem Eifer diese Sammlungen besichtigte, rief Dorrington, nachdem er ihn eine Zeitlang aufmerksam betrachtet hatte, plötzlich: »Et tu, Brute? Du bist ja auch ein Poet?«

Der k.k. Rittmeister ward dunkelroth. »Ich – ein Poet?« stammelte er. »Wie – kommen Sie darauf?«

»O! Ich lasse mich nicht beirren. Beichte mal: Bist Du nicht schon öfters mit dem Pegasus gestürzt?«[17]

»Ich kann nicht leugnen..« machte Jener zögernd.

»Siehst Du wohl!«

»Aber wie.. errathen Sie das?«

»O ganz einfach. Ich bin nämlich ein ganz altmodischer alter Kerl und huldige immer noch fanatisch der Gall'schen Schädeltheorie, die jetzt ein überwundener Standpunkt sein soll. Ja ja, ich bin bekannt und gefürchtet ob meiner Manie, die Schädel zu untersuchen. Und doch hab' ich mich nie getäuscht. Habe Disraelis Schädel untersucht und Gladstones, und habe immer gesagt, daß trotz seiner Charakterfehler Disraeli noch die noblere Natur von den Beiden sei. Da haben wir ja jetzt seit lange die Bescheerung mit diesem Gladstone! Dieser eitle quack, dieser Charlatan und Doktrinär!« Er schimpfte noch eine Zeitlang auf den »Verräter«, dessen Haltung in der Irischen Frage ihn als Briten der alten Schule entrüstete.

»Und.. und,« warf Xaver hin, der sehr aufmerksam zuhörte. »Bei mir wollen Sie erkannt haben ...«

»Und ob! Hier der Winkel an den Schläfen über den Augen, der Schnitt der Augenbrauen.. laß mich mal Deinen Kopf untersuchen!«

Halb lachend, halb interessirt, gab Jener seine Zustimmung. Dorrington betastete seinen Hinterkopf genau, brummte eine Menge psychologisch – physiologisch – physiognomischer Lehrsätze durcheinander und constatirte aus einer Reihe phrenologischer Dokumente: »Zweifellos ein stark receptives, doch auch productives ästhetisches Organ vorhanden.« Er[18] verbreitete sich noch lange über diesen Punkt. Xaver war auffallend still geworden.


»Ein Dichter!« sang es in ihm, als er nach Hause schritt. »Ein Dichter!« schien das Echo seiner Tritte zu wiederholen, als er mit unbewußt leichterem und stärkerem Schritt wie ein Triumphator dahinwandelte. Hatte er doch stets geahnt, daß etwas Besonderes in ihm schlummere. Stets war er einsam seinen Pfad fürbaß gewandelt. Auf der Kriegsschule hänselte man ihn als sauertöpfisch; später beim Regiment galt er als ein Gentleman und als tüchtiger Offizier, streng im Dienst, aber im Offizier-Casino zählte er durchaus nicht zu den beliebten Mitgliedern. Die Damen fanden ihn interessant, aber etwas steif. Ein paar Verhältnisse mit Damen der Aristokratie (dem Theater und Ballet hielt er sich fern, schon seiner beengten Geldverhältnisse wegen) hatte er gelöst, ohne dabei sein Herz beschwert zu finden. Immer suchte er etwas, was ihm seine Umgebung nicht bieten konnte »Ich habe manchmal auch meine idealen Stunden,« entgegnete er einmal bitter einem Componisten, der ihm vorgestellt wurde und der wie üblich von der Vereinsamung des Künstlers in der rohen Welt jammerte. – Ein Dichter! So mußte es sein.

Noch Abends beim Dinner im St. James Restaurant, wo er, das Parisian Dinner zu 5 Shilling verschmähend, für 3 Shilling ein opulentes Table d' hôte zu den Klängen einer Musikkapelle einnahm, grübelte er über dies[19] Thema weiter. Es beschäftigte ihn so, daß er erst am andern Tage dazu kam, beim Botschafter vorzusprechen.

Dieser empfing ihn mit der Auszeichnung, die einem Krastinik gebührte (selbst wenn dieser halt nur ein jüngerer Sohn war) und stellte sich völlig zu seiner Disposition, wenn er ihm mit etwas dienen könne. »Wünschen Sie vielleicht bei Hofe vorgestellt zu sein, mein theurer Graf?«

»Excellenz verzeihen, wenn ich auf die hohe Ehre verzichte. Ich bin gleichsam auf der Durchreise in London..«

»Gleichsam incognito. Verstehe.« Excellenz sagten das mit einer so eingefleischt wichtigen Amtsmiene, als ob hinter diesem »Verstehen« ein wichtiges diplomatisches Geheimniß stecke. »Aber in die Gesellschaft wünschen Sie doch wohl eingeführt zu werden?«

Auch dies lehnte Krastinik ab. Als der verwunderte Gesandte aber in ihn drang, wenigstens den Rout der herrschenden Saison-Schönheit mitzumachen, der demnächst stattfinde – er sehe die Herzogin noch heut Abend und verbürge sich für sofortige Einladung –, sagte er zu.

Sie plauderten noch einige Zeit über – Nichts, wie nur geborene Aristokraten dieses vornehme Tätteln in anmuthiger Ungezwungenheit verstehn.

Zum Abschied empfahl ihm der Vertreter der vierten Großmacht, doch ja das Kochbuch seines verehrten Kollegen, des deutschen Botschafters Graf Münster, zu studiren. Krastinik fühlte sich befriedigt, als er die Marmorstufen hinabschritt, daß er diese lästige Pflicht erfüllt hatte.

Seufzenden Herzens machte er sich sodann gen[20] Regentsstreet auf und verfügte sich zu Nicoll's, um einen Frack nach Londoner Schnitt mit Seidenaufschlägen zu erwerben, die man dort vorräthig findet für jedes erdenkliche Leibesmaß.

Mit dem stolzen Bewußtsein, daß der Prinz von Wales einen ähnlichen Frack mit seinem allerhöchsten Geschmack zu beehren geruht habe, wie wenigstens der Atelier-Maitre versicherte, kehrte er heim.

Düster philosophirte er über die Häßlichkeit dieses Kleidungsstücks, indem er sich im Spiegel musterte. Dabei ertappte er sich bei dem Gedanken, der ihm blitzschnell durchs Gehirn huschte: »Dichter sollten sich poetischer kleiden!«

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 1, Leipzig 1888, S. 1-21.
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