An die Weisheit

[22] Holde Himmelstochter, deren Klarheit

Jeden Geist, der frei ist, an sich zieht,[22]

Allgetreue Führerin zur Wahrheit,

Die den Sterblichen bald äfft, bald flieht!


Licht, von dessen Strahl die Seele lebet,

Sonne der gesammten Geisterwelt,

Du, zu der der Adler in uns strebet,

Den die Hülle noch gefangen hält!


Du, die man seit Menschenangedenken

Als ein Weib im Ritterschmuck verehrt,

Das mit männlichfestem Ernst uns – denken,

Und mit Weibesinbrunst – lieben lehrt!


Deren Schild die Schlangenbrut gedämpfet,

Die der schwache Mensch im Busen nährt,

Deren Lanze gegen Drachen kämpfet,

Die der blöde Geist auf Knieen ehrt!


Deren Aug', an Sonnenglanz gewöhnet,

Nie vor einem Strahl der Wahrheit bricht,

Und dem Geist, der zu erblinden wähnet,

Winkt: Blick auf, die Wahrheit blendet nicht!


Dich, o Göttin! die wir Weisheit nennen,

Sucht sich unser reger Geist zur Braut;

Aber wird er dich erreichen können,

Dich, vor deren Höh' dem Blicke graut?


In dem Dunkel dieses Erdenlebens

Rangen Viele schon nach deinem Licht,

Aber ach! sie mühten sich vergebens,

Denn, wo sie dich suchten, warst du nicht.


Mit dir prangten Griechenlands Sophisten,

Glaubten sich bereits auf deiner Spur;

Aber ihre Kunst war Ueberlisten

Wo du leuchtest, blendeten sie nur.


Um den Geist an deinem Blick' zu sonnen,

Sperrte Diogen i'ns Faß sich ein;

Doch die Weisheit wohnet nicht in Tonnen,

Denn der Weise lebt sich nicht allein.
[23]

And're suchten dich in heissen Wüsten,

Streiften da den Menschen von sich ab,

Harrten, wachten, fasteten und büßten,

Und bereiteten dem Geist sein Grab.


Doch du wohntest nicht in einem Lande,

Wo der Geist mit Hirngespinnsten focht,

Und bliebst fern von einer trägen Bande,

Die der Menschheit nichts – als Körbe flocht.


And're suchten dich im Land der Sterne,

Gingen über Wolken hoch einher,

Und vergassen in erträumter Ferne

Sich und and're Menschen um sich her.


Viele wähnten in der Hieroglyphen

Räthselhaften Nacht dich eingehüllt;

Doch sie irrten, denn vergebens griffen

Sie im Finstern nach der Sonne Bild.


Wir auch, Göttin, streben dir entgegen,

Wir auch folgen deiner lichten Spur,

Aber nicht auf allen diesen Wegen,

Auf dem offnen Pfade der Natur.


Hör' uns, Göttin, wenn wir hier auf Erden

Auf zu dir um Selbsterkenntniß fleh'n,

Laß es Tag in unserm Innern werden,

Daß wir alle uns're Flecken seh'n!


Laß der Menschen Herz sich uns entfalten,

Schütz' es vor Betrug und Heuchelei,

Daß der Mensch in allen den Gestalten,

Die Natur ihm gab, uns heilig sei!


Laß uns nie der Dummheit Tempel bauen,

Lehre der Gewalt uns wiedersteh'n,

Laß den Heuchler durch und durch uns schauen,

Und der Bosheit Schlangengang uns seh'n!


Laß uns hier in einem Bund vereinet,

Helfen, wo der Mensch den Menschen plagt,[24]

Laß uns hören, wo die Unschuld weinet,

Und die Schwäche über Stärke klagt!


Laß', o laß' der Menschheit Wohl uns gründen,

Sie verehren in dem kleinsten Glied,

Und den Friedenszweig um's Haupt ihr winden,

Der in deinen Händen nie verblüht.

Quelle:
Aloys Blumauer: Sämmtliche Gedichte. München 1830, S. 22-25.
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