Neunte Szene

[28] Vorige – Ottilie.


OTTILIE. Ja, wie ist denn das möglich?

GIESECKE. Ich hätt' es ja nicht nötig gehabt, nachzugeben – aber was soll ich mich erst mit dem Herrn in einen Streit einlassen! Dazu sind wir doch zu vornehm. Und dann hat auch die Wirtin von ihrem Hausknecht Gebrauch gemacht ... Also gehen wir, Lotte. Ab in das Zimmer.

SIEDLER verlegen. Verzeihen Sie, mein Fräulein, ist denn das wirklich Ihr Zimmer?

OTTILIE. Ja, wie denn? Sie wollen mich vor die Tür setzen?

SIEDLER. Aber nein doch – Sie sehen mich in der größten Verlegenheit – ich hatte gar keine Ahnung, daß Sie – Ihr Herr Vater sprach immer nur von seinem Zimmer, und da ich ältere Rechte hatte ...

OTTILIE. Ach, Sie hatten es schon gemietet?[28]

SIEDLER. Jawohl, und der etwas derbe Widerspruch Ihres Herrn Vaters zwang mich, auf meinem Rechte zu bestehen – aber eine junge Dame habe ich noch nie aus meinem Zimmer vertrieben ... ich meine, ich kann keinen Augenblick daran denken, auch einer Dame gegenüber ... mit einem Wort, ich räume Ihnen selbstverständlich das Feld.

OTTILIE. Ich weiß wirklich nicht, ob ich das annehmen kann ... da Sie, wie es scheint, mit meinem Papa ...

SIEDLER. Aber bitte, mein Fräulein, beschämen Sie mich doch nicht. Ich wurde ja da oben keine ruhige Minute haben! ... Also bitte ... nehmen Sie es doch an!

OTTILIE. Jedenfalls sehr liebenswürdig von Ihnen, und ich sage Ihnen meinen aufrichtigsten Dank.


Giesecke kommt im Lodenmantel, mit Handgepäck beladen, von rechts am dem Haus.


GIESECKE. So, da wären wir.

CHARLOTTE ebenfalls mit Handgepäck beladen, tritt mit Giesecke auf. Vorwärts, bringen Sie den Koffer herunter!

OTTILIE. Ach, das ist ja gar nicht mehr nötig. Der Herr hat die Freundlichkeit gehabt, zu verzichten.

GIESECKE zu Siedler. Ja, warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt? Haben Sie endlich eingesehen, daß ich Recht habe?

SIEDLER lächelnd. Das nun freilich nicht ... aber da Ihr Fräulein Tochter ... kurz, ich trete zurück.


Joseph und Martin erscheinen auf dem Treppenpodest mit einem großen Koffer.


GIESECKE zu Joseph und Martin. Dann bringen Sie also den Koffer wieder herauf.


Joseph und Martin tragen den Koffer wieder mühevoll ab.


OTTILIE. Papa, willst du dem Herrn nicht deinen Dank aussprechen?

GIESECKE. Na, ich weiß eigentlich nicht wofür ... aber, als Mann von Welt, der ich nun einmal bin – Siedler die Hand reichend. Ich danke Ihnen.

SIEDLER Gieseckes Hand schüttelnd. Bitte! Bitte!

GIESECKE nach einer kleinen Pause. Spielen Sie auch Skat?

SIEDLER. Selbstverständlich.

GIESECKE zu Charlotte. Das ist eigentlich ein sehr netter Mensch! Zu Siedler. Mit wem habe ich das Vergnügen?

SIEDLER. Doktor Otto Siedler.

GIESECKE erregt. Siedler?!![29]

SIEDLER. Rechtsanwalt aus Berlin.

GIESECKE. Das sind Sie? Hineinrufend. Martin, bringen Sie den Koffer wieder herunter! ... Wir ziehen aus!

OTTILIE. Aber Papa? ... Was ist denn?

GIESECKE. Ich heiße nämlich Wilhelm Giesecke!

SIEDLER sich besinnend. Giesecke?

GIESECKE. Jawohl! Giesecke contra Sülzheimer!

SIEDLER sich erinnernd. Ah, Sie sind der Mann mit den Glühstrümpfen!

GIESECKE. Ja, das bin ich!

SIEDLER. O weh, o weh!

GIESECKE. Und da soll ich mit Ihnen in einem Hotel wohnen und mich an den ganzen Ärger täglich erinnern? Lieber auf dem Heuschober!

OTTILIE. Aber Papa, wo es hier doch so hübsch ist!

SIEDLER. Beruhigen Sie sich, mein Fräulein! Wenn Ihrem Herrn Papa die Begegnungen mit mir so unerwünscht sind – und das kann ich ihm wirklich nicht übel nehmen – so werde ich in ein anderes Hotel gehen.


Joseph und Martin sind wieder mit dem Koffer auf der Treppe erschienen.


GIESECKE. Das ist etwas anderes! Zu Joseph und Martin. Bringen Sie den Koffer nur wieder hinauf!

JOSEPHA die wieder aufgetreten ist. Was wäre das? Zu Siedler. Sie woll'n net bei mir im Haus bleiben? Na, da hab' i auch noch a Wört'l mitzured'n. Sie haben doch früher selber gesagt: »Das ist ein rechtsgültiger Mietsvertrag zwischen uns« – und jetzt besteh' i darauf! Na, das fehlte noch, daß Sie, mein lieber Herr Doktor, in einem anderen Hotel wohnen! Dös gibt's net! Sie bleiben hier! Ab.

SIEDLER mit verlegenem Achselzucken zu Ottilie. Ja, mein gnädiges Fräulein ... Sie sehen ...

GIESECKE zu Joseph und Martin hineinrufend. Also – bringen Sie den Koffer wieder herunter – und diesmal bleibt's dabei! Komm, Lotte, wir suchen uns eine andere Wohnung, und Du, Ottilie, pass' inzwischen auf das Gepäck auf! ... I, das wör' ja noch schöner! Wo ich hier zu meinem Vergnügen reise, da soll ich auf Schritt und Tritt einem Menschen begegnen, der mich drei Jahre lang schikaniert und gepiesackt hat? Was nützen mir denn da die schönsten Berge? Zu Siedler. Und da verlangen Sie noch, daß ich mit Ihnen Skat spiele? Na, det Jeschäft wär' richtig! Ab zu Charlotte.


Joseph und Martin bringen den Koffer wieder herunter und stellen ihn direkt auf die Bühne in die Mitte, dann, sich den Schweiß von der Stirne trocknend, gehen sie ab.


Quelle:
Oskar Blumenthal und Gustav Kadelburg: Im weißen Rössl. Berlin 16[o.J.], S. 28-30.
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