Schon war jeder Stern aus dem östlichen Himmel entflohen, den Morgenstern ausgenommen, den wir den Lichtbringer nennen und der allein noch durch den weißlichen Schimmer der Morgenröte glänzte, als der Seneschall sich erhob und mit schwerer Last sich in das Frauental verfügte, um hier alles nach dem vom Gebieter erhaltenen Auftrag und Befehl einzurichten.

Nicht lange nach diesem Aufbruch erhob sich auch der König, den das Lärmen der Aufladenden und der Saumtiere geweckt hatte, und hieß ebenso die Damen und die jungen Männer aufstehen. Noch waren die Strahlen der Morgensonne nicht ganz hervorgebrochen, als die ganze Gesellschaft sich auf den Weg begab, und nie war ihnen der fröhliche Gesang der Nachtigallen und der übrigen Vögel so reizend vorgekommen wie an diesem Morgen. Von ihren Liedern begleitet, erreichten sie das Tal der Frauen, wo sie von vielen anderen Sängern dieser Art, die sich ihrer Ankunft zu freuen schienen, empfangen wurden. Sie durchstreiften das Tal, sahen alles von neuem genau an, und es schien ihnen um soviel schöner wie den Tag zuvor, da die jetzige Tageszeit seiner Schönheit entsprechender war. Nachdem sie sich mit einigem Zuckerwerk und gutem Wein erquickt hatten, fingen sie, um im Gesang von den Vögeln des Haines nicht übertroffen zu werden, gemeinsam an zu singen, und mit ihnen das Tal, welches immer dieselben Lieder, die sie anstimmten, wiederholte: ein Wettgesang, dem die Vögel, gleichsam als wollten sie nicht besiegt sein, neue süßere Töne hinzufügten.

Als die Tafelstunde gekommen war, deckte man die Tische unter grünen Bäumen und anderem schönen Laubwerk nahe am Teiche, nahm in der Reihe Platz, wie es dem König beliebt hatte, und betrachtete unterm Essen die Fischlein, welche in großen Scharen durch das Wasser schwammen. Und der Anblick[523] ergötzte nicht nur die Augen, sondern bot zuweilen auch ihren Gesprächen Stoff. Nach beendeter Tafel wurden Speisen und Tische hinweggeräumt, und der Gesang begann aufs neue noch fröhlicher als zuvor. Inzwischen hatte der verständige Seneschall hier und da in dem kleinen Tal Betten aufstellen und sie mit bunten Stoffen und Teppichen verhängen und überdachen lassen. Manche benutzten mit des Königs Urlaub diese Gelegenheit und legten sich schlafen. Wer sich aber nicht schläfrig fühlte, konnte sich nach Belieben in der herkömmlichen Weise erlustigen. Als indes die Stunde gekommen war, wo alle sich erhoben, um sich zum Erzählen zu versammeln, ließ der König nicht fern von der Stelle, wo sie gespeist hatten, Teppiche über das Gras breiten. Dann ließen sie sich am Ufer des kleinen Sees zum Sitzen nieder, und der König gebot Emilia, den Anfang zu machen. Diese begann heiter und lächelnd also zu reden:

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Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. München 1964, S. 522-524.
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