Zehnte Geschichte

[581] Zwei Sieneser lieben eine Frau, die des einen Gevatterin ist. Der Gevatter stirbt, erscheint, seinem Versprechen gemäß, dem Gefährten und berichtet ihm, wie es dort im Jenseits zugeht.


Die Pflicht zu erzählen blieb nur noch dem König übrig. So begann er, als er die Damen, die den unschuldig gefällten Birnbaum bedauerten, etwas beruhigt sah, folgendermaßen:

Es ist offenkundig, daß jeder gerechte König der vornehmste Hüter der von ihm erlassenen Gesetze sein soll; denn tut er anders, so muß man ihn für einen Strafe verdienenden Sklaven, nicht aber für einen König erkennen. Dennoch bin ich, euer König, schier genötigt, dieser Schuld und diesem Tadel zu verfallen. Es verhält sich ja so, daß ich gestern, als ich den Gegenstand unserer heutigen Erzählungen bestimmte, die Absicht hatte, mich an diesem Tage meines Vorrechts nicht zu bedienen, sondern mich der gleichen Vorschrift wie ihr unterwerfen und vom selben Gegenstande sprechen wollte, von dem ihr alle gesprochen habt. Allein, nun ist nicht nur das, was ich zu erzählen gedachte, bereits erzählt worden, sondern man hat auch noch über unsere Sache so viel anderes und Schöneres gesagt, daß ich, soviel ich auch in meiner Erinnerung krame, mich auf nichts besinnen kann, was dem schon Erzählten gleichkäme. Da ich sonach gegen das von mir selbst gegebene Gesetz sündigen muß, erbiete ich mich im voraus zu jeder Buße, die mir auferlegt wird, nehme aber dafür mein gewohntes Vorrecht in Anspruch.

Ich sage euch also, vielgeliebte Damen, daß Elias Geschichte vom Gevatter und der Gevatterin und nächstdem die Albernheiten der Sieneser so große Macht über mich ausüben, daß ich[581] die Streiche beiseite lasse, welche törichten Männern von ihren verständigen Frauen gespielt wurden, und mich statt dessen gemüßigt sehe, euch eine Geschichte zu erzählen, die zwar manches enthält, was man nicht glauben soll, dennoch aber zum Teil ergötzlich und angenehm anzuhören sein wird.

Es lebten also in Siena einst zwei Jünglinge aus dem Volke, von denen der eine Tingoccio Mini und der andere Meuccio di Tura hieß. Sie wohnten am Salajatore und hatten, da sie fast mit niemand umgingen als miteinander, sich dem Anschein nach sehr lieb. Sie gingen, wie die Menschen zu tun pflegen, in Kirchen und Predigten und hatten oft von der Herrlichkeit und dem Elend gehört, die den Seelen der Verstorbenen in der andern Welt je nach ihren Verdiensten zuteil würden. In dem lebhaften Verlangen, hierüber sichere Kunde zu haben, gelobten sie einander, da sie keinen andern Weg dazu wußten, daß der, welcher zuerst stürbe, dem lebend Zurückgebliebenen, wenn er könne, erscheinen und die Botschaft bringen solle, nach der er so sehr verlangte. Dies versprachen sie sich mit einem Eidschwur.

Nach diesem Gelöbnis geschah es, daß Tingoccio, während die beiden fortfuhren, so miteinander zu verkehren, wie wir gesagt haben, der Gevatter eines gewissen Ambrogio Anselmini wurde, der in Campo Reggi wohnte und dem seine Frau, die Monna Mita hieß, einen Sohn geboren hatte. Da nun Tingoccio die Gevatterin, die eine gar schöne und muntere Frau war, zuweilen mit Meuccio besuchte, so verliebte er sich trotz der Gevatterschaft in sie, und ebenso Meuccio, dem sie auch ausnehmend gut gefiel und der sie von Tingoccio so sehr rühmen hörte. Diese Liebe verbargen sie jedoch sorgfältig voreinander, wenngleich aus verschiedenem Grunde.

Tingoccio hütete sich, sie dem Meuccio zu entdecken, weil er sich einer Sünde schuldig zu machen glaubte, wenn er seine Gevatterin liebte, und weil er sich geschämt hätte, wenn jemand darum gewußt hätte. Meuccio aber schwieg nicht deshalb, sondern weil er schon bemerkt hatte, daß sie dem Tingoccio gefiel. »Entdecke ich ihm dies«, sprach er zu sich selbst, »so wird er eifersüchtig auf mich werden, und da er als ihr Gevatter so oft mit ihr reden kann, wie er will, wird er mich nach[582] Kräften bei ihr anschwärzen, und ich werde nie etwas von ihr erlangen, das ich mir wünsche.«

Während nun die beiden jungen Leute in solcher Weise fortlebten, geschah es, daß Tingoccio, der mehr Gelegenheit hatte, seine Wünsche der Frau zu offenbaren, mit Wort und Tat es so weit zu bringen wußte, daß diese ihm alles gewährte, wonach er Verlangen trug. Dies ward Meuccio wohl gewahr; sosehr es ihm aber auch mißfiel, stellte er sich doch, in der Hoffnung, ebenfalls dereinst ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen, als bemerkte er es nicht, damit Tingoccio nicht Grund und Anlaß hätte, ihm seine Sache zu verderben und ihm Hindernisse in den Weg zu legen. So liebten denn die beiden Gesellen, der eine glücklicher als der andere, und Tingoccio, der in den Besitzungen der Gevatterin das Erdreich angenehm zu bestellen fand, grub und arbeitete so lange, bis er darüber in eine Krankheit verfiel. Diese wurde nach wenigen Tagen so schwer, daß er ihr nicht zu widerstehen vermochte und aus diesem Leben schied.

Drei Tage nach seinem Tode erschien er – vielleicht weil er nicht früher gekonnt hatte – seinem Versprechen gemäß nachts in Meuccios Kammer und rief diesen, der in tiefem Schlafe lag. Meuccio erwachte und fragte: »Wer bist du?« Jener antwortete: »Ich bin Tingoccio, der, wie versprochen, zu dir zurückkehrt, um dir Kunde aus der andern Welt zu bringen.« Meuccio erschrak wohl ein wenig, als er ihn sah; doch faßte er sich und sagte: »Sei mir willkommen, Bruder.« Danach fragte er ihn, ob er verloren sei. »Verloren«, antwortete Tingoccio, »sind Dinge, die man nicht wiederfindet, und wie könnte ich denn hier sein, wenn ich verloren wäre?« »Ach«, sagte Meuccio, »so meine ich es nicht; ich frage dich, ob du unter den verdammten Seelen im peinigenden Höllenfeuer bist?« Hierauf antwortete ihm Tingoccio: »Das nicht; wohl aber befinde ich mich um meiner begangenen Sünden willen in großer Qual und Angst.«

Nun fragte Meuccio den Geist ausführlich, welche Strafe für jede einzelne der auf Erden begangenen Sünden dort gegeben würde, und Tingoccio beschrieb sie ihm alle. Weiter erkundigte er sich, ob er nicht diesseits irgend etwas für ihn tun könne, worauf Tingoccio es bejahte: er möge doch Messen für ihn lesen lassen, Gebete sprechen und Almosen geben, Dinge, welche[583] den Seelen im Jenseits sehr nützlich wären. Meuccio versprach, dies gern zu tun. Als aber Tingoccio eben von ihm scheiden wollte, erinnerte er sich noch der Gevatterin. »Gut, Tingoccio«, sagte er deshalb, indem er den Kopf ein wenig hob, »daß mir noch die Gevatterin einfällt, bei der du so oft geschlafen hast, als du noch hier weiltest. Welche Buße ist dir denn dafür auferlegt?«

Tingoccio erwiderte: »Bruder, als ich dort ankam, war einer da, der alle meine Sünden auswendig zu wissen schien. Der befahl mir, an einen Ort zu gehen, wo ich in großer Pein meine Schuld beweinte und gar viel Gefährten fand, die zur selben Buße verurteilt waren wie ich. Als ich nun so unter ihnen weinte und an das, was mit der Gevatterin geschehen war, dachte und eine noch viel schwerere Strafe erwartete als die mir zugeteilte, zitterte ich vor Furcht, obwohl ich mich mitten in einem großen, heftig brennenden Feuer befand. Einer, der neben mir stand, sah dies und sprach: ›Was hast du denn Schlimmeres getan als die andern, die hier sind, daß du mitten im Feuer zitterst?‹ ›Oh!‹ sprach ich, ›guter Freund, ich fürchte mich so vor dem Richterspruch, den ich einer großen Sünde wegen erwarte, die ich einst beging.‹ Nun fragte er mich, was für eine Sünde das gewesen sei. ›Sie war der Art‹, antwortete ich ihm, ›daß ich bei meiner Gevatterin schlief, und zwar so oft, daß ich mich dadurch zugrunde richtete.‹ Darauf lachte er mich aus und sagte: ›Geh, du Narr, und fürchte nichts, denn hier hält man keine Rechnung über die Gevatterinnen.‹ Als ich dies hörte, beruhigte ich mich.«

Da nun der Tag nahte, sprach er nach diesen Worten: »Leb wohl, Meuccio, ich kann nicht länger bei dir weilen«, und verschwand sogleich. Als Meuccio nun gehört hatte, daß man dort keine Rechnung über die Gevatterinnen führte, lachte er sich selbst wegen der Torheit aus, daß er schon auf einige Gevatterinnen verzichtet hatte, und wurde, nachdem er über seine Unwissenheit belehrt worden war, für die Zukunft klüger. Wäre Bruder Rinaldo in dieser Sache ebenso unterrichtet gewesen, dann hätte er es nicht nötig gehabt, seine gute Gevatterin durch Trugschlüsse zu gewinnen.[584]

Schon hatte, da die Sonne dem abendlichen Horizont zueilte, der leichte Zephir sich erhoben, als der König schloß, und da niemand mehr zum Erzählen übriggeblieben war, nahm er sich den Kranz vom Haupte, drückte ihn Lauretta auf die Stirn und sprach: »Madonna, ich kröne Euch mit dem Reis, das Eurem Namen entspricht, zur Königin unserer Gesellschaft. Befehlt nun als Herrscherin alles, was uns Eurer Meinung nach zum Vergnügen und zur Freude gereicht.« Mit diesen Worten setzte er sich nieder.

Lauretta, die neue Königin, ließ den Seneschall rufen und befahl ihm, etwas früher als zur gewohnten Stunde die Tafeln in dem anmutigen Tale herzurichten, damit man nachher mit Gemächlichkeit zum Schlosse zurückkehren könne. Außerdem ordnete sie an, was er, solange ihre Herrschaft dauerte, zu tun habe. Dann wandte sie sich wieder zur Gesellschaft und sprach: »Dioneo gebot uns gestern, von den Streichen zu sprechen, wie sie die Frauen ihren Männern spielen. Müßte ich nicht fürchten, dem Geschlecht jener Kläffer zugerechnet zu werden, die sich immer auf der Stelle rächen wollen, so würde ich sagen, daß morgen von den Possen gesprochen werde, welche die Männer ihren Frauen spielen. Doch ich unterlasse dies und fordere nur, daß jeder sich bereit halte, von Streichen zu erzählen, wie sie täglich eine Frau dem Mann, ein Mann der Frau oder auch ein Mann dem andern spielt. Dabei wird sich, wie ich hoffe, nicht weniger Ergötzliches zu berichten finden als heute.«

Als sie so gesprochen hatte, stand sie auf und beurlaubte die Gesellschaft bis zur Essensstunde. Frauen und Männer erhoben sich nun gleichfalls. Einige von ihnen begannen unbeschuht mit den Füßen im klaren Wasser zu plätschern, andere aber ergötzten sich, unter den schönen schlanken Bäumen auf dem grünen Wiesengrunde umherzuwandeln. Dioneo und Fiammetta sangen eine Weile zusammen von Archytas und Palämon, und so verbrachten sie die Zeit bis zum Abendessen unter mancherlei Ergötzen heiter und vergnügt. Als diese gekommen war und sie nun längs dem kleinen See an ihren Tischen saßen, unter dem Gesang von tausend Vögeln, von der milden Abendbrise umfächelt, die stetig von den Bergen herabwehte, und von keiner Mücke gestört, speisten sie ruhig und fröhlich.

Als die Tafel aufgehoben war und die Gesellschaft das[585] anmutige Tal noch ein wenig durchstreift hatte, begaben sich alle nach der Königin Geheiß, während die Sonne noch hoch am Abendhimmel stand, langsamen Schrittes auf den Weg zu ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsort. Unter Scherzen und Geplauder über tausenderlei Dinge, teils über solche, die heute erzählt worden waren, teils über andere, gelangten sie bei Einbruch der Dunkelheit zu dem schönen Palaste zurück. Nachdem man hier die Mühe des kleinen Weges mit kühlen Weinen und Backwerk verscheucht hatte, begann man in der Nähe des schönen Springbrunnens Reigentänze, bald nach dem Ton von Tindaros Schalmei, bald nach anderer Musik aufzuführen. Endlich aber gebot die Königin der Filomena, einen Gesang anzustimmen, und diese begann also:


Wird seliges Gelingen

Zum Ort der Freude nie ein zweites Mal,

Von dem ich weinend schied, zurück mich bringen?


Ich weiß den Weg nicht, so bin ich befangen

Vom Sehnen meiner Brust,

Dorthin, wo ich geweilt in schönern Tagen.

Mein süßes Glück, du Ziel für mein Verlangen,

Des Herzens einz'ge Lust,

Sei du mir Führer. Wen sollt ich sonst fragen,

Und wie könnt ich's nur wagen?

Gib, mein Geliebter, mir der Hoffnung Strahl,

Leih dem erstorbnen Mute neue Schwingen!


Wie glichen Worte wohl dem süßen Glücke,

An dem ich so entbrannt,

Daß Tag und Nacht mein Herz nicht Ruhe findet.

Es haben so Gefühl wie Ohr und Blicke

Mit Kräften, nie gekannt,

Ein jedes neue Glut in mir entzündet,

Daß alle Kraft mir schwindet.

Nur du hast Trost für mich und meine Qual

Und kannst mit neuer Kraft mein Herz durchdringen.


Sag an, ob jemals ich und wann aufs neue

Dich treff an jenem Ort,[586]

Wo ich geküßt den Quell der Liebespfeile?

Sag, Trauter, mir's zum Lohn für meine Treue,

Wann bist du wieder dort?

Und mich zu trösten, sag es mir in Eile,

Kurz sei bis dann die Weile

Und reich der Stunden deines Bleibens Zahl,

In dem mir Jahre Tagen gleich vergingen.


Ich bin, sollt ich dich jemals wieder fassen,

So töricht nicht jetzund,

Wie ich gewesen, als ich dich ließ ziehen.

Was auch erfolg, ich will dich nicht mehr lassen,

An deinem süßen Mund

Die Flammen kühlen, die mich jetzt durchglühen,

Dir keine Gunst entziehen.

Komm bald, mich zu umarmen, mein Gemahl!

Denk ich nur dran, so muß ich jubelnd singen.


Das Lied ließ die ganze Gesellschaft vermuten, daß Filomena von einer neuen und beglückten Liebe gefesselt werde, und weil ihre Worte zu verraten schienen, daß sie mehr als den bloßen Augenblick gekostet habe, pries man sie glücklich, und einige unter den Anwesenden beneideten sie darum. Doch als ihr Gesang beendet war, sagte die Königin mit Rücksicht darauf, daß der folgende Tag ein Freitag war, freundlich zu allen: »Ihr wißt, edle Damen und Herren, daß morgen der Tag ist, der dem Leidensandenken unseres Heilandes gewidmet ist; ein Tag, den wir, wenn ihr euch recht erinnert, als Neifile Königin war, andächtig feierten, indem wir mit unseren heiteren Geschichten aussetzten. Gleiches taten wir am darauffolgenden Samstag. So will ich denn dem guten Beispiel folgen, das Neifile uns gab, da auch ich es für geziemend halte, daß wir morgen und am folgenden Tag auf unser ergötzliches Erzählen verzichten und uns dafür an das erinnern, was an diesen Tagen zum Heile unserer Seelen geschah.«

Allen gefiel die fromme Rede ihrer Königin. Als aber diese sie nun beurlaubte, war bereits ein großer Teil der Nacht verstrichen, weshalb sich alle zur Ruhe begaben.[587]

Quelle:
Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. München 1964, S. 581-589.
Lizenz:
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