Fünfzehntes Kapitel

[315] »Wenn Sie mich noch haben wollen,« sagte Graf Taiß am Tage nach dem Begräbnis des Kindes, »so bleibe ich noch. Um die Wahrheit zu sagen: Lanzenau macht mir den Eindruck eines Menschen, der nicht alle seine fünf Sinne richtig beisammen hat. Ich kann kein Gespräch vernünftig mehr mit ihm zu Ende führen, er ist wie ein Berauschter, der keinen logischen Gedankengang hat, sondern irgend einer thörichten Idee nachbrütet.«

»Wir wollen nach dem Arzt schicken,« sprach Fanny erschreckt, »wenn Lanzenau nur keinen Schlaganfall oder dergleichen bekommt.«

»Bewegung im Freien möchte ihm besser sein als alle Medizin. Wie wäre es, wenn wir einen kleinen Streifzug unternähmen, um für unsern Tisch einen Rehrücken zu erjagen?« schlug der Graf vor, der aus der eigenen Lust an der Jagd die Meinung faßte, es müsse für jedermann die beste Erholung sein.

»Wir können Lanzenau ja fragen, doch bezweifle[315] ich bei seiner Anlage zur Ischias, daß er zustimmt,« meinte sie bedenklich.

»Ich bitte Sie – bei dem herrlichen Jagdwetter!«

Das herrliche Jagdwetter war ein nebelgrauer Tag, an dem weder Wind noch Sonne die dichten Dunstschleier zwischen den Bäumen zerstreute, die am frühen Morgen im Rauhreif standen und ihren Schmuck zusehends verstärkten.

Zu Fannys Erstaunen ergriff Lanzenau den Vorschlag mit Hast. Es war selbstverständlich, daß Joachim bei der Partie sein mußte, und zu Taiß' unendlicher Befriedigung zogen die drei im winterlichen Jägerschmuck eine Stunde später waldwärts.

Fanny sah ihnen lächelnd nach und dachte, daß weniger die Sorge um Lanzenau den Grafen zum Bleiben bewogen als die Unmöglichkeit, eine so gute Jagd ungejagt zu lassen. Auch beruhigte sie der Umstand sehr, daß Lanzenau, der dies Vergnügen so gar nicht liebte, sich auschloß. Trotzdem schickte sie einen reitenden Boten zum Arzt.

Die drei Jäger fanden den Wald wie eine ungeheure, auf die Erde gelagerte weißgraue Wolke mit schwarzen, senkrechten Streifen durchschossen. Das weißbereifte Gewipfel hob sich kaum von dem Nebeldunst ab. Das welke Laub am Boden war an der Oberfläche von leichtem Frost gekraust, wenn der schreitende Fuß in diesen Winterteppich hineinstieß, zeigte sich[316] das braune Blattwerk von Nässe schwer. Der Atem dampfte vor den Lippen der Männer und bereifte ihre Bärte.

Lanzenau hatte die Hände in seinem Jagdmuff eng zusammengefaltet und ging steifbeiniger denn je; ihn fror entsetzlich, auch konnte er dem raschen Schritt des Grafen kaum folgen. Ihn ärgerte die lustige Jagdgeschichte, die Taiß erzählte; alles in der Welt erschien ihm unbedeutend und nebensächlich. Er dachte nur an eines, an das Schwert, das an einem Haar über Fannys Haupt hing. Joachim hörte wenigstens mit der Miene leidlichen Interesses zu, aber er sah düster und gedrückt drein.

Endlich kamen sie an die Stelle, wo der Rehbock, auf den sie fahndeten, zu wechseln pflegte, und Joachim wies den beiden anderen ihre Stände an.

Lanzenau stand an dem Stamm einer riesigen Buche. Rings umgab ihn das dichte Unterholz, aus dem er mit halbem Leibe ragte. Die feierliche Stille und das weiße Licht im bereiften Wald legten sich wie eine Beklemmung um seine Brust, auch blendete ihn die stechende, helle Luft, die hell ohne Klarheit war. In sein Gehirn kam jene seltsame Gedankenlosigkeit, die einen befallen kann, wenn lange Zeit eine schreckliche Idee über Verstand und Gemüt herrschte und beide bis zur Unfähigkeit der Empfindung betäubte. Mitten hinein in diese Minuten des bloß mechanischen Daseins fiel ihm eine[317] Erinnerung – ein Wort nur – er wußte nicht, woher es ihm kam.

»Ein Stoß, und er verstummt.«

Es gehörte auch Musik zu den Worten – er hörte sie deutlich singen. Frost lief ihm über den Rücken hinunter. »Ha, welch ein Augenblick!« Richtig, das sang Pizarro in »Fidelio«. Er erinnerte sich, daß ihm jedesmal, wenn er diese Arie im Theater gehört hatte oder am Klavier vernahm, derselbe Frost den Rücken hinunter gelaufen war. Was für ein Unsinn, daß ihm hier und jetzt die dämonische Musik einfiel.

Es knackte in den Zweigen. Er schrak zusammen und lauschte wieder auf das Wild.

Dabei summte es in ihm: »Ein Stoß, und er verstummt!« Unerträglich!

Wieder ein leises Krachen, wie vom leichten Tritt des grazilen Tieres auf dürrem Astwerk. Und da – das Graubraune dort – wie der Rücken eines lagernden Rehes. Er legte an und schoß. Der Rauch wölkte auf und verzog sich. Lanzenau ging, sich mühsam bahnbrechend durch verschränktes Gezweig auf die Stelle zu. Da lag, anstatt eines erlegten Wildes ein großer Feldstein. Lanzenau stieg das Blut ins Gesicht: was war das denn mit seinen Augen?! Und nun, vom Aerger, begann das Flimmern in der Luft vor ihm erst recht arg zu werden.

Aber da – da wurde es laut. Es brach durchs[318] Unterholz, nun sah er's gewiß und konnte den jammervollen, unglaublichen Schuß von eben auswetzen. Die Büchse an der Wange – die zitternde Hand am Hahn – es blitzt – das bläuliche Wölkchen flockt sich empor. Aber zugleich ein Schrei – kein Schrei aus dem Rachen eines verendenden Tieres, nicht dieser unsäglich wehvolle Laut, der sich dem sonst stummen Geschöpf als letzter Schrei der Lebensnot entringt – nein, ein Schrei wie aus einer Männerkehle.

Lanzenau steht entgeistert – wankt – packt mit der Faust in das nächste Buschwerk. Er will hingehen, seine Füße heben sich nicht. Er will rufen, seine Lippen lallen.

Da kommt es von der andern Seite. Taiß wird sichtbar, die hohe Gestalt nähert sich rasch unter den weißen Baumkronen.

Lanzenau bebt, daß seine Zähne auf einander schlagen. »Er wird mir sagen, daß ich ihn erschoß!« denkt er und sieht dem Grafen mit entsetzten Augen entgegen. Doch der hemmt plötzlich den eiligen Fuß, er bückt sich, er kniet nieder und ruft etwas Erschrecktes.

Da bezwingt Lanzenau sich und schreitet hin mit eingeknickten Knieen, den Fuß bei jedem Tritt hoch aufhebend.

Und nun steht er Taiß gegenüber, zwischen ihnen liegt Joachim am Boden.

Taiß hebt den Blick und sieht Lanzenau an. Ihre[319] Augen wurzeln fest und lange in einander. Wie einer Macht gehorchend, die ihn zwingt, murmelt Lanzenau:

»Was Sie denken, ist nicht wahr; der Schuß war ein unglücklicher Zufall.« Und dabei hört er es laut singen: »Ein Stoß, und er verstummt!«

Taiß wendet noch immer nicht den Blick.

»Bei Ihrer Ehre?«

»Bei Gott und meiner Ehre – ja!«

An Joachims Schulter färbt sich die graue Joppe dunkel, man sieht, eine Flüssigkeit saugt sich im rauhen Wollstoff weiter und weiter.

»Schnelle Hilfe thut not,« sagt Taiß, »ich eile ins Dorf, ein paar Leute zu holen. In zwanzig Minuten kann ich zurück sein.«

So blieb Lanzenau allein mit dem Verwundeten. Er nahm seinen Jagdmuff, den er an einer Schnur um den Hals trug, und schob ihn vorsichtig unter den blonden Kopf. Dann stützte er sich auf seine Büchse und blickte stehend auf sein Opfer nieder.

Dieselbe Gedankenlosigkeit von vorhin kam wieder mit ihrer totenhaften Leere über ihn, und immer hörte er dabei die entsetzlichen Worte mit der düstern Melodie.

Plötzlich erschrak er, daß seine Pulse stockten. Joachim schlug die Augen auf. Sie sahen sich stumm an. Die Lider sanken ihm nieder. Mühsam hob er sie zum zweitenmal.[320]

»Taiß oder Sie?« murmelte Joachim.

»Ich!« sagte Lanzenau.

Joachim schloß die Augen und blieb unbeweglich. Es schien, als wollte ihn zum zweitenmal Bewußtlosigkeit übermannen. Lanzenau beugte sich zu ihm und sagte:

»Es wird sofort Hilfe kommen. Wie ist Ihnen?«

»Die Schulter,« murmelte er, »es brennt.«

Nach einigen weiteren stummen Minuten kam der Graf, atemlos vom Laufen. Er hatte vier Tagelöhner aus dem Dorf mit, die eine breite Heuleiter trugen, auf der ein blauweiß gewürfeltes Stück Bettzeug lag. Man hob Joachim auf diese seltsame Tragbahre, und im Schritt ging es zurück.

Taiß berichtete, daß er einen Jungen, der ihm gerade in den Wurf gekommen, beauftragt habe, Fanny zu benachrichtigen, da selbst ins Herrenhaus Kunde zu bringen und von da die Hilfe zu holen eine Verzögerung bedeutet hätte.

Wohl hatte der Junge den Auftrag ausgeführt, aber er konnte den erschreckten Frauen nicht sagen, wen ein Unfall betroffen habe und welcher Art dieser gewesen. Fanny und Severina fragten hin und her; sie begriffen, daß es Taiß gewesen sein mußte, der den Jungen geschickt, denn die abgefragte Personalbeschreibung paßte nur auf diesen. Also war Lanzenau im Wald erkrankt.

O, das war auch wohl zu denken gewesen; wie[321] konnte er überhaupt nach seinem vorgestrigen Befinden solches Unternehmen wagen?!

»Warum habe ich ihm nicht abgeraten!« klagte Fanny.

Aber sie war nicht die Frau, sich in thatenlosen Jammerreden zu ergehen; sie trieb die Dienerschaft zu Vorbereitungen an und eilte selbst, mit Severina im Wohnzimmer Platz zu schaffen für ein Bett, da es ihr nicht geraten schien, den Kranken die Treppe hinauf tragen zu lassen.

»Wir müssen uns sehr eilen, sie können in einer halben Stunde hier sein,« sagte sie, die Zeit nach der Ankunft des Boten ungefähr berechnend. Aber was sie nicht mit berechnen konnte, waren die zehn Minuten, die der Junge gebraucht hatte, um die von Taiß zur Anspornung des Eifers erhaltenen Groschen beim Krämer in Bonbons umzusetzen und einige davon zu verzehren.

So geschah es, daß der traurige Zug über den Hof daher kam, ohne daß schon jemand ausschaute, und das Haus betrat, ohne daß die im hinteren Wohnzimmer eifrig hantirenden Frauen aufmerksam wurden. Die Dienerschaft, die herzulief, war nicht wenig erstaunt, daß der Herr Baron, den man vom Schlage gerührt wähnte, aufrecht neben der Bahre schritt, auf welcher – o, wie betrübend! – der »junge Herr« lag. Was würde Frau Förster für einen Schreck bekommen! Man wies die Träger nach dem Wohnzimmer, wohin[322] sie durch den Gartensaal gelangten, und alles drängte sich mit jenem Instinkt nach, der aus Mitleid und Neugierde zusammengesetzt ist.

Lanzenau hatte bis hieher die Kraft gehabt, sicher einherzugehen; nun er vor Fannys Angesicht erscheinen sollte, schwindelte ihm; er lehnte sich neben der Thür an die Wand und barg das Gesicht in der Hand. Die Thür that sich auf, Fanny und Severina standen sekundenlang in der Regungslosigkeit, mit welcher man auf eine schmerzliche, schon halb geahnte Wahrheit wartet. Wenn Lanzenau tot wäre ... Graf Taiß sah so ernst, so bleich aus – Fanny zitterte.

Die Träger ließen ihre Bahre vorsichtig nieder. Da wurden vier Augen starr und weit – unter dem Tuch, welches das Gesicht und die Gestalt des Liegenden verbarg, stahl sich ein blonder Haarschopf hervor – Fanny bewegte sich vorwärts, auf die Bahre zu – blaß wie der Tod – langsam – langsam.

Und da gellte ein Schrei durch das Zimmer. Severina hatte ihn ausgestoßen. Sie stürzte neben der Bahre nieder, sie riß das Tuch von seinem Angesicht, sie warf sich über ihn.

»Joachim – Joachim!«

Sie schüttelt ihn. Er stöhnt leise.

»Stirb mir nicht!«

Er schlägt die Augen auf – ihr Angesicht ist über dem seinen.

»Sei ruhig, mein Herz – es – ist – nicht[323] schlimm!« Und von der ungeheuren Anstrengung dieser Worte fällt er wieder in die Müdigkeit zurück, die bis an die Grenze der Bewußtlosigkeit geht.

Eine fürchterliche Stummheit legt sich über all die vielen Menschen.

Taiß denkt, daß es seine Pflicht ist, zu Fanny zu treten und seinen Arm schützend um sie zu legen. Aber er wagt es nicht, sein Herz erschrickt vor ihrem Angesicht.

Die Dienerschaft starrt bang die geliebte Herrin an; sie hat es von der Jungfer vernommen, die mit in der Taißburg war, daß der »junge Herr« wohl bald überhaupt »der Herr« sein werde, und sie hat sich seitdem heftig unter einander gestritten, denn einige von ihnen haben den jungen Herrn mit dem Fräulein gesehen! Die Jungfer weint und möchte hinlaufen, um ihrer gütigen Frau die Hand zu küssen. Sie wagt es nicht, denn die steht da wie ein Bild von Stein.

Wie lange die Stummheit dauert, niemand kann es sagen.

Da bewegt Fanny Förster sich. Sie schreitet vorwärts, alles weicht vor ihr zurück, sie aber sieht niemand. Und niemand wagt ein Wort an sie, nicht einmal Taiß. Die Majestät des Unglücks hat sie auf unerreichbare Gletscherhöhen gehoben. Ihr Gesicht ist wie der Tod und das Licht in ihren Augen erloschen.[324]

So schreitet sie auch an Lanzenau vorüber, er aber sieht ihr nach mit gramvollen Blicken; er weiß, daß jetzt das Schwert in ihrem Herzen sitzt.


Fanny ging in ihr Zimmer; ihre Füße trugen sie aus Gewohnheit die Treppe hinauf. Sie setzte sich auf das Sofa und faltete ihre Hände auf den Knieen. In sich zusammengesunken saß sie so und sah vor sich hin. Keine Thräne kam aus ihren Augen. Stunden verrannen. Kein Laut drang aus den anderen Räumen hieher, die Ruhe des Todes herrschte. Wer draußen auf dem Korridor vorüber mußte, schlich wie an einem Schlafenden behutsam vorbei.

Die Dämmerung kam, das Tageslicht wich zurück, das Geäst der Lindenkronen vor dem Fenster verfrühte im Gemache noch die Dunkelheit.

Leise öffnete sich die Thür, Fanny merkte es nicht. Erst als Lanzenau vor ihr stand und halblaut sagte: »Fanny!«, erst da hob sie ihr Gesicht zu ihm, ein weißes, ausdrucksloses Gesicht.

»Fanny, ich möchte mit Ihnen sprechen,« sagte er bittend.

»Wer hat mir noch etwas zu sagen?« fragte sie.

Waren diese tonlosen, rauhen Laute Fannys Stimme? Er setzte sich neben Fanny; er dachte ihre Hand in die seine zu nehmen, aber ihre Hände lagen unbeweglich, gefaltet auf ihren Knieen.[325]

Er suchte nach Worten. Was zuerst und wie am zartesten sollte er zu ihr sprechen? Da fragte sie:

»Ist er tot?«

Es überlief ihn wie ein Schauder. Sie hatte gefragt, als wenn sie etwa sagte: »Regnet es?«

»Ist er tot?« Noch einmal so.

»Nein,« sagte Lanzenau langsam; »der Arzt, der für mich berufen worden war, kam und fand den unerwarteten Patienten nur vom Blutverlust sehr geschwächt; die Kugel ließ sich leicht aus dem Fleische des Oberarms entfernen, die Wunde wird sich schnell schließen, ein Knochen ist nicht verletzt. Taiß und Adrienne teilen sich in die Pflege; es sind keine Veranstaltungen nötig gewesen, als ein antiseptischer Verband und Eis auf den Kopf. Adrienne wollte zu Ihnen, ich habe es verhindert.«

Er konnte aus keiner Bewegung entnehmen, ob Fanny ihm zuhörte.

»Sie fragen nicht, teure Fanny, wie das Unglück geschah!«

Fanny schwieg.

»Ihnen das zu sagen bin ich gekommen,« fuhr er fort; »ich wartete die Dämmerung ab, weil ich nicht den Mut hatte, im Tageslicht Ihr Gesicht zu sehen. – Ich, Fanny, ich habe auf ihn geschossen.«

Nach einer kurzen Pause sagte sie mit derselben fremden, unnatürlichen Stimme:

»Sie haben recht daran gethan!«[326]

Er erschrak so sehr, daß ihm eine Weile die Stimme versagte.

»Fanny,« begann er, sich bezwingend, »ich muß Ihnen etwas Schreckliches gestehen: ich haßte diesen Mann, seit ich wußte, daß Sie ihn mit Ihrer Liebe beglückten. Ich sah Sie und ihn vorgestern am Fenster, und er küßte Sie. Er aber, ich wußte es lange, hatte auch mit dem Mädchen von Liebe gesprochen. Da kam es über mich – es war nicht so klar wie ein bestimmter Plan, nicht einmal ein Gedanke – es kam wie ein dunkler Wunsch in meine Seele, daß er sterben möge, damit Sie lieber seinen Tod als seinen Verrat beweinen möchten. Ich weiß gewiß, daß ich in diesem dunklen Wunsch den Vorschlag zur Jagd annahm. Alle Unglücksfälle, die bei solchen Gelegenheiten vorgekommen, fielen mir ein: wenn Taiß sich irrte – wenn Joachims Büchse ihm in der Hand platzte – lauter sonderbare, unwahrscheinliche Sachen. Ich dachte auch nach über alles, was nach solchem Unglücksfall geschehen konnte. Und als ich allein im Walde stand, da kam's mir plötzlich: wie, wenn meine Hand ihn niederstreckte unter der Maske des Zufalls? Es war ein fiebernder Gedanke, kein Entschluß – bei Gott, noch kein Entschluß! Und als mein getrübtes Auge, meine zitternde Hand erst einen Stein, dann Joachims graubraunen Jagdrock für das Tier, das wir jagten, genommen, da – da begriff ich, daß ich in Ge danken ein Mörder gewesen, daß die[327] Gedankensünde mir als That angerechnet werden müsse, weil ein Zufall sie wahr gemacht. Nicht vor anderen Menschen – nicht vor Taiß, der mich darum befragte – nein, aber vor Ihnen, Fanny, vor Ihnen bin ich schuldig, denn ich wollte Ihnen das Liebste töten, das die Erde für Sie trägt, und ich bedachte nicht, daß auch an seiner Leiche der Verrat noch offenbar werden würde, wie er an seiner Wunde offenbar geworden. Verzeihen Sie mir?«

Sein Ton war matt geworden, die lange Erzählung hatte ihn sehr gemartert.

»Nein,« sagte Fanny vor sich hin, »nein, ich verzeihe Ihnen nicht, daß Sie ihn nicht in sein Herz geschossen haben.«

»Fanny, teure Fanny, seine unbedachte Jugend verdient nicht die Wucht Ihres Hasses,« rief Lanzenau entsetzt. »Sie werden diesen Schmerz überwinden. Was konnte Ihnen der junge, unbedeutende Mann sein? Eine ästhetische Aufwallung! Sie werden ihn vergessen.«

Sie schwieg.

»Fanny,« sagte er leise, »o Fanny, wie habe ich Dich lieb!«

Es war der Trost, den sein Herz ihr zu bieten hatte, ihr das zu sagen. Sie aber löste ihre Glieder aus der erstarrten Ruhe, sie fuhr zusammen. Wie widerwärtig ihr das klang – und einst dasselbe, ganz dasselbe Wort aus Joachims Mund so süß.[328]

Wie leer sind Liebesworte! Nur in dem Mund, aus dem sie gehen, wohnt der Zauber.

Fanny warf sich zu Boden und legte ihr Gesicht auf die Kissen des Sofas.

»Haben Sie ihn so sehr geliebt, Fanny?« fragte Lanzenau erschüttert. »Was fanden Sie an ihm?«

Sie erhob ihr Gesicht; es war so dunkel, daß man es nur weiß schimmern sah, ohne ihre Züge zu erkennen.

»Was er mir war? Wie ich ihn erkor?« fragte sie leise, als richte sie an keinen Menschen, sondern an ein unsichtbares Wesen das Wort, »warum gerade ihn – vor so vielen, vielen, die der höchsten Liebe, der höchsten Bewunderung wert waren? Ich weiß es nicht. Wunder kann man nicht erklären. Ich mußte. In ihm fühlte ich mich vollkommen als Weib, ihm glückselig unterthan. Die Vergangenheit mit ihrem ganzen Inhalt an Arbeit und Freude, die Zukunft mit ihrem ganzen Inhalt an Gram ist nichts. Ich habe nicht gelebt außer in den Stunden, wo ich mit ihm war. Sein Wert? Dagegen der meine? Handelt die Liebe mit Werten?«

»Fanny,« flüsterte er, »so können, so werden Sie ihm verzeihen. Severina muß entsagen.«

All sein Haß, seine wahnsinnige Eifersucht erstarb in der wachsenden Angst, sie zu Grunde gehen zu sehen.

»Nein,« sagte Fanny mit eisernem Ausdruck, »ich hasse ihn!«[329]

Er schwieg. Was konnte er noch sagen? Er fühlte, ihr Herz glich erstarrter Lava. Worte konnten sie nicht wieder schmelzen.

Lange saß er stumm, während sie neben ihm kniete. Endlich erhob sie sich und schritt an das Fenster.

Er wollte sich unhörbar entfernen; Einsamkeit, dachte er, sei ihr das willkommenste. Aber sie vernahm ihn doch und fragte, als er schon die Thürklinke faßte, ohne sich zu wenden:

»Weiß sie es?«

Er verstand – ob Severina von dem Doppelspiel wisse?

»Noch nicht – so viel ich weiß.«

»Laßt ihr den Glauben,« sagte Fanny mit erstickter Stimme. Aber es war doch der alte, milde, erbarmende Ton darin, der verkündete, daß die Fanny von ehedem nicht ganz gestorben sei. Lanzenau fühlte, daß seine Augen naß wurden.

Er ging. Fanny blieb am Fenster stehen. Nach einer Weile klopfte es, und gleich darauf trat die Jungfer herein, stellte eine Lampe und Thee auf den Tisch mitten im Zimmer. Lanzenau hatte sie geschickt und ihr befohlen, kein Wort zu sprechen, sowie sich sofort und schweigend zu entfernen. Das treue Mädchen folgte dem Befehl, nicht ohne auf die regungslose Gestalt der Herrin einen Blick tiefer Sorge zu werfen.

Als sie hinaus war, wandte Fanny sich um und ging an den Tisch.[330]

Ihr Gaumen brannte, ihre Lippen waren trocken; sie schenkte sich eine Tasse Thee ein und führte dieselbe, sie wie ein henkelloses Gefäß mit den Fingern umspannend, zum Munde. Sie fühlte nicht, daß die heiße Brühe durch das dünne Sèvresporzellan brannte.

Plötzlich ward die Thür aufgerissen, Severina kam herein.

Fannys Finger krampften sich zusammen, die feine Tasse zerdrückend, und mit den Scherben goß sich der glühende Trank an Fannys Gewand herab.

»Er schläft endlich,« sagte Severina, dicht an Fanny herantretend; »nun ließ es mich nicht länger. Ich muß Sie fragen, ob Sie ihn mir wirklich nehmen wollen?«

Die glanzlosen, müden Augen Fannys hafteten auf dem Gesicht des Mädchens.

Das also war sie, die er vor ihr geliebt. Fannys Seele hatte alle Energie verloren, sie wunderte sich nicht einmal.

»Er schrieb es mir,« fuhr Severina fort, mit funkelnden Blicken Fanny messend, »er klagte mir, ob es denn möglich sei, daß ein Herz zugleich zwei Frauen umfassen könne, er legte in meine Hände die Entscheidung. Er rechnete vielleicht auf meinen Edelmut, ich sollte ihn freigeben, damit er der Gatte der reichsten und angesehensten Frau werden könne.«

Da regte sich etwas in Fannys Herzen; durch die Erstarrung ging es wie ein Riß. Sie fühlte ganz[331] deutlich, daß dieses Mädchen ihn nicht so tief, so grenzenlos blind liebte, wie sie selbst es gethan. Es war niedrig von ihr, Joachim der Berechnung zu verdächtigen, und – das fühlte Fanny auch – solche Art Unlauterkeit hatte nie in Joachims adeligem Sinn Platz gehabt.

»Severina,« sagte Fanny leise, »ist denn an mir nur Geld und Stellung liebenswert?«

Das Mädchen erschrak und verfiel von der auftrotzenden Zornesstimmung unvermittelt in den größten Jammer. Fannys Ton hatte sie tief erschüttert. Sie fiel ihr aufweinend um den Hals. Fanny stand wie eine Statue.

»Lassen Sie ihn mir. Er ist so schwach. Er wird thun, was Sie befehlen. Sie haben so viel in der Welt. Ich habe nichts als ihn.«

Dieses Mädchens ganze Jugend, von ihren frühen Kinderjahren her, wäre freudlos und liebearm gewesen, wenn Fannys Güte ihr nicht alles, alles ersetzt hätte, was sonst ein geduldiges Mutterherz einem Mädchen geben kann. Hundertmal war das Gelöbnis ewiger Dankbarkeit von ihren Lippen gegangen, die Versicherung der anhänglichsten Liebe, der Wunsch, daß einmal eine Gelegenheit kommen möge, diese Liebe zu bethätigen.

Um Fannys Lippen schlich ein Lächeln. Nun kam auch nicht einmal in leisester Aufwallung der Gedanke in Severinas Herz, um Fannys willen zu entsagen,[332] nicht einmal ein Gedanke des Mitleids kam, daß doch auch Fanny leide.

»Laß mich allein,« sagte sie, das Mädchen von sich wehrend, »morgen ist auch ein Tag und morgen ...«

»Morgen?« drängte Severina fragend, als Fanny stockte.

»Morgen will ich mit ihm sprechen,« flüsterte sie, und dabei ging ein sonderbares Licht in ihren Augen auf.[333]

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 315-334.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fanny Förster
Fanny Förster

Buchempfehlung

Strindberg, August Johan

Inferno

Inferno

Strindbergs autobiografischer Roman beschreibt seine schwersten Jahre von 1894 bis 1896, die »Infernokrise«. Von seiner zweiten Frau, Frida Uhl, getrennt leidet der Autor in Paris unter Angstzuständen, Verfolgungswahn und hegt Selbstmordabsichten. Er unternimmt alchimistische Versuche und verfällt den mystischen Betrachtungen Emanuel Swedenborgs. Visionen und Hysterien wechseln sich ab und verwischen die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn.

146 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon