Neuntes Kapitel

[203] So glücklich Fanny durch die Gegenwart ihrer Gäste gewesen, fühlte sie zu ihrer eigenen Verwunderung dennoch eine erhöhte Freude, als in den ersten Oktobertagen ihr Haus wieder leer war.

Auch die Einladung der Gräfin Taiß, wie immer den Monat November auf der Taißburg zu verleben, lehnte Fanny ab. Erst als der Graf ihr vorstellte, daß es doch seit manchem Jahr bei ihnen Sitte gewesen sei, Fannys und ihrer Cousine, der Gräfin, Geburtstage, die auf dasselbe Datum, den 20. November, fielen, zusammen zu feiern, erst da versprach sie, für drei Tage zu kommen. Natürlich hörte Lanzenau dies mit dem größten Unbehagen, denn für ihn, der ebenfalls seit Jahren der regelmäßige Novembergast des Grafen war, blieb ein Ablehnen unmöglich, wollte er sich nicht lächerlich machen, oder Fanny nicht kompromittiren. Und zu seiner noch größeren Verstimmung erhielt Joachim von Herebrecht nur eine Einladung für dieselben drei[203] Tage, an denen auch Fanny nach der Taißburg kommen wollte.

Er sann und sann, wie er seinen Aufenthalt dort abkürzen könne, ohne auffällig zu werden, und fand endlich, daß Fanny alle ihre Bekannten zu einer großen Jagd einladen müsse, da der Wildstand überhand nehme und den Rübenfeldern Schaden bringe. Fanny ließ sich arglos bereden, und ehe die gräfliche Familie abreiste, war bestimmt worden, daß alsbald nach dem doppelten Geburtstagsfest alle Gäste aus der Taißburg für zwei Tage nach Mittelbach übersiedeln sollten, um eine Treibjagd abzuhalten. Fannys Haus würde zwar nicht ausreichen, um alle zu beherbergen, allein eine Anzahl von Kavalieren konnte ganz gut im nahen Dreisa bei Lanzenau wohnen. Nach dieser Jagd war es selbstverständlich, daß der Baron dann nicht erst wieder nach Taißburg zurückkehrte.

Also das Haus war für jetzt von Gästen leer. Man konnte sich für den Winter rüsten. Der große Saal ward zugeschlossen, die Terrasse sah kahl aus, die Kübel mit den Lorbeer- und Orangenbäumen standen im Warmhause, das sich hinter den Scheunen im Nutzgarten befand. Der Flügel war in das eine von den drei Zimmern geschoben, die jetzt bewohnt wurden und davon das eine neben dem Saal parkwärts, das andere an der Seitenwand des Hauses, das dritte vorn, dem Hofe zu, belegen war. Die Räume gingen ineinander,[204] das vordere Gemach diente zum Speisen, das mittlere der Musik, und in dem Zimmer, von wo das Auge über den sturmdurchtosten Park schweifen konnte, versammelte Fanny am liebsten ihre Freunde um sich.

Die Lese- und Malstunden hatten ihr zu sehr gefallen, um sie jetzt aufzugeben, wo die Winterruhe in Feld und Haus ihr viel mehr freie Zeit ließ. Magnus, der treffliche Recitator, war nach der Residenz übersiedelt, zum großen Jammer der Pastorin, die steif und fest glaubte, er habe sich ihrer Bevormundung entziehen wollen und sich deshalb hinter Fanny gesteckt. Fanny ließ sie bei diesem heilsamen Glauben, in der Hoffnung, sie werde sich künftig zusammennehmen; denn alles, was Magnus je an Leichtfertigkeit beging, hatte stets seine tiefsten Wurzelfasern im Trotz gegen das ewige Bewachen, Ermahnen und Befehlen.

Es galt, einen Ersatz für Magnus zu finden. Lanzenau als Vorleser zu denken, war lächerlich, auch pflegte dieser der Mittagsruhe, wenn man lesen hören wollte, und just diese Stunde mußte es sein, weil Fanny das Licht zum Malen brauchte. Joachim sagte, wenn er vorlesen solle, würde er vorziehen, auszuwandern. So mußte Severina denn lesen, und es ging sehr gut.

Jeden Mittag sah das große, helle Zimmer das gleiche Bild zwischen seinen Wänden. Fanny saß, mit einer enormen Schürze und Malärmeln umkleidet, eifrig vor ihrer Staffelei, die an dem einen Fenster[205] stand. Am andern saß ihr »Opfer«, wie er sich nannte, Joachim, und hielt nie still.

Adrienne und Severina saßen in Joachims Nähe an einem Tischchen, erstere machte Handarbeit. Und wie früher Magnus für Adrienne gelesen, so las jetzt Severina für Joachim.

Diese Gelegenheit, ihm die glühendsten Geständnisse zu machen, ward ihre Lehrmeisterin; sie las oft mit solchem Schwunge, mit so tiefinnerster Erregung, daß Fanny den Pinsel ruhen ließ und fortgerissen zuhörte. Die melodische Stimme tönte durch den Raum, in dem auch alles bereitet schien, einer weihevollen, der Poesie gewidmeten Stunde den rechten Rahmen zu geben. Reichtum und Verständnis hatten ihn mit einer gewissen, zurückhaltenden Pracht geschmückt. Die reichgefüllten Blumentische, in denen Frühlingsblumen unter Fächerpalmen blühten, fügten der Pracht die Anmut hinzu.

Lanzenau meinte einmal im Scherz, Fanny sei da unvorsichtig und zettle etwas an, wofür sie dann die Verantwortung trage. Das Hineinlesen in die Herzen sei seit Francesca und Paolo da Rimini eine bekannte Form des Verliebens, und wenn Severina und Joachim sich verliebten, müsse Fanny als die Veranstalterin auch für das weitere sorgen. Dabei hatte er Fanny scharf angesehen. Aber sie sagte mit der größten Ruhe:

»Ach – Unsinn! Joachim muß eine reiche Frau[206] und Severina einen reichen Mann haben. Joachim ist ja viel zu vernünftig und sie auch – dergleichen fällt ihnen nicht ein.«

Es fiel nämlich Fanny nicht ein, an solche Möglichkeit zu denken. Die Aeußerung glitt an ihrer Ahnungslosigkeit so ab, daß sie nicht einmal bei der nächsten Vorlesung mehr daran dachte.

Joachim fühlte sich ungeheuer wohl bei der Sache. So dazusitzen und ungefährdet, durch das Medium irgend eines Poeten, sich von Severina in allen Tonarten sagen zu lassen, daß er unendlich geliebt sei, und das in Gegenwart der beiden anderen Frauen hatte jedenfalls einen pikanten Reiz. Und das konnte noch eine gute Weile so fortgehen, denn Fanny traf immer und immer nicht die Züge, in denen sie mit der größten Vertiefung las. Wenn Joachim nicht zugegen war, schien es ihr, als wisse sie sein Gesicht auswendig, und wenn er dann so vor ihr saß, entdeckte sie jeden Tag etwas Neues in seinen Zügen, und jeder Zug erschien ihr von vollkommener Schönheit.

Das erste Porträt ward von allen für so unendlich geschmeichelt und deshalb nicht ganz ähnlich erklärt, daß sie ein zweites sogleich begann.

So endete der Oktober und Lanzenau rüstete sich mit schwerem Herzen zur Fahrt nach der Taißburg. Freilich, verändert hatte sich hier nichts, Fanny war noch ebenso unbefangen, fast naiv in den Aeußerungen[207] ihres Wohlgefallens für Joachim, und diesen hatte er mehr wie einmal bei Zeichen heimlichen Einverständnisses mit Severina ertappt. Auch verhießen seine Bemühungen, für Joachim eine auskömmliche Stellung zu finden, Erfolg. Er hatte durch den Grafen Taiß erfahren, daß die gräflich Itzelburgischen Güter wahrscheinlich in Administration kommen würden, weil der Graf – ein einstiger Regimentskamerad Lanzenaus bei den Gardes du Corps, wo beide bis zum Premier dienten – plötzlich verstorben sei, die Erben aber erst in zehn Jahren majorenn würden. Lanzenau knüpfte sofort die längst erkalteten oder eingeschlafenen Beziehungen zu der Familie des Verstorbenen wieder an und war gewillt, im Notfall selbst nach Pommern zu reisen, um an Ort und Stelle für seinen Schützling zu wirken. Wenn Joachim die Administration bekam, konnte er alsbald heiraten und sah sich bei vernünftiger Wirtschaft nach zehn Jahren im Besitz eines Kapitals, welches ihm gestattete, dann eine Pachtung anzufassen.

Trotz all dieser Gründe zur Ruhe war Lanzenau dennoch von dumpfen Ahnungen erfüllt und reiste mit einem so sichtlichen Schmerz ab, daß Fanny fast peinlich davon berührt wurde.

Sie stand noch eine Weile in dem Beischlag vor ihrem Hause und schaute seinem davonrollenden Wagen nach, dann ging sie lange im Park spazieren, eng in das große weiße Wolltuch gewickelt, das sie um die[208] Schultern geschlagen, als sie Lanzenau an den Wagen begleitete. Ihre Fußspitzen stießen raschelnd die feuchten gelben Blätter empor, sie ging, wie Kinder wohl im welken Laube gehen – das Aufwühlen des melancholischen Herbstniederschlages gab ihr eine Beschäftigung, bei der sich gut nachdenken ließ.

Nachdenken? Worüber? Ueber den neuen Umstand, daß ihr Lanzenaus Abreise fast eine Erleichterung schien? Welch ein Unrecht gegen den Treuen und wie unbegründet auch! Denn sein Benehmen gegen sie wa doch dasselbe gewesen, wie in all den vielen, vielen Jahren, wo ihr seine unermüdliche Freundschaft Wärme und Inhalt in das einsame Leben getragen. Was hatte sich denn verändert? Fanny fühlte ganz, daß auch in ihrem Herzen die dankbare Anhänglichkeit für den Freund ihrer Jugend, den Genossen ihrer Irrtümer und ihrer als recht erkannten Lebensaufgaben, unvermindert fortlebte, ja, um einen Ton wärmer geworden war durch eine Art Mitleidsgefühl – und doch eine Veränderung?

Durch die kahlen Baumwipfel sauste der Novemberwind. Sonnenstrahlen, gelb und blank wie Messingglanz und so ohne Wärme, lagen auf dem braunfeuchten Blattgehäuf zu Fannys Füßen und ließen darin bläuliche Tinten aufschimmern. Auf dem grünen, von welkem Laub überfleckten Rasen standen da und dort kleine Holzkästen – sie bargen die empfindlichen Coniferen gegen den Winterfrost. Wie unlustig das[209] aussah, und in der Pappel dort saß es schwarz voll und hob sich jetzt wie ein auseinander flatterndes, vom Winde getragenes Laken in die Luft: ein Schwarm Krähen, der gegen den hellblauen Himmel flog.

Fanny fror; sie kehrte eilig zurück. Nahe dem Hause überflog ein helles Freudenrot ihr Gesicht. Am Fenster stand Joachim mit seinem kleinen Neffen, den er sich auf die linke Schulter gesetzt. Der Kleine schlug mit den Patschhändchen gegen die Scheiben, daß es bumste, Joachim lachte und nickte.

Wie schnell war Fanny drinnen!

»Aber nun muß er fort,« sagte Joachim, denn gleich nach Fannys Eintritt meldete der Diener, daß das zweite Frühstück servirt sei.

»Unser Kind« – Fanny und Joachim nannten den Kleinen immer »unser Kind« – »kann hier bleiben,« bestimmte Fanny.

»Er ist zu lebhaft, und wenn er schreit ...« sagte Adrienne bedenklich.

»Was schadet's – Lanzenau ist ja fort, wir sind unter uns,« sprach Fanny heiter.

Sie dachte nicht daran, daß dieses »unter uns« Lanzenau, mit dem sie viele Jahre gelebt, als Fremden von einer Gemeinsamkeit ausschloß, in der sie sich erst seit wenig Monaten mit Adrienne und Joachim befand. Wäre ihr selbst oder den beiden das aufgefallen, würde sie sich wahrscheinlich mit der Erklärung geholfen haben, daß ja Adrienne und Joachim ihre Verwandten seien.[210]

Für jetzt freuten sie sich harmlos, daß sie einmal den Kleinen selbst füttern durften. Natürlich zerschlug er eine Tasse und sein Kleidchen wurde mit Eigelb betröpfelt. Aber sie hatten noch nie so vergnügt gefrühstückt wie heute. Lanzenau freilich, der konnte den Kinderlärm nicht ertragen.

Nach dem Frühstück kam Severina zum Vorlesen. Magnus hatte neue Bücher geschickt, neue für diese Gesellschaft, die, wie so viele Leser, das Neueste kannten, aber die Perlen unbeachtet ließen, die schon vor einem halben oder gar ganzen Menschenalter von Berufenen dem Volk geschenkt waren.

Severina begann heute »Ginevra und Lanzelot« von Hertz vorzulesen.

Das hohe Lied der Leidenschaft hätte von keinen heißeren Lippen vorgetragen werden können. Severina vergaß sich und die Welt, sie las nicht mehr für den einen Geliebten. Die Naturgewalt der Liebe erstand vor ihr als etwas so Uebermächtiges, daß sie sich und ihre friedliche, stillglühende Neigung vergaß und vor der Gottheit erbebte. So vergessen wir ob gewaltiger Naturereignisse die Erschütterungen eigenen Seins, so erscheint unser Leben nichts gegen die Ewigkeit. Das eine Kleine geht im Großen auf.

Sie saßen alle und lauschten atemlos. Fannys Augen hingen groß und leuchtend an Severinas Lippen; Adrienne hatte die Hand über ihre Augen gelegt; selbst Joachim fühlte sich von dem Gedicht ergriffen. Die[211] ritterlich kühne und doch so sündige Leidenschaft Lanzelots für Ginevra, das Weib seines Königs, entflammte ihn zum Mitgefühl; er sah Ginevra, das glühende, schöne, an den alten Artus vermählte Weib, vor sich – sie mußte ausgesehen haben wie Fanny. So hoch, so frauenhaft, so milde und das blonde Haupt so frei und königlich. Severina las von Mordreds Warnung, von des Königs scheinbarer Jagdfahrt, von der Zusammenkunft, die Ginevra und Lanzelot für diesen Fall verabreden und zu dem eine rote Rose das glückverheißende Zeichen sein soll. Sie las von dieser wilden Nacht.

Und dann heischte die Stunde für heute ein Ende. Sie bedauerten es alle und fanden lange noch nicht den heiteren Ton wieder. Fieberheiß hatte sich ihnen das Nachempfinden in die Adern gegossen.

Freilich riefen die kleinen Obliegenheiten des Tages den einen an diese, den andern an jene Beschäftigung und das nahm allmälich der Erregung das persönlich Ergreifende. Aber als Severina gegen Abend schied, ward sie ermahnt, ja andern Tags recht zeitig zu kommen.

Joachim brachte sie nach Haus. Das hatte sich so als Brauch eingeschlichen, seit die Abende früh das Land deckten. Sie gingen immer auf einem Umweg. Seltsamerweise war ihnen das Glück dabei so günstig, daß noch niemand sie dabei ertappte. Joachim drückte Severinas Arm zärtlich an sich und sagte:[212]

»Wie Du heute schön gelesen hast! – Wenn mir das jemand prophezeit hätte, daß ich noch einmal ganz spießbürgerlich und gebildet beim Vorlesen zuhören würde wie ein Pensionsmädchen in der Literaturstunde! In meinen anderen Stellungen bin ich in den Mußestunden in die benachbarten Garnisonen geritten oder habe mit dem Gutsherrn Billard gespielt, gejagt oder dergleichen.«

»Ist es nicht hübscher so?« fragte Severina.

»Freilich – weil Du dabei bist. Und wenn man so von all den verrückten Menschen hört, die die Liebe so tragisch nehmen und sich und anderen das Leben damit sauer machen, freut man sich der eigenen, modernen Vernünftigkeit,« sagte Joachim behaglich.

»Die ganze ›Vernünftigkeit‹, die Du manchmal in diesem Punkt an Dir rühmst,« bemerkte Severina mit einem zärtlichen Lächeln, »ist weiter nichts als Dein ruhiges Glücksgefühl. Wenn Du früher zu lieben glaubtest, fandest Du fast immer Entgegenkommen; stellte es sich dann heraus, daß es bloß eine beiderseitige Täuschung gewesen war, tröstetest Du Dich aus dieser Erkenntnis sehr schnell.«


»Die Liebe liebt das Wandern,

Gott hat sie so gemacht,

Von einer zu der andern,

Fein's Liebchen, gute Nacht!«


sang Joachim halblaut.

»Und jetzt,« fuhr Severina eifrig fort, »wo Du[213] zum erstenmal wirklich liebst, mich, findest Du grenzenlose Gegenliebe. Du hast also gar keine Gelegenheit zur ›Unvernunft‹! Aber das ist gewiß, daß auch ein stilles Glück, ein vernünftiges Glück durch einen Querstrich ins übermenschlich Traurige umschlagen kann. Wenn ich Dir untreu würde, Du ertrügst es nicht. Und ich – ich stürbe, wenn Du mich verrietest.«

Sie hing leidenschaftlich an ihm.

»Aber, Kindchen,« sagte er mißmutig, »Du weißt, ich kann die überspannten Redensarten nicht leiden. Ob ich Dir treu bleibe – Du mir – wer kann's beschwören? Aber wir wollen es hoffen. Wenn wir erst verheiratet sind, macht sich das von selbst.«

Severina zitterte. O, über seinen leichten Ton! Aber gewiß, es war nur der Ton.

»Lanzenau sagt mir,« erzählte Joachim, »daß er Aussichten für mich hat. In drei Wochen kann es sich entscheiden. Dann soll Fanny aber die erste sein, die es erfährt, vor ihr schäme ich mich der Heimlichkeit am meisten. Wie sie sich wohl freut, sie ist so teilnehmend. Weißt Du, bei der Geschichte mußte ich immer denken, daß Ginevra gewiß ebenso ausgesehen hat wie Fanny – es ist so das heldenhafte Genre.«

»Nein, bei all ihrer Schönheit finde ich dafür Fanny nicht ideal genug. Sie ist viel zu klug und energisch, als daß man sie sich als Type für eine Ginevra denken könnte.«

Sie sprachen noch einige Augenblicke von Fanny[214] voll Anhänglichkeit und Verehrung, wie sie immer thaten, und dann schieden sie. Joachim ging in der angenehmsten Stimmung denselben Weg zurück. Dieser führte ihn durch den Nutzgarten, im Warmhause sah er Licht. Der Gärtner war dort, der die Oefen zuschraubte und die Thüren verschloß. Joachim trat ein. Der Schein der Stalllaterne, die der Mann an den Ast eines Orangenbaumes gehängt hatte, lag ungewiß auf dem glänzenden Dunkelgrün der Lorbeeren und Orangen. Auf den Borden an der schräg aufsteigenden, von Eisenstäben durchkreuzten Glaswand stand Topf an Topf Rosen, Kamelien und der keimende Frühlingsflor der Hyazinthen und Maiblumen. Von dort her leuchteten zwei helle Rosenblüten, der Stolz des Gärtners, der seiner Herrin gestern noch die so künstlich gezeitigten Knospen gezeigt. Ohne Bedenken ging Joachim darauf zu und schnitt sie mit seinem Taschenmesser ab. Er lachte den entsetzten Gärtner aus und versicherte, daß es der Rosen würdiger sei, im Zimmer der Herrin zu welken, als hier still zu blühen.

»Ich wollte ihr morgen den Topf in den Blumentisch stellen,« klagte der Mann.

»Es sind noch fünf Knospen daran, gute Nacht!« Pfeifend ging Joachim dem Hause zu und trat in das Speisezimmer. Die Frauen waren nicht anwesend. Er legte auf ihre Servietten je eine Rose und wartete.

Fanny und Adrienne, als sie erschienen, freuten[215] sich des Blumengrußes sehr. Daß er nur durch einen Raub in Fannys Gewächshaus ermöglicht war, nahm ihm nichts von seinem Reiz. Man setzte sich heiter zusammen, Fanny befestigte die La france-Rose in ihrem Knopfloch. Die Lampe brannte auf dem Tisch, rings war die totenhafte Stille eines ländlichen Winterabends.

Das Glücksgefühl, welches Fanny den ganzen Tag darüber gehabt, daß sie unter sich seien, steigerte sich beinahe bis zum jubelnden Uebermut. Die Dienerschaft auf Mittelbach hatte noch nie ein so vergnügtes Lachen aus den Zimmern der Herrschaft gehört. Joachim spielte sich gewaltig als alleinigen Beschützer und Hausherrn auf, und das stand ihm reizend. Endlich setzte er sich an den Flügel und sang und sang, als wollte er sein ganzes Herz ausschütten: all die ungemessene Jugendlust, alle Liebesfreude, alles Ahnen tieferen Empfindens, das er in Gedanken gern von sich wies, alles strömte er in Liedern aus. Bunt ging es durch einander, Lustiges und Trauriges.

Aber die Musik ist eine eigene Zauberin. Mit Schmeichelei fängt sie die Seelen und faßt sie dann mit ihrem Pathos. Der Uebermut entschlüpfte unversehens so dem Sänger wie den Hörern, und Joachim reihte Lied an Lied von Schumann, Brahms und Jensen.

Und als er, sich selbst berauschend am Text und der Melodie, das Lied von Jensen gesungen:
[216]

»Lehn deine Wang' an meine Wang',

Dann fließen die Thränen zusammen!

Und an mein Herz drück fest dein Herz,

Dann schlagen zusammen die Flammen.


Und wenn in die große Flamme fließt,

Der Strom von unsern Thränen,

Und wenn dich mein Arm gewaltig umschließt –

Sterb' ich vor Liebessehnen!«


Da erschauerte Fanny. Die ganze Menschenohnmacht, die mit den heißesten Wünschen vergebens strebt, ein vollkommen gesättigtes Glück zu genießen oder auszudrücken, spricht sich in diesem Liede aus. Es ist der Notschrei des Titanen, der Göttlichstes empfindet und verlangt und nie ganz auskosten kann.

Als der letzte Ton verhallte, sagte sie mit bleichen Wangen:

»Heute nichts mehr!«

Joachim fühlte, daß er so gut gesungen habe wie noch nie und daß er mit seinem Gesang Fanny erschütterte. Es freute ihn sehr, daß er, der sich ihr gegenüber stets als unbedeutender junger Mensch fühlte, doch etwas könne, das ihr eine Stunde ausfülle.

Auch Adrienne war tief ergriffen und verließ das Zimmer sogleich. Die anderen sollten sie nicht weinen sehen – sie würden erraten haben, daß Adrienne von einem unbestimmten Heimweh erfaßt sei. Von Heimweh? – nach ihrer sonnenlosen grauen Stube in Kiel, oder nach dem Klang einer ruhigen, ernsten Stimme,[217] in welcher doch ein Ton mitbebte, der Joachims Sang so ähnlich war?

Fanny und Joachim blieben aber nicht mehr beisammen, während er den Flügel schloß und die Noten ordnete, sagte sie ihm gute Nacht. Aber er lief in heiterer Galanterie voraus, um ihr die Thür zu öffnen. Während sie an ihm vorbei schritt, entfiel ihr die Rose. Er nahm sie auf und deklamirte in einer unwillkürlichen Gedankenverbindung:


»Ginevra, im Vorüberwallen,

Ließ eine rote Rose fallen.«


Fanny lachte, ließ ihm die Rose und ging in ihr Zim mer. Die Erregungen des Tages bebten in ihr nach und ließen sie lange nicht schlafen.

Lanzenaus Abreise, das schöne Gedicht von Ginevra und Lanzelot, Joachims Gesang – alles kam zurück und forderte seinen Teil abschließender Betrachtung. Und zuletzt hafteten ihre Gedanken auch bei Joachims Citat, als ihr die Rose entfiel.


»Ginevra, im Vorüberwallen,

Ließ eine rote Rose fallen.«


Ja, das that Ginevra – als Zeichen, daß der Geliebte in der Nacht kommen dürfe. Wie unbedacht, wie leichtsinnig, ja wie unpassend war es von Joachim gewesen, das zu citiren. Aber natürlich, das waren in jenem Augenblick nur Worte ohne Sinn gewesen,[218] und er hatte gar nicht daran gedacht, welche Bedeutung sie im Gedicht haben. Sie lächelte in ihre Kissen hinein.

Wie reich doch jetzt die Tage waren! Neben der Arbeit und Aufsichtsführung in Haus und Feld und Scheunen blieben genug Stunden, dem frohen Beisammensein gewidmet. Was war doch früher in diesen Stunden geschehen? Fanny erinnerte sich nicht. Es schien, als habe es früher gar keine Erholungsstunden gegeben.

Das Licht flackerte auf und schreckte Fanny von den Grenzen des Halbschlummers zurück. Sie erhob sich halb und löschte es, fiel zurück und schlief ein.

Ganz gegen ihre Gewohnheit träumte sie – buntes, sinnloses Zeug. Aber endlich siegten die beiden Eindrücke, die heute am mächtigsten gewesen: Fanny träumte, sie sei Ginevra und Lanzelot säße zu ihren Füßen und sänge: »Lehn deine Wang' an meine Wang'«. Ein unendliches Glücksgefühl überwältigte sie. Das Lied aus seinem Mund, der flehende Liebesblick aus seinem Auge bezwang sie ohne Widerstreben. Sie sank in die Arme, die sich ihr entgegen öffneten und vermählte sich dem geliebten Mann. Vom Uebermaße der Wonne erschrak ihr Herz und in diesem Schrecken erwachte sie.

Lanzelot war im Traum eins mit Joachim gewesen. Sie begriff mit wachem Geiste, daß sie im Traum sich Joachim ergeben.[219]

Fanny erkannte, daß ihr Leib und Seele in Liebe zu Joachim entbrannt seien.

Sie barg ihr Angesicht im Kissen ihres Lagers und weinte. Sie fühlte, daß in dieser Stunde all ihr dunkles Glückssehnen, von dem sie einmal zum Freunde gesprochen, zielbewußt geworden. Sie fühlte, daß ihr Leben in diesem Augenblick einen neuen, einen einzigen Inhalt bekommen habe: Joachim!

Und mit freudigem Stolz gestand sie sich, daß alles, was sie zu geben habe, des besten Mannes nicht unwert sei. Alles, was ihre unermüdliche Kraft sich in den vergangenen Jahren geschaffen, das arbeitsreiche, gesunde Leben, die eigentümliche und so viel verehrte Herrscherstellung, die sie in der Gegend einnahm, die treue Anhänglichkeit ihrer nächsten Untergebenen, der Reichtum, den das Schicksal ihr in den Schoß geschüttet und den sie weise und wohlthätig zugleich verwaltet, alles, alles hatte nun dadurch erst rechten Wert und Bestimmung erhalten, daß sie es dem geliebten Mann zu Füßen legen konnte.

Ein frommes Gebet entstieg ihrer Brust. Sie dankte Gott, daß sie sich dieser Stunde reinen Herzens freuen könne, daß sie ihr Glück ohne Bangen empfangen dürfe, denn es treffe ihre Seele nicht im Uebermut, es habe sie gefunden nach langen Jahren ehrlicher Selbstbezwingung.

Und dann streckte sie sich wieder und lag ganz still. Nicht um zu schlafen – nein, um in glücklichem[220] Wachen an alles zu denken, was nun kommen könne, kommen müsse.

Auch nicht von fern streifte ihre Seele die Furcht, daß Joachim nicht ganz dasselbe fühle wie sie. Mit der Erkenntnis, daß sie ihn liebe, war wie ein Himmelswunder die zweifelsfreieste Gewißheit in ihr Herz gekommen, daß er schon lange harre, das Glück aus ihrer Hand zu empfangen. O, und es sollte ihm werden, reich und königlich, wie nur sie es ihm geben konnte.[221]

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 203-222.
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