18. Neue Lebensgefahren

[101] Im Kohlwald war eine Buche; gerad über einem mehr als thurmhohen Fels herausgewachsen, so daß ich über ihren Stamm wie über einen Steg spatzieren, und in eine gräßlich finstre Tiefe hinabgucken konnte; wo die Aeste angiengen, stuhnd sie wieder geradauf. In dieses seltsame Nest bin ich oft gestiegen, und hatte meine größte Lust daran, so in den fürchterlichen Abgrund zu schauen, und zu sehn wie ein Bächlein neben mir herunterstürzte, und sich in Staub zermalmte. Aber einst schwebte mir diese Gegend im Traum so schauderhaft vor, daß ich von da an nicht mehr hingieng. – Ein andermal befand ich mich mit meinen Geissen jenseits der Aueralp, auf der Dürrwälder-Seite gegen dem Rotenstein. Ein Junges hatte sich zwischen zween Felsen verstiegen, und ließ eine jämmerliche Melodie von sich hören. Ich kletterte nach, um ihm zu helfen. Es gieng so eng und gäh, und zick zack zwischen Klippen durch, daß ich weder obsich noch niedsich sehen konnte, und oft auf allen Vieren kriechen mußte. Endlich verstieg ich mich gänzlich. Über mir stuhnd ein unerklimmbarer Fels; unter mir schien's fast senkrecht – ich weiß selbst nicht wie weit hinab. Ich fieng an rufen und beten, so laut ich konnte. In einer kleinen Entfernung sah ich zwey Menschen durch eine Wiese marschiren. Ich gewahrt' es gar wohl, sie hörten mich; aber sie spotteten meiner, und giengen ihre Strasse. Endlich entschloß[101] ich mich, das Äusserste zu wagen, und lieber mit Eins des Todes zu seyn als noch weiter in dieser peinlichen Lage zu verharren, und doch nicht lange mehr ausharren zu können. Ich schrie zu Gott in Angst und Noth, ließ mich auf den Bauch nieder, meine Händ' ob sich verspreitet, daß ich mich an den kahlen Fels so gut als möglich anklammern könne. Aber ich war todmüd, fuhr wie ein Pfeil hinunter – zum Glück war's nicht so hoch als ich im Schrecken glaubte – und blieb wunderbar ebenrecht in einem Schlund stecken, wo ich mich wieder halten konnte. Freylich hat ich Haut und Kleider zerrissen, und blutete an Händen und Füssen. Aber wie glücklich schätzt' ich mich nicht, daß ich nur mit dem Leben und unzerbrochnen Gliedern davonkam! Mein Geißchen mag sich auch durch einen Sprung gerettet haben; einmal ich fand's schon wieder bey den übrigen. – Ein andermal, da ich an einem schönen Sommertag mit meiner Heerde herumgetrillert, überzog sich der Himmel gegen Abend mit schwarzen Wolken; es fieng gewaltig an blitzen und donnern. Ich eilte nach einer Felshöhle – diese oder eine grosse Wettertann waren in solchen Fällen immer mein Zufluchtsort – und rief dann meine Geissen zusammen. Die, weil's sonst bald Zeit war, meinten es gelte zur Heimfahrt, und sprangen über Kopf und Hals mir vor, daß ich bald keinen Schwanz mehr sah. Ich eilte ihnen nach. Es fieng entsetzlich an zu hageln, daß mir Kopf und Rücken von den Püffen sausten. Der Boden war dicht mit Steinen bedeckt; ich rannte in vollem Galopp drüber fort, fiel aber oft auf den Hintern, und fuhr grosse Stück weit[102] wie auf einem Schlitten. Endlich in einem Wald, wo's gäh' zwischen Felsen hinuntergieng, konnt' ich vollends nicht anhalten, und glitschte bis zu äusserst auf einen Rand, von dem ich, wenn mich nicht Gott und seine guten Engel behütet hätten, viele Klafter tief herabgestürzt und zermürst worden wäre. Jetzt ließ das Wetter allmählig nach; und als ich nach Haus kam, waren meine Geissen schon eine halbe Stund daheim. Etliche Tag lang fühlt' ich von dieser Parthie keinerley Ungemach; aber mit Eins fiengen meine Füß zu sieden an, als wenn man sie in einem Kessel kochte. Dann kamen die Schmerzen. Mein Vater sah' nach, und fand mitten an der einten Fußsohle ein groß Loch, und Moos und Gras darinn. Nun erinnert' ich mich erst, daß ich an einem spitzen Weißtann-Ast aufgesprungen war: Mooß und Gras war mit hineingegangen. Der Aeti grub mir's mit einem Messer heraus, und verband mir den Fuß. Nun mußt' ich freylich ein Paar Tage meinen Gaissen langsam nachhinken; dann verlor ich die Binde: Koth und Dreck füllten jetzt das Loch, und es war bald wieder besser. – Viel andre Mal, wenn's durch die Felsen gieng, liefen die Thiere ob mir weg, und rollten grosse Stein herab, die mir hart an den Ohren vorbeypfiffen. Oft stieg ich einem Wälschtraubenknöpfli, Frauenschühlin, oder andern Blümchen über Klippen nach, daß es eine halsbrechende Arbeit war. Wieder zündete ich grosse, halbverdorrte Tannen von unten an, die bisweilen acht bis zehen Tag an einander fortbrannten, bis sie fielen. Alle Morgen und Abend sah ich dann nach, wie's mit ihnen stuhnd. Einst hätte mich[103] eine maustodt schlagen können: Denn indem ich meine Geissen forttrieb, daß sie nicht getroffen würden, krachte sie hart an mir in Stücken zusammen. – So viele Gefahren drohten mir während meinem Hirtenstand mehrmal, Leibs und Lebens verlurstig zu werden, ohne daß ich's viel achtete, oder doch alles bald wieder vergaß, und leyder damals nie daran dachte, daß du allein es warst, mein unendlich guter himmlischer Vater und Erhalter! der in den Winkeln einöder Wüste die Raben nährt, und auch Sorge für mein junges Leben trug.

Quelle:
Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1–3, Band 1, Basel 1945, S. 101-104.
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