Siebenter Auftritt.

[45] Quinault. Narziß.


NARZIß tritt, ohne bemerkt zu werden, zu ihr. So nachdenklich, Semiramis?

QUINAULT auffahrend. Ah, da sind Sie schon! Nach kurzer Pause, etwas blöde. Wie haben Sie geschlafen?

NARZIß. Ich danke. Ich lag gut, aber ich schlief schlecht.[45] Ich habe viel geträumt. – Pah, nur der Glückliche schläft ruhig.

QUINAULT. Und was träumten Sie?

NARZIß. Ei nichts, Kindereien.

QUINAULT. Sie scheinen nicht recht gelaunt – fehlt Ihnen etwas? – – Fühlen Sie sich nicht wohl hier?

NARZIß. Nein, Doris, nein! – Was Sie mit mir beabsichtigen mögen, weiß ich nicht, aber ich gehe darauf ein, will alles tun, was Sie wollen, unter einer Bedingung!

QUINAULT. Und die ist?

NARZIß. Lassen Sie mich wieder meiner Wege gehen.

QUINAULT. Narziß, das ist nicht Ihr Ernst! Sie haben doch alles, was Sie wünschen können.

NARZIß. Aber ich habe Langeweile, das Furchtbarste, was ich kenne! – Das kränkt Sie? – Ja, aber ich muß es Ihnen sagen, ich halte hier nicht aus! Um bei Ihnen auszuhalten, muß man glücklich sein, oder es noch zu werden hoffen. – Hier ist ein ewiger Friede, ein seliges Genießen, eine himmlische Ruhe, und das ist's, was ich nicht leiden kann. – Überall sonst bin ich der Narr der reichen Leute, dazu gemacht, ihre langweiligen Stunden mit den Affensprüngen meines Geistes abzukürzen, aber hier, bei Ihnen, hab' ich seit gestern meine Profession verlernt. Ich war zum erstenmal seit Jahren allein, ich war bei mir selbst, ich kam – ganz zu mir. Wie abwesend. Ich träumte mich zurück in eine vergangene süße Zeit, wo die Rosen des Lebens blühten, wo mein Geist jung war und alle Gefühle emporflammten wie ein Dankopfer auf dem Altar der Menschenseele – wo ich ein Herz an meinem pochen fühlte – – Stier, wie irre. Still, still, nur ganz still! – da kommt er herangekrochen, bleich, lachend, hohläugig – der Wahnsinn; still, ohne Laut drückt er die Pantherzähne in mein wirres Hirn, leckt mit seiner feinen spitzen Zunge an meinem Herzen; – o, o, zu viel! – Es ist zu viel!


Er taumelt, wie vom Schmerz übermannt, zurück.


QUINAULT. Narziß, Sie dauern mich so recht von Herzen. – Ich bin überzeugt, daß der Keim zum Trefflichen[46] in Ihnen nicht erstorben ist. Es fehlt Ihnen nur an einem immerwährenden Ringen und Handeln, an einer guten Tat, die Sie von dem abzieht, was Sie den Wahnsinn Ihres Lebens nennen. – Sollte sich denn kein Beruf für Sie finden, der Ihnen zusagte? Würden Sie denn keine Gelegenheit ergreifen, Ihrem Vaterlande, Ihren Freunden zu dienen?

NARZIß. Vaterland? – Freunde? – Pah, hat der denn ein Vaterland, der nichts hat? – Das Vaterland ist die Schaubühne der Jugenderinnerungen. – Man hat mich wie einen Hund geprügelt, mir oft nichts zu essen gegeben und mich wie einen Mönch erzogen, damit ich auch ja ein Lump werde! – Das sind meine Jugenderinnerungen! – Und Freunde? – Hat man denn jemals freunde im Leben? Gibt's denn eine Treue bis übers Grab? Haha, geht doch!

QUINAULT. Ihr seid hart, Narziß. – Sagt, wie wollt Ihr Euch das Interesse erklären, das ich für Euch fühle?

NARZIß. Ist das Freundschaft? – Betrügt Euch doch selbst nicht! – Ihr seht in meinen Kuriositäten vielleicht etwas mehr als alle anderen, ja, Ihr habt Mitleid mit einem verlorenen Menschen, denn Ihr seid gut. Aber ich frage Euch, hat mich Diderot ganz zufällig zu Holbach gerufen, habt Ihr und die Epinay ganz zufällig gefragt, was ich auf dem Boulevard du Temple gemacht habe? – Meiner Treu, mir scheint fast, die spinöse d'Epinay hätte mir ebensogern Kost und Wohnung gegeben, wenn ihr die Vorleserin der Königin nicht zuvorgekommen wäre; – ist das auch Freundschaft?

QUINAULT lächelnd. Daß die Leute neugierig sind, Euch kennen zu lernen, ist Euch doch nichts Neues. Daß ich mich für Euch interessiere, wird Euch vielleicht weniger wundern, wenn Ihr Euch dessen erinnert, was Ihr mir an jenem Abend sagtet, als ich die Rodogune spielte. – Ernst. Die Epinay hatte aber anderen Grund für ihre Teilnahme – sie wollte Euch zum Werkzeug ihrer Pläne machen, und ich, als Anhängerin der Königin, konnte das nicht dulden. [47] Kurze Pause. Sagt, kennt Ihr die Marquise de Pompadour?

NARZIß. Nein, Kind! Ich hätte sie wohl gern einmal gesehen, aber ich bin nie dazu gekommen.

QUINAULT. Kennt Ihr aber wohl den Finanzpächter d'Etiolles?

NARZIß. d'Etiolles, d'Etiolles? – Ich kenne Buret, Bret und Grignon – lauter fette Staatspolypen – aber d'Etiolles? – Nein!

QUINAULT. Dann ist mir alles unerklärlich! – Genug, wenn ich Euch sage, daß Euer Name, Eure Person mit einer Begebenheit bei Hofe im Zusammenhang steht, die bis jetzt noch niemand enträtseln konnte. – Man interessiert sich für Euch, und mich soll es wahrhaft freuen, wenn diese seltsame Begebenheit dazu dienen sollte, Euch zu nützen.

NARZIß. Das ist verdammt drollig! – Ha, es gehen Tausende an einem königlichen Wagen vorüber, und kein Teufel frägt nach ihnen. – Na, mag's sein! – das Schicksal hat sich zu oft hündisch gegen mich erwiesen, als daß ich irgend etwas von ihm erwartete.

QUINAULT. Ihr werdet nur aber doch nun eingestehen, daß ich Euch nicht von mir lassen darf!

NARZIß. Ich aber sage dir, Mädchen, noch eine solche Nacht, wie die vergangene, und – Finster. mein Fenster geht auf die Seine!

QUINAULT. Aber, Unglücklicher, was verlangst du? – Mitleid wie eherne Pflicht gebieten mir, dich bei mir zu behalten! Begreifst du nicht, daß auch ich ein Opfer bringe, daß meine Ehre, mein Ruf durch dich auf dem Spiele steht? – Wenn ich aber einer heiligen Sache diene, schwindet jegliches Bedenken – ich bin nichts im Vergleich zu der Idee, der ich mich weihe. Mag ich zugrunde gehen, wenn sie nur siegt, mich entschädigen die Tränen, die über meinem Grabe geweint werden.

NARZIß. O ja, die Historie hat solche Leute genug, wie Sokrates, der den Schierling trank. – Pah, das half ihnen auch was Rechts, und der Idee – der Geschichte, den Menschen?[48] – Ihr spaßt! – Als ob man sich je die Lehren großer Männer – die Erfahrungen der Zeit zunutze machte! Bewunderung ist alles, was wir zuwege bringen, und Bewunderung ist eine gar billige Entschuldigung für unsere eigene Erbärmlichkeit.

QUINAULT. O, man könnte an der menschlichen Natur verzweifeln, wenn man Euch hört! – Also die Geschichte des Menschengeschlechts ist Euch nur ein Kreis, der in seinen Ursprung zurückläuft, Ihr leugnet jede Vervollkommnung zum Besseren, Höheren?

NARZIß. Lassen Sie das, Doris. – Ich leugne nichts, ich behaupte nichts. Die Geschichte ist die Entwicklung unseres Geschlechts – gut, sei es so; – aber nur ein unsterbliches Auge vermag sie als unendliche Spirale zu betrachten – für uns Lebende ist sie ein Kreis, auf dem wir wie die Milben tastend herumkriechen.

QUINAULT. Und sind die Männer nicht verehrungswürdig, die im Dienst dieser Entwicklung gestorben?

NARZIß. Das sind sie: – aber nicht alles möcht' ich nachmachen, was ich verehre. Dazu gehört Begeisterung. – Mich begeistert nichts mehr!

QUINAULT voll sittlicher Empörung. Dann bist du namenlos unglücklich, Mensch, denn du bist zugleich verächtlich! – Kurze Pause, dann bittend. Und haben Sie denn nicht den Mut, Narziß, das Etwas in Ihrem Leben, über das Sie nicht hinweg können, einer Freundesbrust mitzuteilen? – Denken Sie, ich sei – Ihre Schwester – die Sie recht, recht lieb hat – vielleicht haben Sie den Mut dazu!

NARZIß. Ich kann nicht. – Es ist eine zu winzige Geschichte, ein zu alltägliches Ding, als daß Sie darüber nicht lächeln sollten; – für mich ist es die Quelle alles Elends, ich – lache nicht darüber.

QUINAULT. Und wenn mich schon die Hilflosigkeit deines Charakters rührt, soll ich kein Herz für die Ursache desselben haben? O, entdecke dich mir, mein Freund!

NARZIß nachdem er mit sich gerungen, überwunden. Sei es[49] denn! Aber lache nicht, Weib, lache nicht; – das könnte mich rasend machen! – – – Wende dich weg –

QUINAULT tut es.

NARZIß. Ich will dich nicht sehen. – Ich werd's kurz machen, denn das Geständnis peinigt mich. – Es sind etwa zwanzig Jahre her – ich ernährte mich von Musikstunden und spielte in den Schenken der Vorstädte, denn mein Vater war tot, und mein Onkel, der große Kapellmeister, wollte nichts von mir wissen; – er kannte meine Fähigkeiten und hatte Angst, ich möcht' ihm in der Musik über den Kopf wachsen. – – Ich hatte – – eine Frau! O, wie schön sie war! Diese Augen, dieser Mund mit den Perlenzähnen, diese blendende Brust! Und was für kleine Füße sie hatte, o, es war zum Entzücken! Ach und sie sang so schön, so schön, und hatte ein Herz, wie für mich geschaffen! – Wir schworen uns Liebe bis ans Grab. – Sie hieß Jeanette. – Wer ihre Eltern waren, sagte sie mir nie. – Sie lief der Alten weg und zu mir, und ich heiratete sie. – Wir hatten freilich nicht sehr viel, aber verdienten unser ehrlich Brot. – Da, eines Tages – –

QUINAULT. Eines Tages –!

NARZIß. Ging sie von mir fort – und kam nicht wieder! – Ich war allein! – – – – Ich habe sie gesucht wie ein verstreutes Kleinod, gesucht wie das weinende Kind seine Mutter, gesucht wie ein Verdammter sein verlorenes Eden – sie kam nicht wieder! – Ich bin alt geworden und schlecht und verächtlich, und ich suche sie noch; – und wenn ich sie gefunden habe – dann will ich sterben!! Er sinkt in die Knie und verbirgt sein Gesicht in die Hände.

QUINAULT aufs tiefste erschüttert. O, das ist sehr traurig, so gewöhnlich es ist; – um so trauriger, als diese unselige Liebe das Leben, den Charakter eines Menschen vergiftete, dessen Anlagen ihn zum Edelsten seiner Zeit hätten machen können. Sie hebt sein Haupt in die Höhe. Sage mir, Armer, hast du das treulose Weib denn nicht wiedergesehen?

NARZIß schreiend. Nie!!

QUINAULT. Sie wird gestorben sein.[50]

NARZIß aufspringend. Aber ich weiß ja, daß sie lebt! – – Eines Tages begegnete ich meinem Onkel, dem Musiker. – »Narziß,« sagte er, »deine ehemalige Frau ist eine vornehme Dame. Wenn du Frankreich verlassen willst, will sie dir zehntausend Frank gebend.« – »Das mag Euch der Teufel segnen,« brüllte ich und lief davon; – ich lief ins Gehölz von Boulogne, wo's recht einsam ist, und schluchzend. da hab' ich mein bißchen Menschenwürde begraben! Er wendet sich weinend fort.

QUINAULT mit heiligem Eifer. Narziß, heilig ist mir deine Liebe, erschütternd dein Schmerz – er ist der Wahnsinn deines Lebens – unheilbar! O, du wurdest nicht nur von der Welt um dein Liebstes betrogen, sie hat dich auch aus den Fugen der Menschenwürde getrieben, du hast recht. – Heroisch. – Räche dich an dieser perfiden Welt durch eine freie Tat, zeig ihr, daß in der Brust des zertretenen, verspotteten Narziß der Funke einer Göttergröße schlummert, vor dem sie in Scham zu Boden sinken soll!!

NARZIß. Ja, ja, du hast recht, Mädchen! – Zeige mir die Tat, die ich diesem Gezücht ins Antlitz schlendern kann, dieser Rotte gezähmter Bestien! Ich will sie tun, so wahr ich dies treulose Weib noch liebe, liebe bis zur Narrheit! – Oder nein, nein, tue es nicht! Im Staube war ich unglücklich, doch nicht schlecht, ich habe mich doch noch selbst geliebt, geachtet, habe das Gefühl für die Verlorene in mir angebetet, geehrt. Wer gibt mir Bürgschaft, daß deine große Tat, die ich tun soll, nicht bei mir selbst verächtlich, in meiner Hand nicht zum eigenen Fluche werde?

QUINAULT voll Hoheit. Ich bürge dir dafür mit meiner weiblichen Ehre, mit dem, was unser Geschlecht besitzt, als Anker in allen Stürmen, mit dem heiligen Gefühl der Würde und Scham!! Pause.

NARZIß. Ein Zucken meines Herzens mahnt mich ab – ein Widerwille. – – – – Gut, es sei! Auf dich falle die Schuld, wenn die Tugend mich vernichtet!

QUINAULT glühend. Sie falle auf mich! – Es gibt Taten, die uns für ein ganzes verlorenes Leben entschädigen können,[51] die den Ärmsten aus dem Staube zur Götterhöhe heben und die den Preis des Lebens selbst wert sind.

NARZIß. Und eine solche traust du dem armen Narziß wirklich zu?!

QUINAULT. Ja, weil ich die Empfindungen dieses namenlos unglücklichen Herzens verstehe, weil Narziß für mich weiser und besser ist als die Toren des Tages, und ich den armen gebrochenen Menschen emporheben möchte aus dem Staube – daß er prange als Perle im Diadem der Menschheit!

NARZIß breitet wie verklärt die Hände nach ihr aus. O du Genius meines zerschlagenen Erdenglücks, heiliger Schatten meiner verlorenen Liebe!!

COLETTE durch die rechte Mitteltür.


Quelle:
Albert Emil Brachvogel: Narziß. Leipzig [o.J.], S. 45-52.
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