Vierter Auftritt.

[74] Narziß allein.


NARZIß kommt langsam von links. Diese grauenerregende Langeweile! – Schon zwei Tage sitze ich hier im Käfig und weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. – Wenn sie wenigstens zu Hause wäre, daß man plaudern könnte – aber so sitzt sie den ganzen Tag bei der Königin. Wahrscheinlich hecken sie die große Tat aus, die ich begehen soll. – Das, scheint mir, ist auch die alte Fabel von dem Affen und den Kastanien – ich bin nur neugierig, wie weit ich mir die Pfoten verbrennen werde. – Ich soll, sagt sie, eine große Tat, etwas Edles tun – sie will mich zu einem ordentlichen Menschen machen – hm! – Gibt's denn edle Taten, wahrhaft edle? – Es muß doch! Ich spür's an der Lust, die mich manchmal anwandelt, gut zu sein. – Er geht auf und ab. Ich weiß gar nicht, mir ist heute ganz eigen hier herum! Er faßt sich ans Herz. So weinerlich, so kläglich. – Mir ist, als sollte ich fort und müßte von so vielen Abschied nehmen. – Sollt's schon mit mir zu Ende gehn? – Nein! Ein Etwas sagt mir, ich werde sie finden, werde Jeanetten, eh' ich sterbe, noch wiedersehn – Er wirft sich in den Sessel, längere Pause. Einbildungen sind doch ein[74] prächtiges Ding, wenn man das Talent hat, zu jeder Zeit welche haben zu können. Wenn die nicht wären, ich wäre längst tot. Wie hätt' ich's nur die zwei Tage aushalten sollen; – aber nun macht sich's. – Imaginierend. Das ist meine Wohnung – ich zahle dreihundert Frank dafür. Na, meine Frau hat ja geerbt, und nun können wir uns pflegen. Er sieht nach dem Kamin hin ins Leere. O, ich sehe sie – sie macht ein Spitzenhäubchen zurecht, sie will es aufsetzen, wenn wir morgen in den Champs Élysées spazierengehn. Ich gehe mit ihr Arm in Arm zum Tor hinaus. Alles sieht uns an, die vornehmen Laffen lorgnettieren, kokettieren, aber meine Frau achtet nicht darauf. Hei, da ist Musik, komm, laß uns tanzen, Schatz! Lalala, trallala! – Er tanzt umher und sieht plötzlich den Chinesen und fährt auf. Teufel, der Pagode! – Stiert mich der Kerl mit seinem langweiligen Gesicht an, und die Illusion ist weg; – so geht's aber immer, sie hält nie Stich. – Er springt auf. Bei des Satans Klauen, ich halt' es nicht mehr aus! – – Er tut einige Schritte. Aber sie hat mir versprochen, dieser Zustand soll heute abend ein Ende nehmen, so oder so! – Ich will noch warten, denn ich hab' ihr mein Wort gegeben. Er setzt sich. Kurze Pause. Es wird recht hübsch sein, wenn sie mich begraben werden. – Sechs Kerle tragen mich hinaus im Fuhrmannsschritt. Hihi, und den Branntwein, den die Totengräber trinken werden, wenn sie mich in das Loch tun; – aber es ist doch traurig, recht traurig. Ich weiß wohl einen, der an meinem Grabe recht weinen würde, wenn er's könnte, und das bin ich selber. – Er springt auf, wischt sich die Stirn. Pah! Wir sind doch eigentlich eine abgelebte Spezies; – der Puls des Menschengeschlechts geht langsam, er sieht den Chinesen. – lauter Pagoden auf dem Nipptisch unseres Herrgotts! Er tritt zur Figur. Komm herab, Bursche, und laß dich besehen! Er hebt die Figur vom Sims, setzt sie links auf den Tisch und stellt sich vor sie hin. Du siehst dick genug aus für einen Krösus dieser Welt. – Gibt es eine Entwicklung des Menschengeschlechts? – ja? Er stößt an die Figur, sie nickt mit dem Kopfe. O ja! Natürlich, er weiß[75] es, er ist gelehrt und reich dazu; – ein Mitglied der Académie française vielleicht? – ja? – Er stößt wieder an die Figur. Richtig, dacht' ich's doch gleich! – Sagen Sie mir, Herr Professor, gibt es eine Vorsehung, ein großes Urbild unseres Selbst, das uns geschaffen, gibt es ein Land der Verheißung und des Friedens, das die vereint, die hienieden getrennt waren? Gibt es das? Er stößt an die Figur. – O ja! natürlich! – – Aber verzeihen Sie nur, der Weiseste, Frömmste kann sich der Zweifel nicht immer erwehren, besonders wenn er nichts zu essen hat. Es wäre doch möglich, es gäbe nichts von dem allen, der Weltbau wäre nur ein Konglomerat bewegter Materie und der Magnetismus die persona agens, die an den Stoff gebunden ist? Habe ich nicht recht? – Er stößt an die Figur. Hahahaha, das ist dein Wissen, das dein Charakter! Verfluchtes Geschlecht! Er wirft mit einem Faustschlage die Figur zu Boden, daß sie zerschellt. Geh in Scherben!! – – – Er wirft sich in den Sessel und stützt den Kopf in die Hand, dann richtet er sich langsam auf, schmerzlich. O, gibt es ein bejammernswerteres Geschöpf als den Menschen? – Ein Wurm mit Seraphsschwingen, der zum Drachen wird, um sich von seiner eigenen Brut zu mästen! – – – Er geht langsam ans Fenster und öffnet es, das Licht ist im Verlöschen. Ihr ewigen Lichter da droben, ihr strahlenden Augen, die mir schwermütig ins gebrochene Herz schauen, seid ihr auch bevölkert mit Kindern des Grams, wie dieser taumelnde Ball? – Ihr seid wie Brüder da droben, einig in Liebe zieht ihr harmonisch um eure Sonnenmutter, ein Volk von stillen, heiteren Gesellen, ein ewig süßes Bild, ein Ideal, ein unerreichbares! – Glühend. O Sehnsucht, Sehnsucht, du hältst das Weltall zusammen, du bist doch das beste am Leben. Ach, wer keine Sehnsucht mehr fühlt, ist wert zu sterben, zu faulen! O mein Gott, erhalte mir die Sehnsucht! – – Er versinkt in Nachdenken.

DORIS QUINAULT kommt durch die rechte Mitteltür.

COLETTE folgt ihr mit brennendem Armleuchter.


Quelle:
Albert Emil Brachvogel: Narziß. Leipzig [o.J.], S. 74-76.
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